01.10.2014 Panorama
Appendizitis-Spektrum in Dubai: Analyse von 1.266 Appendektomien
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Nach zehnjähriger chirurgischer Tätigkeit in Dubai erscheint es mir lohnenswert, anhand unseres chirurgischen Krankengutes einen Vergleich des hiesigen Appendizitis-Spektrums mit dem Spektrum in Deutschland vorzunehmen. Die Unterschiede sind aus vielerlei Gründen beträchtlich. Analysiert werden 1.266 Appendektomien des Zeitraumes 9/2004 bis 12/2013.
Klinik und Patienten
Das Einzugsgebiet unserer Klinik ist vorrangig die Jebel Ali Freezone mit ihren über 7.000 Firmen, der Jebel Ali Hafen und die umliegenden Baustellen, Wohngebiete und Hotels. Dies drückt sich in unserer Patientenstruktur aus, die von einfachen Arbeitern dominiert wird.
Entsprechend dem ungewöhnlichen Geschlechterverhältnis in den V.A.E., bedingt durch die überwiegend männlichen ausländischen Arbeitskräfte, waren 83 % unserer 1.266 Patienten männlich und nur 17 % weiblich.
Die Altersverteilung (Tab. 1) spiegelt ebenfalls die ungewöhnliche Bevölkerungsstruktur wider, da überwiegend junge ausländische Arbeitskräfte auf Zeit rekrutiert und dann wieder ausgetauscht werden. Deshalb gehörten 77 % unserer Patienten der Altersgruppe von 21 bis 35 Jahren an. Kinder, Jugendliche und ältere Menschen waren deshalb in unserem Appendektomie-Kollektiv extrem unterrepräsentiert. Das fast vollständige Fehlen alter Patienten hat seine Ursache auch darin, dass der Anteil der einheimischen Bevölkerung in Dubai unter 10 % liegt.
Tab. 1: Altersverteilung der Appendektomie-Patienten
Alter |
Anzahl der Operationen |
5 – 10 Jahre |
9 |
11 – 15 Jahre |
23 |
16 – 20 Jahre |
43 |
21 – 25 Jahre |
295 (23%) |
26 – 30 Jahre |
350 (30%) |
31 – 35 Jahre |
300 (24%) |
36 – 40 Jahre |
85 |
41 – 45 Jahre |
85 |
46 – 50 Jahre |
17 |
51 – 55 Jahre |
15 |
56 – 60 Jahre |
5 |
61 – 65 Jahre |
2 |
66 – 70 Jahre |
0 |
71 – 75 Jahre |
2 |
Auch die Nationalitäten unseres Patientenkollektivs (Tab. 2) repräsentierten in etwa deren prozentualen Anteil in der Bevölkerung der V.A.E. (Inder 1,5 Millionen, Pakistani 800.000, Filipinos 600.000).
83 % stammten aus acht Nationen, die restlichen 17 %, entsprechend der kosmopolitischen Bevölkerungsstruktur Dubais aus weiteren 52 Nationen. Unser gesamtes chirurgisches Patientenkollektiv der letzten zehn Jahre rekrutierte sich sogar aus 102 Nationen.
Tab. 2: Nationalitäten der Appendektomie-Patienten
Indien |
490 (39 %) |
Pakistan |
155 (12 %) |
Philippinen |
140 (11 %) |
Bangladesch |
90 (7 %) |
Nepal |
61 (5 %) |
U.K. |
40 (3 %) |
Sri Lanka |
36 (3 %) |
Ägypten |
31 (3 %) |
|
83 % aus 8 Nationen |
|
17 % aus weiteren 52 Nationen |
Diagnostik
In Ergänzung der klinischen Evaluation der Appendizitis (unter Verwendung des Alvarado-Scores) und der Labordiagnostik erfolgte in Zweifelsfällen die Sonografie um eine Urolithiasis oder bei Frauen eine Adnexerkrankung auszuschließen.
Operatives Vorgehen
Sämtliche 1.266 Appendektomien erfolgten offen: Bei 1.240 Patienten durch rechtsseitigen Unterbauchwechselschnitt, bei 26 Patienten durch einen Pararektalschnitt, primär oder sekundär durch Umwandlung des Wechselschnitts zur Erweiterung des Zugangs.
Mit Ausnahme der perforierten Appendizitis erfolgte obligatorisch die Dünndarminspektion auf das Vorliegen eines Meckel’schen Divertikels.
Eine Abdominaldrainage wurde in 79 Fällen eingelegt (bei perforierter Appendizitis oder bei eitriger Peritonitis).
Unmittelbar präoperativ erfolgte die einmalige Antibiotika-Gabe. Nur bei perforierter Appendizitis oder bei eitriger Peritonitis wurde die Antibiotika-Behandlung fortgesetzt und in der Regel mit Metronidazol kombiniert.
Sämtliche Appendektomien wurden von lediglich zwei Operateuren durchgeführt, die auch ausnahmslos für die postoperative Betreuung, einschließlich der Fadenentfernung, zuständig waren. Somit waren ein absolut einheitlicher Behandlungs- und Dokumentationsstandard unseres Patientenkollektivs gewährleistet.
Intraoperative Befunde
Die Klassifizierung des Appendizitis-Stadiums erfolgte makroskopisch (Tab. 3), wobei der niedrige Anteil der katarrhalischen Appendizitis und der hohe Anteil fortgeschrittener Appendizitis-Stadien auffallen.
Die histologische Untersuchung der Appendizes wurde in weniger als 10 % der Fälle durchgeführt, da dazu die Kostenübernahmeerklärung der Versicherung erforderlich ist, die aus ökonomischen Gründen fast immer verweigert wird. Bei makroskopisch verdächtigen Befunden (Karzinoid, Mukozele) wurde die histologische Untersuchung jedoch gegenüber den Versicherungen regelmäßig durchgesetzt.
Tab. 3: Makroskopische Klassifizierung der Appendektomie-Stadien
Katarrhalisch |
59 (5 %) |
Phlegmonös |
935 (74 %) |
Gangränös |
272 (21 %) |
Gesamt |
1.266 |
Bezogen auf die Gesamtzahl der 1.266 Appendektomien handelte es sich nur bei 30 Patienten um eine chronisch-rezidivierende Appendizitis. Bei 55 Patienten (4,5 %) lag eine perforierte Appendizitis vor, bei 326 Patienten (25 %) fand sich eine retrozökale Appendizitis.
Eine Mukozele der Apppendix (Abb. 1) fand sich bei 4 Patienten, ein Karzinoid (Abb.2) bei 2 Patienten. Beide Tumoren waren im distalen Abschnitt der Appendix lokalisiert und hatten einen Durchmesser von weniger als zwei Zentimeter, die histologische Untersuchung ergab keine Infiltration der Mesoappendix, sodass keine Indikation zur Ileozökalresektion gegeben war.
Bei zwölf Patienten fand sich ein Meckel’sches Divertikel, das in allen Fällen reseziert wurde.
Abb. 1: Mukozele der Appendix
Abb. 2: Appendixkarzinoid
Eine Ausweitung des Eingriffs war in sechs Fällen erforderlich:
• Ileozökalresektion wegen Zökumnekrose;
• Resektion des terminalen Ileums wegen Crohn-Stenose;
• Rechtsseitige Hemikolektomie wegen gangränöser, retrozökaler Appendizitis mit Nekrose des Colon ascendens;
• Ileoplastik wegen Crohn-Stenose;
• Exstirpation einer eingebluteten Ovarialzyste;
• Appendizitis mit perityphlitischem Abszess in einer inkarzerierten Treitz’schen Hernie bei Colon ascendens mobile, in Kombination mit einem Dünndarmileus (Abb.3).
Abb.3: Appendizitis in Treitz’scher Hernie (Bruchpforte)
Behandlungsergebnisse
Trotz des hohen Anteils an fortgeschrittenen Appendizitis-Stadien in unserem Patientenkollektiv lag unsere Komplikationsrate im Vergleich mit der Literatur sehr niedrig.
Insgesamt waren nur drei Relaparotomien erforderlich: Zwei Eingriffe wegen eines frühen Adhäsionsileus innerhalb der ersten postoperativen Woche, ein Eingriff wegen eines retrozökalen Spätabszesses nach drei Monaten.
Die Wundinfektionsrate lag unter 2 %.
Der durchschnittliche Krankenhausaufenthalt betrug 1,8 Tage (genehmigt wird von der Mehrzahl der hiesigen Versicherungen für die Appendektomie ein stationärer Aufenthalt von nur einem Tag, der zweite Tag muss begründet werden!).
Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit betrug für Patienten mit schwerer körperlicher Arbeit zwei Wochen, ansonsten eine Woche.
Diskussion
Beim Vergleich unseres Patientenkollektivs mit den Verhältnissen in Deutschland fällt neben der völlig andersartigen Alters- und Geschlechtsstruktur der hohe Prozentsatz an fortgeschrittenen Appendizitis-Stadien auf.
Da sich unsere Patienten ganz überwiegend aus einfachen ausländischen Arbeitern zusammensetzen, spielen deren Arbeits- und Lebensbedingungen und der ethnische und kulturelle Hintergrund eine entscheidende Rolle für die Diagnose- und Therapieverschleppung. Arbeitsdruck und Arbeitsbelastung sind hoch und die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes im Erkrankungsfall (und die daraus gegebenenfalls resultierende Repatriierung) hat zur Folge, dass die Klinik häufig erst zu einem späten Zeitpunkt aufgesucht wird. Auch die im Vergleich zu Deutschland höhere Schmerztoleranz vieler unserer Patienten, deren Unwissenheit und Hilflosigkeit sowie deren Schwierigkeit sich zu artikulieren und die Plausibilität der Operationsnotwendigkeit zu verstehen, trägt zur Behandlungsverzögerung bei. Nicht-Versicherte, die es trotz jetzt eingeführter obligatorischer Versicherungspflicht immer noch gibt und bei denen der Arbeitgeber nicht für die Kosten aufkommen will, versuchen auch bei bestehender akuter Appendizitis in ihr Heimatland zurückzukehren, da sie sich die Operation hier nicht leisten können. Hier stehen wir oft vor medizinisch und ethisch schwierigen Situationen.
Die Tatsache, dass wir unter diesen erschwerten Voraussetzungen dennoch sehr gute Behandlungsergebnisse erzielt haben, spricht für unseren hohen Behandlungsstandard in erfahrenen Händen.
Dass wir sämtliche 1.266 Appendektomien offen durchgeführt haben liegt zum einen daran, dass sich dieses Vorgehen unter den gegebenen Voraussetzungen in unseren Händen als sicher, effektiv und organisatorisch optimal erwiesen hat. Zum anderen weil unsere operative Strategie in Bezug auf postoperative Schmerzen, kosmetisches Ergebnis, Dauer der Liegezeit und der Arbeitsunfähigkeit hervorragende Ergebnisse liefert, die bei laparoskopischem Vorgehen nicht besser sein könnten. Die laparoskopische Appendektomie war für uns deshalb keine Option, zumal sie für die Notfallchirurgie ein erfahrenes Laparoskopie-Team rund um die Uhr erfordert und zeit- und kostenintensiver ist.
Zugegebenermaßen hatten wir auf Grund unseres spezifischen Patientenkollektivs keinerlei Akzeptanzprobleme hinsichtlich des offenen Vorgehens. Stellte sich jedoch einmal die Frage der Laparoskopie, so waren unsere Patienten ausnahmslos von unserem bewährten Vorgehen zu überzeugen.
Elektiveingriffe, wie die Cholezystektomie, führen wir selbstverständlich laparoskopisch durch, da hier die Vorteile durch den minimal-invasiven Zugang – anders als bei der Appendektomie – für den Patienten stringent sind.
Fazit
• Das Appendizitis-Spektrum in Dubai weist im Vergleich zu Deutschland einen deutlich höheren Anteil an fortgeschrittenen Erkrankungsstadien auf.
• Unsere Patienten rekrutierten sich aus insgesamt 60 Nationen, wobei der ganz überwiegende Anteil vom indischen Subkontinent stammte.
• Die in einem hohen Prozentsatz von uns festgestellte Diagnose- und Therapieverzögerung war vorrangig den Lebens- und Arbeitsbedingungen unserer Patienten, deren ethnischem und sozialem Hintergrund und deren häufig größerer Schmerztoleranz geschuldet.
• Die guten Ergebnisse unserer ausschließlich offen durchgeführten Appendektomien betrachten wir als das Resultat unserer absolut standardisierten Operationstaktik und -technik in den Händen von nur zwei Operateuren.
• Die laparoskopische Appendektomie stellte deshalb für uns keine Option zur Ergebnisverbesserung dar.
Literatur
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Kieninger, G. et al: Gangränöse Appendizitis? Chirurg 2014
Krähenbühl, L. et al: Zur Problematik von Studien offener versus laparoskopischer Appendektomie. Chirurg 1997: 30-32
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Lopez, J. P. et al: Appendiceal mucocele: Benign or malignant? Surgical Rounds 2007
Martin, L.C. et al: Review of internal hernias: Radiographic and clinical findings. Am. J. Roentgenol. 2006: 703-717
Meckel, J.F.: Über die Divertikel am Darmrohr. Arch. Physiol. 1809: 421-453
Ohle, R. et al: The Alvarado score for predicting acute appendicitis: a systemic review. BMC Medicine 2011
Reißfelder, G. et al: Offene Appendektomie. Chirurg 2009: 602-607
Treitz, W.: Hernia retroperitonealis: ein Beitrag zur Geschichte innerer Hernien. Credner Verlag, Prag 1857
Autoren des Artikels
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Christopher Kieninger
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Prof. Dr. Günther Kieninger
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Ahmad Hassan Ahmad
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