01.07.2020 Politik
Professional Distancing
EXPERTENTEAM UM PROF. MATTHIAS SCHRAPPE ERSTELLT CORONA-THESEN
Ein interprofessioneller Kreis von erfahrenen Experten des Gesundheitswesens hat sich zusammengefunden, um die ergriffenen Corona-Maßnahmen und ihre Auswirkungen zu bewerten. Dabei herausgekommen ist ein 77-seitiges Werk datiert auf den 3. Mai, schlicht mit „Thesenpapier 2.0“ überschrieben. Professional distancing mit einer Portion konstruktiver Kritik.
Der Bundesgesundheitsminister hat es kommen sehen. Während einer Regierungsbefragung am 25. April sagt Jens Spahn: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Dass die Corona-Gesetzgebung unerwünschte Nebenwirkungen verursachen würde, war anzunehmen. Für völlig überzogen halten einige Experten die Maßnahmen und konstatieren nüchtern: „Wir werden im Detail noch mehrere Besonderheiten dieser Infektionskrankheit kennenlernen, aber sie stellt keinen Anlass dafür dar, in quasi metaphysischer Überhöhung alle Regeln, alles Gemeinsame, alles Soziale in Frage zu stellen oder sogar außer Kraft zu setzen.“
Geschlossene Argumentationsketten vermeiden
Die Dynamik in dem Thema ist zwar noch lange nicht abgeklungen, aber etwas Wissen über die Erkrankung und eine tägliche Routine im Abstandhalten geben Politik und Gesellschaft eine gefühlte Sicherheit zurück. Zeit, zu Verstand zu kommen und über die Maßnahmen zu reflektieren. Das in Rede stehende Papier umfasst 23 Thesen und stammt aus der Feder von erfahrenen Gewährsleuten. Der Inhalt ist in drei Teile gegliedert: eine ausführliche epidemiologische Betrachtung, Ausführungen zu Prävention und gesellschaftspolitischen Implikationen, wozu auch die Bürgerrechte zählen. Alle Beteiligten müssten darauf hinwirken, dass es nicht zu geschlossenen Argumentationsketten komme, die anderslautenden Nachrichten keinen Raum mehr geben können, appellieren die sechs Unterzeichner – unter ihnen eine Frau.
Methodische Mängel und widersprüchliche Zahlenangaben
Die Ausführungen zur Epidemiologie zeigen vor allem Mängel in der Methodik und der Kommunikation von Zahlen durch das Robert Koch Institut (RKI) auf. Die Verwirrung und Unsicherheit hinsichtlich der Zahlenlage ist für die Experten kaum erträglich. Beispiel: Die Durchführung der Tests, die anlassbezogen laufen, lassen bei den täglich gemeldeten Fallzahlen nicht ablesen, ob es sich dabei um tatsächlich neu aufgetretene Fälle oder um den Effekt der Ausweitung der Stichprobe handelt. Ebenso sei der Bericht über Genesene irreführend, da die Zahl der Erkrankten unbekannt sei. Eine bessere Information der Öffentlichkeit wird vor allem im Hinblick auf die Sterbefälle angemahnt. Hier würde ein täglicher Prozentsatz (3,8 Prozent) genannt. Dieser bezieht sich auf die Zahl der gemeldeten Fälle, ohne dass die Grundgesamtheit bekannt wäre oder beispielsweise die Zahl der Krankenhausaufnahmen zugrunde legen würde. Fragt sich: 3,8 Prozent wovon? Prof. Schrappe setzt sich sehr detailliert mit den Zahlen des RKI (Reproduktionszahl & Co.) auseinander. Grafiken veranschaulichen die Ausführungen. Was die Frage der Obduktionen angeht, hat das RKI nach anfänglichem Abraten, diese dann doch empfohlen. Was die Wissenschaftler jedoch vermissen:
Kriterien zur Abgrenzung von zufälliger Koinzidenz und Corona-bedingter Mortalität. Ein Vorschlag dazu wird in dem Papier vorgestellt. Soweit so fachlich. Jetzt wird es politisch: „Bei dieser zentralen Frage wäre ein energisches Auftreten der verantwortlichen Stellen auf Bundes- und Landesebene wirklich wünschenswert.“
Die Kinderfrage
Pathologen besichtigen den Schaden, den Corona im Körper anrichtet. Virologen versuchen unterdessen die Frage zu klären, wieviel Ansteckung von Kindern ausgeht. Eine Fragestellung an der das Wohlergehen vieler Familien, Kinder und Jugendlicher hängt. Entsprechend groß ist die (mediale) Aufmerksamkeit. Doch die uneindeutige Datenlage führt dazu, dass Virologen in heftigsten Streit geraten, und die staunende Öffentlichkeit Zeuge einer Auseinandersetzung mit hohem Eitelkeitsfaktor wird. Für die Experten des Thesenpapiers steht hingegen schon Anfang Mai fest: „Der Stand der umfangreichen Literatur lässt hier eine relativ sichere Aussage zu: Kinder werden seltener infiziert, sie werden seltener krank, die Letalität liegt nahe bei null, und sie geben die Infektion seltener weiter, so dass der Öffnung unter entsprechender wissenschaftlicher Begleitung nichts im Wege stehen sollte.“
Prävention
Angemahnt wird für eine Präventionsstrategie ein theoretisches Grundmodell, das aus der Versorgungsforschung stammt und Throughput-Modell heißt. In diesem Modell nehmen Präventionsmaßnahmen als sogenannte komplexe Interventionen Einfluss auf das Zustandekommen von Erkrankung, Therapie und Heilung, sind aber von Umfeldbedingungen (komplexer Kontext) abhängig. Wie das funktionieren kann, wird in dem Papier näher ausgeführt. Zielgruppenspezifische Ansätze und vor allem eine angemessene Kommunikation werden als zusätzliche Erfolgsfaktoren genannt. Einen ganz pragmatischen Vorschlag machen die Experten mit dem Einsatz von regionalen Task Forces zum Beispiel bei Ansteckungsherden wie Heimen oder Sammelunterkünften.
Ziel: Ein resilientes Gesundheitssystem
Zu dem Aspekt „Lessons learned“ hat die Covid-19-Epidemie allen Nationen gezeigt, wo ihr Gesundheitswesen steht. Die Unterschiede in der Bewältigung der Problematik seien schon jetzt sichtbar, so die Autoren. „Es wird notwendig sein, gezielt über die Steigerung der Resilienz – also die Reaktions- und Widerstandsfähigkeit – des Gesundheitssystems nachzudenken.
Fazit
Politisch Verantwortliche sind gut beraten, das Papier auf Kritik und Vorschläge hin abzuklopfen. Die Autoren sind erkennbar nicht mit einer „Besserwisser“-Attitüde aufgetreten. Besonders stark ist der epidemiologische Anteil. Er trägt das Thesenpapier. In Vorbereitung auf eine zweite Welle können diese fachlichen Ausführungen hilfreich sein.
Autoren
Prof. Matthias Schrappe, Hedwig François-Kettner, Franz Knieps, Prof. Holger Pfaff, Prof. Klaus Püschel, Prof. Gerd Glaeske.
OPG – Operation Gesundheitswesen
Ausgabe 16 | 2020 vom 08. Juni 2020
Seite 3 – 5
Presseagentur Gesundheit GmbH
Albrechtstraße 11
10117 Berlin
[email protected]
OPG – Operation Gesundheitswesen: Professional Distancing. Passion Chirurgie. 2020 10(7/8): Artikel 05_01.
Weitere Artikel zum Thema
26.02.2018 Pressemitteilungen
Patientensicherheit durch bessere intersektorale Zusammenarbeit
Patientensicherheit, Hygiene, Qualitätsindikatoren und Fehlermanagement standen beim 20. Bundeskongress Chirurgie in Nürnberg im Vordergrund der Diskussionen und Fortbildungen. „Die Ansätze aus dem Koalitionsvertrag zur sektorenübergreifenden Versorgung müssen jetzt im Sinne der Patientensicherheit in die Tat umgesetzt werden“, fordert Prof. Dr. med. Dr. h.c. Hans-Joachim Meyer, Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen e.V. (BDC). „Chirurginnen und Chirurgen in Deutschland brauchen genau wie alle anderen Fachärzte vernünftige Rahmenbedingungen, v.a. bei der Honorierung, um die Sektorengrenzen zu überwinden und die Qualität der Versorgung weiter zu verbessern.“
21.02.2018 Politik
Niedergelassene Ärztin setzt Löschung auf jameda.de durch
Eine Kölner Ärztin hat sich vor dem Bundesgerichtshof (BGH) mit Ihrer Klage auf Löschung vom Ärztebewertungsportal jameda.de durchgesetzt. Die Speicherung personenbezogener Arztdaten mit Bewertungen von Patienten ist durch Internetportale laut BGH nur dann zulässig, wenn diese als "neutrale Informationsmittler" auftreten. Durch die Ausgestaltung des Werbeangebots trete diese Eigenschaft bei jameda.de allerdings soweit zurück, dass das Recht auf informelle Selbstbestimmung der Ärztin überwiege. Das Portal hat bereits Konsequenzen gezogen.
15.02.2018 Politik
Gesundheitsausgaben pro Tag überschreiten Milliardengrenze
Die Gesundheitsausgaben in Deutschland haben im Jahr 2017 erstmals die Marke von 1 Milliarde Euro pro Tag überschritten. Für 2017 prognostiziert das Statistische Bundesamt (Destatis) einen Anstieg der Gesundheitsausgaben gegenüber 2016 um 4,9 Prozent auf 374,2 Milliarden Euro.
07.02.2018 Politik
Koalitionsvertrag: Durchaus richtige Akzente gesetzt
Der Koalitionsvertrag setzt beim Thema Gesundheit an vielen Stellen durchaus richtige Akzente. Nur beispielhaft genannt seien hier die vorgesehenen Maßnahmen gegen den Ärztemangel, wie die Förderungen von Landärzten und der Ausbau der Strukturfonds.
Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!
Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.