01.01.2018 Panorama
Unfallchirurgen erinnern an Schicksale jüdischer Kollegen während des Nationalsozialismus
Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e.V. (DGU) hat an die Schicksale ihrer 36 ehemaligen jüdischen Mitglieder erinnert. Die Gedenkstunde fand am Gründungsort der DGU im Jahr 1922 an der Alma Mater Lipsiensis statt. Zuvor verlegte der Künstler und Initiator der STOLPERSTEINE Gunter Demnig 36 Stolpersteine und zwei Stolperschwellen vor dem Haupteingang des Leipziger Universitätsklinikums (UKL). „Wir wollen die Erinnerung an unsere jüdischen Kollegen wachhalten und ihrer mit diesem Mahnmal mit Dank, Hochachtung und in Demut gedenken“, sagte DGU-Präsident Professor Dr. Ingo Marzi.
Auf den zehn mal zehn Zentimeter großen, mit einer Messingplatte bedeckten Steinen ist jeweils Name, Jahrgang und Schicksal dieser Ärzte eingraviert. Sie wurden während der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 gedemütigt und entrechtet, indem man ihnen teils die Promotion, Approbation bzw. die Kassenzulassung entzog oder ihnen ein Lehrverbot erteilte. Viele von ihnen flohen ins Ausland, einige in den Tod, fünf wurden deportiert und drei sogar ermordet. „Sie hatten sich wie ihre heutigen Kollegen für diesen Beruf entschieden, um Menschen zu helfen und zu heilen. Ihr Schicksal berührt uns noch immer. In tiefer Verbundenheit stellen wir daher sehr gern diesen Ort des Gedenkens zur Verfügung“, sagte Professor Dr. Wolfgang E. Fleig, Medizinischer Vorstand des UKL. Professor Dr. Ingo Bechmann, Prodekan der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, erinnerte in seinem Grußwort an den Leipziger Privatdozenten Dr. Ernst Bettmann: Ihm wurde seine an der Leipziger Medizinischen Fakultät 1932 erworbene Habilitation für das Fach Orthopädie bereits Ende 1933 entzogen.
Nach seiner Flucht 1937 in die USA wurde er in New York ein bedeutender orthopädischer Chirurg, zu dessen Patienten u.a. der berühmte Dirigent Fritz Busch zählte.Die Daten der 36 jüdischen DGU-Mitglieder lagen der Fachgesellschaft lange nicht vor: Denn durch die Kriegswirren gingen alle vereinsrechtlichen Unterlagen der damaligen verfolgten Mitglieder verloren. Erst in den letzten zehn Jahren gelang es der DGU durch den Zugriff auf verschüttete Quellen, die bruchstückhaften und manchmal vagen Überlieferungen nach und nach gesichert aufzufinden.
Durch die Unterstützung zahlreicher Institutionen konnte die DGU die Mitgliederdaten weitestgehend wiederherstellen. Von großer Bedeutung war dabei der Abgleich der Daten mit dem Reichsarztregister durch die Kassenärztliche Vereinigung Berlin. Demnach hatte die DGU zu Beginn des Nationalsozialismus ca. 300 Mitglieder. Die Vereinstätigkeit und die Jahrestagungen der DGU wurden mit Kriegsbeginn im Jahr 1939 eingestellt und erst 1950 mit der Wiedergründung der Gesellschaft in Bochum erneut aufgenommen.
Federführend bei der Recherche zum Gedenken an die jüdischen Mitglieder war der im Herbst 2016 verstorbene und frühere Generalsekretär Professor Dr. Jürgen Probst. Sein Anliegen: Das Wachhalten der damaligen Ereignisse und das Gedenken an die Kollegen der Verfolgungsjahre. Aus dessen Rede auf der DGU-Mitgliederversammlung im Oktober 2013 zitierte heute Professor Dr. Hans Zwipp, Sprecher der DGU-Senatoren und Stolperstein-Projektleiter: „Und so wollen wir unsere früheren jüdischen Mitglieder menschlich wieder in unsere Gesellschaft aufnehmen und wieder in unser Herz einschließen.“Die 36 ehemaligen Mitglieder kamen aus allen Teilen des damaligen Deutschlands – darunter Orte wie Berlin, Hamburg, Köln und Leipzig.
Sie dienten nicht nur ihrem Vaterland und ihren Patienten, sondern engagierten sich ehrenamtlich unter anderem als Schriftführer, Schatzmeister oder 1. Vorsitzender der DGU. Sechs von ihnen waren sogar Gründungsmitglieder, als die DGU am 23.9.1922 im Auditorium 30 der Universität Leipzig unter der damaligen Bezeichnung Deutsche Gesellschaft für Unfallheilkunde, Versicherungs- und Versorgungsmedizin gegründet wurde. Anlass war die hundertjährige Tagung der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte (DGNÄ).Das Projekt STOLPERSTEINE gilt zwischenzeitlich als größtes dezentrales Mahnmal der Welt. Mittlerweile sind über 63.000 Stolpersteine, nicht nur in Deutschland, sondern in weiteren 21 europäischen Ländern verlegt. In Deutschland sind Stolpersteine inzwischen in über 1.200 verschiedenen Orten zu finden.
Zum Nachlesen
Gedenken der jüdischen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde, Versicherungs- und Versorgungsmedizin, Jürgen Probst, Orthopädie und Unfallchirurgie Mitteilungen und Nachrichten, Oktober 2013, S.606-613
Damit sie nicht vergessen werden! Eine Spurensuche zum Leben und Wirken jüdischer Ärzte in Leipzig, Andrea Lorz, Passage-Verlag, 1. Februar 2017
Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933-1945. Band II: Die Verfolgten, Rebecca Schwoch, hrsg. von Hartwig Bauer, Ernst Kraas und Hans-Ulrich Steinau im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Kaden Verlag Heidelberg 2017
Kurzbiografien der 36 ehemaligen jüdischen Mitglieder der DGU
DGU: Unfallchirurgen erinnern an Schicksale jüdischer Kollegen während des Nationalsozialismus. Passion Chirurgie. 2018 Januar, 8(01): Artikel 07_01.
Weitere Artikel zum Thema
01.02.2023 Panorama
Organspende in Deutschland: weiterhin keine Erholung in Sicht
Auch 2022, im dritten Jahr nach der großen Reform des Transplantationsgesetzes 2019, verharrten die Spenderzahlen auf niedrigem Niveau. Damit bleibt die hiesige Situation der Patientinnen und Patienten auf der Warteliste für eine Organtransplantation auch weiterhin dramatisch. Bis Ende November 2022 gab es bundesweit 796 Organspender und Organspenderinnen in den rund 1.200 Entnahmekrankenhäusern, 7 Prozent weniger als im vergleichbaren Zeitraum des Jahres 2021.
01.02.2023 Leserbriefe
Leserbrief
Betrifft: Artikel aus Passion Chirurgie 09/QIII/2022: „Mindestmengen bei der chirurgischen Behandlung von Lungenkrebs“ von Dr. med. Gunda Leschber und PD Dr. habil. Pia Menges. Sie finden den Artikel auf BDC|Online (www.bdc.de) im Bereich POLITIK, oder klicken HIER.
01.02.2023 Nachhaltigkeit
„Das profitorientierte Denken sickert immer tiefer in die Versorgung ein“
Lukas Breunig, promovierter Humanmediziner, ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied im Verein „Berliner Initiative für Wandel im Gesundheitswesen“. Der Verein steht hinter der Kampagne „Bunte Kittel“, an der Breunig aktiv mitarbeitet. Er ist Facharzt für Innere Medizin in der diabetologischen Abteilung eines Berliner Krankenhauses mit gemeinnützigem Träger. Im Interview nimmt er Stellung zu den Beweggründen der Kampagne. Dabei spielt vor allem das Gewinnstreben in deutschen Kliniken eine wichtige Rolle.
01.02.2023 BDC|News
Editorial: Chirurgische Versorgung in Kriegszeiten
Trotz aller kritischen Betrachtung der aktuellen Gesundheitssysteme ist der langfristige Fortschritt in der Chirurgie weiterhin äußerst positiv zu beurteilen. Trotz alternder Bevölkerung steigen Überlebensraten und Lebensqualität nach Unfällen und bei tumor- und kardiovaskulären Erkrankungen beständig. Moderne interdisziplinäre, multimodale Therapieansätze sind sicherlich einer der Gründe, aber auch die Fortschritte in der chirurgisch-operativen Technik sind dabei keinesfalls zu vernachlässigen. Mit schnell weiterschreitender Spezialisierung innerhalb der Chirurgie, dem breiten Einzug minimalinvasiver OP-Techniken und hochelektiv vorbereiteten chirurgischen Eingriffen, ist für nahezu jedes Krankheitsbild individualisiert ein optimales Therapiekonzept verfügbar.
Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!
Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.