01.09.2022 Orthopädie/Unfallchirurgie
Simulation in der Chirurgie – Von der analogen zur digitalen Simulationsübung beim MANV
CHIRURGIE
Simulation in der Chirurgie – Von der analogen zur digitalen Simulationsübung beim MANV
Aus dem Forschungsverbund Süd: Ein gemeinschaftliches Projekt zur Digitalisierung der Table-Top-Exercise des TDSC®-Kurses (Bundeswehrkrankenhaus Ulm/Koblenz und Universität der Bundeswehr München)
Hintergrund
Die Fort- und Weiterbildung in der Chirurgie ist nach wie vor im Kern dadurch geprägt, dass Operationen und handwerkliche Fähigkeiten in der realen Situation geschult und trainiert werden. Hier spielt das Lehrer-Schülerverhältnis eine wesentliche Rolle. Unproblematisch ist dieses bei Tätigkeiten, die regelmäßig und häufig vorkommen, wie zum Beispiel einer Sprunggelenkfraktur. Deutlich schwieriger ist diese bei seltenen Operationen, wie der Acetabulumfraktur oder der komplexen Tibiakopffraktur. Hier wird seit Jahren nach alternativen Möglichkeiten gesucht, die Grundfähigkeiten zunächst in einer Simulation oder als Hands-on-Übungen zu realisieren, wie dieses zum Beispiel AO-Kurse, Arthroskopietrainer oder Operationen an Leichenspendern umzusetzen versuchen.
Darüber hinaus gibt es allerdings noch komplexe chirurgisch geprägte Ereignisse, die extrem selten vorkommen, so dass es keine Möglichkeit gibt, diese durch reale Erfahrungen zu trainieren. Dazu gehört die Situation des Massenanfalls von Verletzten (MANV) und vor allem der TerrorMANV. Hierbei handelt es sich um eine extrem seltene und gleichzeitig hochkomplexe Situation.
Terroranschläge in Europa haben sich seit den Vorfällen in Madrid 2004, Paris 2015, Nizza 2016 zu einem relevanten Bedrohungsszenario des alltäglichen Lebens entwickelt [10].
Für Deutschland haben ähnliche Ereignisse, wie der Anschlag am Breitscheidplatz 2016 in Berlin, aber auch der Anschlag in Halle 2019 mit dem beabsichtigten bewaffneten Eindringen in die Synagoge sowie die Anschlagsserie auf türkische Einrichtungen in Waldkraiburg im April/Mai 2020, zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der Thematik geführt. Auch die aktuelle sicherheitspolitische und militärische Situation in der Ukraine hat uns sehr deutlich vor Augen geführt, dass auch wir in Deutschland im Rahmen unserer Bündnisverpflichtungen gegenüber den NATO-Staaten sehr schnell in eine Konfliktsituation geraten können, in der das Thema MANV eine Rolle spielen könnte.
Die oben genannten terroristischen Ereignisse führten schon 2016 nach eingehender Bewertung der Bedrohungslage und Gründung der AG EKTC (Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie) zu einem ersten „5-Punkte-Plan“ der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) gemeinsam mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr. Ziel war es, mit dem ersten 5-Punkte-Plan die deutsche Kliniklandschaft fachlich und organisatorisch möglichst umfassend auf Terroranschläge und daraus resultierende typischen Verletzungsmuster der meist schwerverletzten Opfer vorzubereiten [2]. Diese Vorbereitung erfolgte durch Fort- und Weiterbildungen wie den DSTC®– oder den aus diesem Anlass durch die Sektion EKTC der DGU federführend konzipierten TDSC®-Kurs.
Der TDSC®-Kurs hat sich in den darauffolgenden Jahren zu einer echten Erfolgsgeschichte entwickelt. Bis dato konnten 30 Kurse mit über 500 Teilnehmern durchgeführt werden.
Der zukünftige Ausbildungsbedarf begründet sich unter anderem durch die Aufnahme der Thematik MANV/TerrorMANV in die 2020 veröffentlichte dritte Auflage des Weißbuchs zur Schwerstverletztenversorgung der DGU.
Kern des TDSC®-Kurses ist, neben der Vermittlung von medizinischem Fachwissen, die Schulung von innerklinischen Entscheidungsträgern für solche Ausnahmensituationen zur Steigerung der persönlichen Resilienz und Etablierung des erforderlichen Mindsets.
Als eine potenzielle Möglichkeit zur Weiterentwicklung des Kursformates konnte das Thema „Digitalisierung“ identifiziert werden. Hierfür wurden im Rahmen des neu geschaffenen „Forschungsverbunds Süd“ die Zusammenarbeit zwischen dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm und der Universität der Bundeswehr in München forciert.
Konzeption
Terrorlagen sind durch besondere Merkmale charakterisiert und weisen wesentliche Unterschiede zum Massenanfall von Verletzten (MANV) und zu den im Alltag häufigen und bekannten schweren Verletzungen (z. B. Polytrauma nach Verkehrsunfall) auf.
Diese Merkmale sind:
- Komplexe und dynamische Lagen, zum Beispiel durch Second-Hit-Ereignisse und unkontrollierte Zuströme von Verwundeten und Betroffenen [1, 6]
- Grundlegende Bedeutung der Kooperation und Kommunikation zwischen Krankenhäusern und Sicherheitsbehörden in Krisenstäben und am Einsatzort [11, 14]
- Potenzielle Bedrohung durch chemische, biologische, radioaktive und nukleare Kampfstoffe (CBRN-Lagen) [12]
- Essenzielle Bedeutung des Schutzes des eigenen Krankenhauses, der kritischen Infrastruktur und eines belastbar etablierten Krankenhausalarm- und Einsatzplanes [13, 15]
- Gehäuftes Vorkommen von penetrierenden Verletzungen, insbesondere durch Schuss- und Explosionsverletzungen
[4, 5] - Hohe Inzidenz kritischer lebensbedrohlicher Hämorrhagien durch Extremitäten- und Körperhöhlenverletzungen [9].
Die Besonderheiten des TerrorMANV machen oftmals eine Modifikation der bekannten und geübten Prozesse aufgrund eines Ressourcenmangels erforderlich. Während bei der individualmedizinischen Perspektive „Der Zustand des Patienten bestimmt den initialen Versorgungsumfang“ als Grundsatz des „Damage control“ angeführt wird, gilt beim TerrorMANV: „Die Lage bestimmt das Vorgehen und Art und Umfang der Versorgung“ [7].
Der TDSC®-Kurs thematisiert diese Merkmale und Besonderheiten von Terrorlagen (TerrorMANV), insbesondere die innerklinische Sichtung in Lagen mit eskalierender Dynamik, sowie die chirurgischen Behandlungsprinzipien der Damage Control Surgery (DCS) bzw. weiterführend der Tactical Abbreviated Surgical Care (TASC) [8].
Grundlage für die strukturierte Bearbeitung der Trainingsszenarien ist der für den TDSC®-Kurs etablierte Algorithmus aus Kategorisieren, Priorisieren, Disponieren, Realisieren. Dies bedeutet, dass initial jeder Patient ressourcenunabhängig gesichtet und einer Sichtungskategorie zugeordnet wird. Danach werden die weiteren operativen Maßnahmen und die Reihung priorisiert. Für die Therapie werden die für den Behandlungserfolg essenziellen Schritte disponiert und abschließend das geplante Vorgehen realisiert.
Für die Wahrnehmung dieser Führungsposition, des sogenannten zentralen operativen Notfallkoordinators (ZONK) wird die Zielgruppe des Kurses, im Schwerpunkt Fachärzte, trainiert, um ein entsprechendes Mindset zu etablieren und die Resilienz durch Mentalisierung der Prozesse für diese Ausnahmesituation zu steigern.
Zur Verdeutlichung, Festigung und Einübung der oben genannten theoretischen und didaktischen Konzepte wurde der TDSC®-Kurs implementiert und das von allen als Spiel wahrgenommene „Entscheidungstraining“ entwickelt. Das Spiel beinhaltet initial eine Sichtungsübung, geht aber mit seiner Komplexität und Zielsetzung über herkömmliche Triage-Übungen oder andere etablierte Kursformate deutlich hinaus.
Die Spieler sind in der Spielsituation und den Szenarien gezwungen, Entscheidungen auf der Grundlage unterschiedlicher personeller Ressourcen und unterschiedlicher Verfügbarkeiten von Behandlungsräumen und Bettenkapazitäten auf einem Spielbrett zu treffen (Abb. 1) [3].
Abbildung 1: Darstellung der Table-Top Exercise als „haptisches Spielbrett“ zum innerklinischen Simulationstraining des TDSC®-Kurses (Terror, Disaster and Surgical Care-Kurs).
Das Spielbrett gliedert sich in verschiedenfarbig dargestellte Behandlungsbereiche (rot/gelb/grün), auf die die eintreffenden Patienten des Spiels je nach Sichtungskategorie und Behandlungsdringlichkeit disponiert werden.
Die eintreffenden Patienten werden im Spiel mit ihrem individuellen Verletzungsmustern und verschiedenen Attributen auf einer „Patientenkarte“ dargestellt (Abb. 2).
Abbildung 2: Gegenüberstellung einer Patientenkarte des TDSC®-Spiels (links) zu einer „virtuellen“ Patientenkarte im elektronischen Codebook (rechts). Angezeigt wird das Verletzungsmuster des Patienten (zentrale Figur), die verfügbaren Lebenspunkte (beige Leiste oben), die Disposition innerhalb der Klinik (Leiste blau/gelb links), die beabsichtige therapeutische Maßnahme (blaue Leiste rechts) sowie der Rundenzähler (Leiste unten, grüner Pfeil).
Unterschiedliche Spielsituationen ergeben sich durch die Ausgangs- und Rahmenbedingungen sowie durch die unterschiedlichen Patientengruppen und den zeitlich gestaffelten Verlauf des Aufkommens der Patienten.
Ein zentrales Element des Spieles ist das „Codebook“ in Papierform. Es führt die Teilnehmer durch die Angaben zu den Patienten und den individuellen klinischen Verläufen in Abhängigkeit von der gewählten medizinischen Versorgung (Priorisierung und Disposition) in der gegebenen und sich entwickelnden Klinikstruktur.
Ausblick
Bezüglich der Weiterentwicklung des TDSC®-Kursformates arbeiten in einer seit 2020 etablierten Kooperation unter dem Dach des neu implementierten und sogenannten „Forschungsverbundes Süd“ mehrere Institutionen zusammen:
- Arbeitsgruppe Einsatz-, Katastrophen und Taktische Chirurgie (EKTC) der DGU
- TDSC® – Board mit Fachbeirat
- Unfallchirurgische Forschungsgruppe (UFO) Bundeswehrkrankenhaus Ulm
- Universität der Bundeswehr München, Forschungsgebiet „E-Health“
- Akademie der Unfallchirurgie (AUC)
- Klinik XIV – Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Ziel ist, das vorgestellte Konzept bzw. „das Spiel“ in seiner derzeitigen Form schrittweise zu digitalisieren. Ein weiteres Ziel dabei ist es, ein „hybrides Spielerlebnis“ zu generieren, in dem das „Table-Top Exercise“ (das Entscheidungstraining) als Brettspiel haptisch sowie das elektronische Codebook kursbegleitend auf Tablets zusammengeführt werden. Eine erste Version des elektronischen Codebooks wurde in den letzten Kursen mit viel Erfolg erprobt (siehe Abb. 3).
Abbildung 3: Table-Top Übung mit elektronischen Codebook (eCode)
In einer Endversion soll dann das gesamte Table-Top Exercise digital umgesetzt werden, um zum einen das vorliegende Kursangebot ortsunabhängig und auch eigenständig als Stand-alone-Version im Sinne eines Refresher-Formats anbieten zu können. Zum anderen könnte in der digitalen Version nicht nur ein fiktives Szenario geübt werden, sondern auch eine konkrete Situation, wie zum Beispiel eine bekannte reale Klinik- oder sogar Traumanetzwerkstruktur. Gleichzeitig wäre es denkbar und zu diskutieren, ob den geschulten Kursteilnehmern eine digitale Oberfläche angeboten werden kann, die es bei einem Schadensereignis erlaubt, eine digitale standardisierte Dokumentation der im Entscheidungstraining als relevant erarbeiteten Informationen auf der aus dem Training gewohnten Oberfläche zu erfassen und später auszuwerten.
An der Grundphilosophie des TDSC®-Kurses, dass jeder Kursteilnehmer nach dem Kurs in der Lage ist, sowohl eine Terror-assoziierte Lebensbedrohliche Einsatzlage (LebEL) als auch einen konventionellen Massenanfall an Verletzten mit einem Flow-Chart und Karteikarten zu organisieren und zu managen, wird allerdings festgehalten, denn das didaktische Konzept hat sich nun über fast fünf Jahre sehr bewährt.
Fazit
Terrorlagen weisen besondere Merkmale im Vergleich zu anderen lebensbedrohlichen Einsatzlagen (LebEL) wie dem MANV oder auch schweren Verletzungen wie bei Polytraumapatienten im Rahmen zum Beispiel von Verkehrsunfällen auf. Vor allem sind sie extrem selten und sehr komplex. Daher ist es notwendig, Konzepte zur Simulation solch seltener Ereignisse zu entwickeln, um ein Trainingsumfeld als Vorbereitung auf solche Szenarien zu schaffen.
Die jüngste Entwicklung in Europa mit den bekannten Terroranschlägen unter anderem von Paris 2016, aber auch innerdeutsch mit den Anschlägen von Berlin 2016 oder Halle 2019, hat zu einer Kooperation der DGU und des Sanitätsdienstes der Bundeswehr geführt. Parallel dazu entstand unter Federführung der AG EKTC der DGU das Konzept des TDSC®-Kurses mit einem simulationsbasierten Entscheidungstraining bei TerrorMANV-Lagen. Die aktuelle sicherheitspolitische Lage in Europa hat die Bedeutung dieses Thema nun noch einmal erhöht.
Eine weiterführende Kooperation unter dem Dach des „Forschungsverbundes Süd“ zwischen dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm und der Universität der Bundeswehr München bietet nun unter fachlicher Beteiligung der Sektion EKTC der DGU die Möglichkeit einer schrittweisen Digitalisierung des Kurskonzeptes, um dieses sowohl methodisch-didaktisch als auch wissenschaftlich gemeinsam mit allen, initial Beteiligten weiterentwickeln zu können.
Zukünftige Projekte sollen die Vernetzung von Kliniken in der Bewältigung von TerrorMANV-Lagen als auch das Personal- und Ressourcenmanagement von sanitätsdienstlichen sowie zivilen medizinischen Behandlungseinrichtungen adressieren und verbessern.
Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].
Korrespondierender Autor:
Dr. med. Patrick Hoth
Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Oberer Eselsberg 40
89081 Ulm
apl. Prof. Dr. med. Marko Hofmann
Universität der Bundeswehr München
Werner-Heisenberg-Weg 39
85577 Neubiberg
Dr. med. Dan Bieler
Bundeswehr Zentralkrankenhaus Koblenz
Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Wiederherstellungs- und Handchirurgie, Verbrennungsmedizin
Rübenacher Straße 170
56072 Koblenz
Prof. Dr. med. Benedikt Friemert, OTA
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie
PD Dr. med. Axel Franke
Bundeswehr Zentralkrankenhaus Koblenz
Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Wiederherstellungs- und Handchirurgie, Verbrennungsmedizin
Dipl.-Inf. Stephan Leitner
Universität der Bundeswehr München
Martin Zedler
Universität der Bundeswehr München
Dr. habil. Mark Melnyk
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Zentrales Klinisches Management
Oberer Eselsberg 40
89081 Ulm
Markus Blätzinger
Akademie der Unfallchirurgie GmbH
Wilhelm-Hale-Straße 46b
80639 München
PD Dr. med. Gerhard Achatz
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie
AG EKTC der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie
Chirurgie
Hoth P, Hofmann M, Bieler D, Friemert B, Franke A, Leitner S, Zedler M, Melnyk M, Blätzinger M, Achatz G: Simulation in der Chirurgie – Von der analogen zur digitalen Simulationsübung beim MANV. Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 03_04.
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