09.11.2017 Politik
Europa versagt beim Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung
![](https://www.bdc.de/wp-content/uploads/2017/09/iStock-668617538-750x489.jpg)
Eine Befragung von über 43.000 Patienten wirft ein Schlaglicht auf schwerwiegende Defizite der europäischen Gesundheitssysteme. Ärzte der Welt ruft die europäischen Entscheidungsträger dazu auf, das Menschenrecht auf medizinische Versorgung sicherzustellen.
Die europäischen Regierungen lassen die Schwächsten der Gesellschaft im Stich, wenn es um dringend notwendige medizinische Versorgung geht. Das zeigt eine von Ärzte der Welt und Partnerorganisationen in 14 Ländern durchgeführte Studie.
Laut dem Bericht nehmen nicht nur in Deutschland die Hürden zu, die Menschen daran hindern zum Arzt zu gehen – zum Beispiel das Anfang des Jahres in Kraft getretene sogenannte Leistungsausschlussgesetz, das bestimmte Gruppen von EU-Bürger/-innen fast vollständig vom Zugang zum regulären Gesundheitssystem ausschließt. Auch in Frankreich, Großbritannien, Irland und anderen Ländern wurden Rückschritte gemacht.
Der Bericht basiert auf Daten von 43.286 Patienten, die 2016 eine der von Ärzte der Welt und seinen Partnern betriebenen medizinischen Anlaufstellen aufgesucht haben. Neben Staatsbürgern der jeweiligen Länder (12,1 Prozent) waren es vor allem Migranten aus anderen EU-Staaten (7,5 Prozent) oder von außerhalb der EU (79, 1 Prozent). Viele sind vor Krieg, Gewalt oder Verfolgung aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan geflohen. Fast ein Viertel von ihnen waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
89 Prozent der Befragten lebten unterhalb der Armutsgrenze des jeweiligen Landes. Viele wohnten in schlechten Verhältnissen oder waren obdachlos. 55,2 Prozent von ihnen waren nicht krankenversichert, zusätzliche 18,3 Prozent hatten nur Anspruch auf medizinische Notfallversorgung.
Dennoch benötigten viele der Patient/-innen dringend medizinische Hilfe. Viele litten unter akuten und chronischen Krankheiten. Über die Hälfte der schwangeren Frauen hatte bisher keine Vorsorgeuntersuchung erhalten. Kinder waren oft nicht ausreichend geimpft und zahlreiche Patienten hatten zum Teil schwere psychische Beschwerden.
In den Bericht eingeflossen sind auch Daten von Patient/-innen der Ärzte der Welt-Praxen in München und Hamburg. Darunter waren deutsche Staatsbürger mit Krankenversicherungsschulden, denen nur eine Notfallversorgung zusteht, EU-Bürger/-innen, die nach einmonatigen Überbrückungsleistungen überhaupt keinen weiteren Anspruch auf medizinische Versorgung haben, und Menschen ohne Papiere, für die ein Antrag auf Kostenerstattung die Abschiebung bedeuten würde.
“Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht und darf nicht als politisches Instrument zur Steuerung von Migration missbraucht werden”, kritisiert François De Keersmaeker, Direktor der deutschen Sektion von Ärzte der Welt. “Bestimmte Gruppen systematisch davon auszuschließen, ist nicht nur ein Risiko für die öffentliche Gesundheit, sondern verursacht in der Regel auch deutlich höhere Kosten, als von vornherein flächendeckend ausreichende medizinische Behandlung zu ermöglichen.”
Angesichts der besorgniserregenden Ergebnisse der Studie, fordert Ärzte der Welt die europäischen Regierungen nachdrücklich dazu auf, gesetzliche und andere Barrieren abzuschaffen, die den Zugang zu den staatlichen Gesundheitssystemen versperren oder erschweren.
Zum Bericht
Der European Observatory Report wurde durch das European Network to Reduce Vulnerabilities in Health, einem Zusammenschluss von Ärzte der Welt und europäischen Partnerorganisationen, in Kooperation mit dem Institut für Globale Gesundheit des University College London erstellt. Da Daten über den Gesundheitszustand von Menschen in prekären Verhältnissen schwierig zu sammeln und daher rar sind, stellt die Studie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Ungerechtigkeiten in den europäischen Gesundheitssystemen dar und soll dazu beitragen, diese zu beseitigen.
Quelle: ÄRZTE DER WELT, Geschäftsstelle München, Leopoldstr. 236, 80807 München, www.aerztederwelt.org, 08.11.2017
Weitere Artikel zum Thema
24.01.2020 EBM
EBM-Weiterentwicklung mit Wirkung zum 1. April 2020
Die EBM-Reform ist nunmehr abgeschlossen und der neue EBM tritt zum 1. April 2020 in Kraft. Insgesamt ergeben sich wenige Änderungen für die Fachgruppen Chirurgie und Orthopädie.
21.01.2020 Krankenhaus
Was erwarten Versicherte von einer guten Krankenhausversorgung?
Der vdek stellt auf seiner Neujahrs-Pressekonferenz 2020 die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage zur Krankenhausversorgung vor. Wie stellen sich gesetzlich Krankenversicherte eine gute Krankenhausversorgung vor?
17.01.2020 Krankenhaus
Organspende wird reformiert – Bundestag beschließt Zustimmungslösung
Die Bereitschaft, Organe nach dem eigenen Tod zu spenden, soll in Zukunft regelmäßiger erfragt werden. Das hat der Deutsche Bundestag am 16.01.2020 beschlossen. Künftig soll eine Erklärung zur Organspende auch in Ausweisstellen möglich sein. Außerdem sollen Hausärzte die Patienten ermuntern, eine Entscheidung zu dokumentieren.
14.01.2020 Politik
Zahl der Organspender in 2019 nahezu unverändert
Im vergangenen Jahr haben in Deutschland 932 Menschen nach ihrem Tod ein oder mehrere Organe für eine Transplantation gespendet. Damit hat sich die Zahl der Organspender annähernd auf dem Niveau von 2018 (955 Organspender) gehalten.
Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!
Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.