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Larissa Gerke

Das Personal im Gesundheitswesen wird tagtäglich mit schwerwiegenden Ereignissen und Patientenschicksalen konfrontiert. Dabei muss es nicht zwingend relevant sein, ob jemand selbst oder ein Kollege beziehungsweise eine Kollegin an der Behandlung beteiligt war. Die Belastung eines unerwünschten Ereignisses, eines unbeabsichtigten Behandlungsfehlers oder der Verletzung eines Patienten oder einer Patientin kann jeden emotional treffen und negative Folgen für die Psyche haben.

Second-Victim-Phänomen – ein alter Hut oder doch ein Dauerbrenner?

Kommt es zu einem Behandlungszwischenfall, dann stehen zunächst der Patient und die Angehörigen im Mittelpunkt (first victims). Bereits im Jahr 2000 prägte Albert Wu, Professor an der Johns Hopkins University in Washington, den Begriff Second Victim. Dieser bezieht sich auf die am Ereignis beteiligten Fachpersonen. Auch diese können durch den Vorfall von intensiven Emotionen wie Schuld, Scham oder Selbstzweifel betroffen sein und unter der daraus resultierenden hohen Belastung leiden.

Ein Blick in die deutschen Kliniken zeigt, dass es auch nach über 20 Jahren nach der Einführung des Begriffs nur selten feste Strukturen für den Umgang mit derartigen Situationen gibt. Zwar wird in der Praxis darauf hingewiesen, dass es Beratungsstellen für Betroffene oder auch interne Gesprächsangebote gibt, die Umsetzung dieser Angebote ist allerdings häufig unstrukturiert.

Eine Erklärung dafür könnte sein, dass das Phänomen laut aktuellen Ergebnissen zwar weit verbreitet, jedoch nur wenig bekannt ist. So die Erkenntnisse aus der SeViD-Studienreihe, die sich seit 2018 mit dieser Thematik in einzelnen Berufsgruppen in Deutschland befasst. Die Verbreitung des Phänomens scheint dabei wenig überraschend. Mitarbeitende im Gesundheitswesen sind ohnehin einer hohen Grundbelastung ausgesetzt – zum Beispiel durch Personalmangel, kritische Patienten, Notfallsituationen oder auch ausweglose Schicksale. Nicht selten geht es um Leben und Tod. Betroffen von schwerwiegenden Ereignissen ist dabei nicht nur junges Personal. Auch bei routiniertem, erfahrenem Personal kann eine schwerwiegende Belastung ausgelöst werden.

Die Folgen eines traumatischen Ereignisses

Die Folgen für Betroffene können vielfältig sein. Häufig kommt es zu einer dysfunktionalen Verarbeitung. Infolgedessen können sich die Betroffenen isolieren, Depressionen oder eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Die Belastung kann sich auch in Schlafstörungen äußern und dazu führen, dass die Situation immer wieder durchlebt wird. Es kann auch zu einer Substanzabhängigkeit kommen. Diese und weitere Faktoren wirken sich nicht nur auf die Gesundheit der Betroffenen aus, sondern auch auf den beruflichen Kontext. Die Angst vor zukünftigen Fehlern steigt und kann zur Unsicherheit im eigenen Handeln führen, sodass für manche nur noch die Flucht aus dem Beruf als Ausweg bleibt.

Die Folgen des Second-Victim-Phänomens können sich zudem auch negativ auf die Patientensicherheit auswirken. Behandelnde, die von der Angst geplagt sind, einen weiteren Fehler zu begehen oder auch an ihrer eigenen Fachkompetenz zweifeln, können ein defensives Verhalten entwickeln oder sie brauchen eine ständige Absicherung durch andere Teammitglieder. Zudem führt die gesundheitliche Belastung zu verminderter Leistungsfähigkeit, was wiederum die Fehleranfälligkeit erhöht. Dies kann zu Fehlentscheidungen, -handlungen oder verzögerten Behandlungen für die Patienten führen.

Letztendlich leidet aber auch die gesamte Organisation an den Folgen. Langfristige Ausfälle von Mitarbeitenden oder eine erhöhte Fluktuation können dem Betrieb schaden. Gleichzeitig können sich die Umstände negativ auf die vorherrschende Sicherheitskultur auswirken und diese schwächen.

Hilfe für Betroffene

Die Betroffenen wünschen sich häufig einen strukturierten Umgang mit derartigen Situationen. Besonders gefordert sind dabei die Führungskräfte. In deren Verantwortung liegt nicht nur die Schaffung etwaiger Strukturen, sondern auch die richtige Einschätzung der Mitarbeitenden und Situation, um entsprechende Maßnahmen anbieten und einleiten zu können. Das kann oftmals schwierig sein, da sie selbst durch das Ereignis betroffen sein können. Aber auch die Kolleginnen und Kollegen haben eine tragende Rolle und sollten im Umgang mit Second-Victims sensibilisiert werden.

In der Literatur bekannt ist das Drei-Stufen-Modell von Scott et al. (Abb. 1). Es beschreibt einen Eskalationsplan für die Unterstützung von Second Victims. In der ersten Stufe leisten die Teammitglieder Hilfe für die Betroffenen. Dazu müssen sie in der Lage sein, die Situation und die Belastung richtig einzuschätzen und dementsprechend zu handeln beispielsweise mit einem aktiven Gesprächsangebot. Schuldzuweisungen oder das altbekannte „Blame and Shame“ sollen vermieden werden, im Gegenteil dazu sollte Verständnis für die Hilfsbedürftigkeit gezeigt werden. Betroffene sollen dadurch ermutigt werden Hilfe einzufordern, ohne dass dies als Zeichen von Schwäche gedeutet wird. Darüber hinaus sollte ihnen eine kleine Auszeit angeboten werden, auch wenn das einen kurzfristigen Personalausfall bedeuten würde.

Abb. 1: Drei-Stufen-Modell zur Unterstützung von Second Victims nach Scott et al. [3]

Sollte diese Unterstützung nicht ausreichen, wird nach dem Modell von Scott et al. ein Spezialteam aktiviert. Hierbei handelt es sich um ein im Umgang geschultes Team, welches direkt und niederschwellig für Betroffene verfügbar ist. Dieses Team ist dann ebenfalls in der Lage zu erkennen, wann die Stufe drei erreicht und professionelle Hilfe benötigt wird.

Prävention

Um in derartigen Situationen richtig und direkt handeln zu können, ist es ratsam, frühzeitig ein entsprechendes Konzept zu etablieren und die Mitarbeitenden einzubeziehen. Die Ausbildung von Peers zur kollegialen Unterstützung kann dabei ein Bestandteil sein. Sie können für Betroffene kompetente Hilfe auf Augenhöhe nach dem Motto „Gleiche unter Gleichen“ bieten, weiterreichende Bedarfe erkennen und entsprechend vermitteln.

Zudem trägt eine etablierte und gelebte Sicherheitskultur zu einem offenen und systematischen Umgang mit Fehlern bei. Dies ermöglicht Mitarbeitenden einen Austausch ohne Angst vor Schuldzuweisungen, was sich auch im Fall von traumatischen Situationen positiv auswirkt.

Fazit

Auch wenn das Second-Victim-Phänomen weit verbreitet ist, ist der Umgang damit in den Kliniken weitestgehend noch nicht strukturiert worden. Noch häufig herrscht das Credo: „Das darf man halt nicht mit nach Hause nehmen!“ Die Folgen für Betroffene können aber gravierend sein und reichen von Isolation über psychische Erkrankungen bis zur Berufsaufgabe. Diese Faktoren können sich negativ auf die Patientenversorgung auswirken und stellen ein Risiko für die Patientensicherheit dar. Aus diesem Grund sollte das Ziel verfolgt werden, Betroffenen rechtzeitige und angemessene Unterstützung zu bieten, sodass diese im besten Fall an der Belastung wachsen können. Ratsam ist es, sich bereits präventiv innerhalb der Klinik mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, um strukturierte Angebote zu entwickeln und zu etablieren.

Literatur

[1]   Wu AW (2000) Medical error: the second victim. The doctor who makes the mistake needs help too. BMJ 320(7237):726–727. https://doi.org/10.1136/bmj.320.7237.726

[2]   Scott SD, Hirschinger LE, Cox KR, McCoig M, Brandt J, Hall LW (2009) The natural history of recovery for the healthcare provider “second victim” after adverse patient events. Qual Saf Health Care 18(5):325–330. https://doi.org/10.1136/qshc.2009.032870

[3]   Strametz, R., Raspe, M., Ettl, B. et al. Handlungsempfehlung: Stärkung der Resilienz von Behandelnden und Umgang mit Second Victims im Rahmen der COVID-19-Pandemie zur Sicherung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Zbl Arbeitsmed 70, 264–268 (2020). https://doi.org/10.1007/s40664-020-00405-7

[4]   https://www.psu-akut.de/

[5]   https://www.hs-rm.de/de/fachbereiche/wiesbaden-business-school/wiesbaden-institute-for-healthcare-economics-and-patient-safety-wihelp/second-victims-im-deutschsprachigen-raum-sevid#publikationen-126652

[6]   https://www.plattformpatientensicherheit.at/download/themen/covid-19/20200504-HE-Second-Victim.pdf

Larissa Gerke

Risikoberaterin

GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH

Ecclesiastraße 1-4

32758 Detmold

[email protected]

www.grb.de

Chirurgie+

Gerke L: Safety Clip: Second Victim: Wenn der Beruf zum Trauma wird. Passion Chirurgie. 2024 September; 14(09/III): Artikel 04_03.

Weitere Artikel zur Patientensicherheit finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), Rubrik Wissen | Qualität & Patientensicherheit | Safety Clip.

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