Neuer Gedenkband: Verfolgung, Ermordung, Emigration
Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie e.V. (DGCH) erinnert in einem aktuell erschienenen Gedenkband an 308 jüdisch-chirurgische Mitglieder, die während der NS-Zeit Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt waren und zum Teil ermordet wurden. „Damit wollen wir uns der Verpflichtung stellen, Zeugnis abzulegen“, erklärte DGCH-Präsident Professor Dr. med. Tim Pohlemann anlässlich des 134. Chirurgenkongresses in München. Dort präsentierte Herausgeber Professor Dr. med. Hans-Ulrich Steinau zusammen mit der Medizinhistorikerin Dr. phil. Rebecca Schwoch den zweiten Band zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in den Jahren 1933-1945 mit dem Titel „Die Verfolgten“ erstmals der Öffentlichkeit.
Es begann häufig mit berufspolitischer Entwürdigung und öffentlicher Diskriminierung: Im April 1933 forderte der DGCH-Vorsitzende Professor Wilhelm Konrad Röpke alle jüdischen Redner auf dem Chirurgenkongress auf, „angesichts der heutigen nationalen Strömung (…) zurückzutreten“. Röpkes Worte markieren den Auftakt zu systematischer Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Chirurgen im Dritten Reich – auf Sanktionen und Entlassungen folgten bald Deportation und Ermordung, in vielen Fällen auch Emigration.
Die DGCH hat dieses bisher ungeschriebene Kapitel ihrer Geschichte jetzt aufarbeiten lassen. Insgesamt 308 unterschiedliche Schicksale von verfolgten Mitgliedern der DGCH hat die Hamburger Medizinhistorikerin Rebecca Schwoch recherchiert und in dem Gedenkband „Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933-1945. Die Verfolgten“ zusammengetragen. „Diesen Menschen und ihren Familien wieder einen Platz zu bieten und an sie zu erinnern, aber auch, um zum Nachdenken anzuregen, dafür steht dieses Buch“, sagt Schwoch.
Die biographischen Porträts sind, je nach vorgefundener Quellenlage, unterschiedlich umfassend. Fragmentarisch überliefertes Schicksal hinterlässt gerade aufgrund der „Leerstellen“ eine besonders erschütternde Wirkung, wie das Beispiel von Dr. med. Else Philippine Levy zeigt. Zunächst als HNO-Ärztin in Berlin-Schöneberg niedergelassen und dann von 1938 bis 1942 als „Krankenbehandlerin“ im Jüdischen Krankenhaus tätig, tauchte das DGCH-Mitglied im November 1942 unter. „Doch hat jemand ihr Versteck verraten, sie wurde ermordet“, berichtet Schwoch. Mehr ist nicht bekannt.
Während das gewaltsame Lebensende von Philippine Levy in der Rekonstruktion nur bruchstückhaft nachgezeichnet werden kann, sind die Todesumstände anderer Schicksale zumindest mit Ort und Jahreszahl verbunden. So bei Dr. med. Marga Wolf, die ab 1919 in Stuttgart niedergelassen war und eine Praxis als Allgemeinpraktikerin, Chirurgin und Geburtshelferin sowie Ärztin für Frauen- und Kinderkrankheiten führte. „Sie ist im Juni 1943 ins Ghetto Theresienstadt deportiert worden, wo sie im Januar 1944 zu Tode kam“, schreibt Schwoch.
Um der Verfolgung zu entgehen und das eigene Leben zu retten, flüchteten gut 50 Prozent der Ärzte ins Ausland – vornehmlich in die USA, nach Palästina und England. „Davon konnte in der neuen Heimat wiederum die Hälfte wieder fachärztlich arbeiten oder sogar Karriere machen“, sagt Schwoch. Doch die Biographien zeigen auch, dass die Emigration selbst erfahrenen Chirurgen entehrende Hürden bereitete, etwa in Form erneuter Assistenzjahre, Examensprüfungen, Tätigkeiten weit unter Qualifikation oder gar Arbeitslosigkeit. San. Rat. Dr. Jakob Frank beispielsweise, bis 1933 Direktor der Fürther Städtischen Krankenhauses, hielt sich in New York als Altenpfleger über Wasser und starb dort 1953 in bitterer Armut.
Der Gedenkband will jedem einzelnen der Verfolgten in einer Kurzbiographie ein Denkmal setzen, heißt es im Geleitwort von Michael Trede. Der ehemalige Präsident der DGCH, selbst als zehnjähriger Junge 1939 aus Nazi-Deutschland geflohen, fügt hinzu: „Es liegt nun an uns, vor allem aber an der jüngeren Chirurgengeneration, dieses Buch so zu lesen, dass so etwas nie wieder vorkommt.“
Rebecca Schwoch: „Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933-1945. Band II: Die Verfolgten“, hrsg. von Hartwig Bauer, Ernst Kraas und Hans-Ulrich Steinau im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Kaden Verlag Heidelberg 2017.