01.02.2022 Panorama
50 Jahre humanitäre Einsätze – Erfahrungen eines plastischen Chirurgen in Entwicklungsländern
War es die Prägung durch das humanistische Gymnasium Philippinum in Marburg, die Geschichte der Elisabeth von Thüringen oder der Einfluss des Vaters Gerhard Exner, der als Ordinarius für Orthopädie das Konrad-Biesalski-Haus als erstes Studentenheim für Behinderte begründete? Es schien mir selbstverständlich, als angehender Medizinstudent körperlich behinderten Mitmenschen zu helfen, Studenten früh morgens im Rollstuhl über Hinterhöfe und Treppen in die alten Marburger Hörsäle zu bringen.
1972 brachte mich ein Stipendium für ein Jahr als Gast verschiedener Projekte medizinischer Entwicklungshilfe nach Bolivien. Die Begegnung mit Indios, die dort am Rande einer reichen weißen Minderheit ohne ärztliche Versorgung leben, hat mein ärztliches Denken und Handeln bis heute begleitet. Die Weiterbildung in der Handchirurgie und Mikrochirurgie bei Buck-Gramcko und die Förderung durch Karl Hempel in der Chirurgie waren Wegbereiter in Hamburg.
1980 konnte ich bei Gottfried Lemperle in Frankfurt als Assistent in die Plastische Chirurgie eintreten. Genau zu diesem Zeitpunkt gründete er INTERPLAST-Germany mit dem Ziel, „.. durch.die plastisch-chirurgische Hilfe, Menschen in Entwicklungsländern mit angeborenen und erworbenen Defekten und Fehlbildungen durch chirurgische Eingriffe sowie begleitende Maßnahmen zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität zu verhelfen…“ (Auszug aus der Satzung des gemeinnützigen Vereins).
Es war ein glücklicher Zufall, der uns bis heute gemeinsam an diesem Ziel arbeiten lässt. In den ersten Jahren wurden wir bei unseren Missionen im Ausland mit neuen organisatorischen Aufgaben, aber auch mit für uns bis dahin unbekannten Krankheitsbildern konfrontiert. Noma, Buruli-Ulkus, Lepra, Menschenbißverletzungen, Kriegsverletzungen und extreme kongenitale Fehlbildungen erforderten neue Behandlungskonzepte und Erfahrungen in der Patientenführung.
Man musste einschätzen, welche Operationen bei den oft nur zehn- bis 14-tägigen Einsätzen ohne Risiko für die Patientensicherheit möglich sind. Bei meinen ersten Einsätzen als plastischer Chirurg in Indien und Ghana stellte sich schnell heraus, wie wichtig ein exzellentes interdisziplinäres Team mit Anästhesisten und Fachpflegekräften ist. Auch das regional sehr unterschiedliche Umfeld erforderte diplomatisches Fingerspitzengefühl, um die Gastgeber nicht zu überlasten. Diese sind für die Patientenauswahl, Organisation vor Ort und vor allem für die Nachbehandlung verantwortlich. Die Teamleiter sind bemüht, viele einheimische Ärzte, Schwestern, Pfleger oder Sozialarbeiter in ihre Teams zu integrieren, damit sie die OP-Techniken kennenlernen und kontinuierliche und erfolgreiche Behandlungen sicherstellen.
Für besonders schwierige Operationen haben wir Patienten in den ersten Jahren nach Deutschland gebracht. Mit Blick auf die Kosten muss das heute aber auf Einzelfälle beschränkt bleiben.
Abb. 1: Tansania 2005
Abb. 2: Myanmar 2004
Abb. 3: Visite in Myanmar
Abb. 4: LKG-Kind in Myanmar
Abb. 5: Das Team in Lviv-Ukraine: 15 Einsätze seit 2012
Abb. 6: Einsatz in Myanmar 2013
Abb. 7: Kleiner Patient in Kambodscha: 1 Jahr alt
Abb. 8: OP-Team Bago-Myanmar 2017
Abb. 9:Volunteers in Bago-Myanmar 2017
Abb. 10: Team Paraguay 2018
Abb. 11: Ukraine November 2021
Die Auswahl der Einsatzorte beruhte anfangs eher auf zufälligen Begegnungen, vor allem mit kirchlichen Institutionen oder einzelnen Aktivisten. So wurden INTERPLAST-Teams nach Indien, Ghana, Ecuador oder auf die Philippinen eingeladen. Begegnungen mit Mutter Theresa, oder dem Dalai Lama gaben der humanitären Mission von INTERPLAST starke Impulse. Die Idee fand nicht nur in Deutschland Interesse, es bildeten sich ähnliche Organisationen in der Türkei, Australien, Frankreich, Italien und fast allen anderen europäischen Ländern. Mit zunehmender Bekanntheit ist ein internationales Netzwerk entstanden, so dass INTERPLAST-Germany nach 40 Jahren auf ca. 1.600 Einsätze mit 105.000 operierten Patienten zurückblicken kann.
Die Ärzte und das Pflegepersonal opfern regelmäßig ihre Urlaubstage, um an den humanitären Missionen teilzunehmen. Die Teams bestehen in der Regel aus zwei bis drei Chirurgen, ein bis zwei Anästhesisten und Pflegekräften. Jedes Team organisiert seine Einsätze eigenständig, beschafft Spenden und sorgt durch Vorträge und andere Aktionen für weitere Einnahmen und Publizität. Bis auf eine Sekretärin arbeiten alle ehrenamtlich, sodass die Spenden zu über 95 Prozent für die OP-Einsätze zur Verfügung stehen.
Oft sind interessierte Studenten involviert. Die meisten Studenten und Assistenten, die mich bei den Einsätzen begleitet haben, haben weitere humanitäre Aufgaben übernommen oder sind selbst heute als Teamleiter tätig. Die medizinischen, kulturellen und menschlichen Erfahrungen aus unseren Einsätzen sind unschätzbare Bereicherungen für alle Beteiligten.
Meine ersten Einsätze führten mich nach Indien, Ghana und Paraguay. In diesen Ländern ist die Plastische Chirurgie inzwischen weit entwickelt. Einheimische Ärzte konnten bei unseren Missionen mitwirken oder als Stipendiaten den deutschen Facharzt erwerben. Sie haben in ihren Ländern auch humanitäre Aufgaben übernommen und organisieren eigene OP-Einsätze. Eine besondere Freude sind dann gemeinsame Missionen mit unseren ehemaligen Stipendiaten.
Es gibt leider auch Länder, in denen kontinuierlich Hilfe geleistet wird, ohne dass sich die Versorgung mit Plastischer Chirurgie geändert hätte. Zu groß ist die Aussicht auf schnellen Reichtum mit kosmetischen Operationen, Lasern, Botox und Fillern, zu gering das Verständnis für soziale Gerechtigkeit.
Bei mehreren Missionen nach Tansania und Togo habe ich zwar vielen kleinen und großen Patienten mit Plastischer Chirurgie geholfen, das Interesse der einheimischen Ärzte für diese humanitäre Arbeit konnte ich leider kaum wecken. In Vietnam und den Philippinen sind die einheimischen Kollegen mit Plastisch-chirurgischen Techniken dagegen sehr versiert, so dass sich das Interesse mehr auf den wissenschaftlichen Austausch fokussiert. Gleiche Erfahrungen habe ich bei bisher 15 Einsätzen in der Ukraine gemacht, wo man aber sehr dankbar für jegliche Unterstützung beim Aufbau von Plastisch-chirurgischen Abteilungen nach deutschem Vorbild ist. Die öffentlichen Krankenhäuser sind sehr ärmlich ausgestattet und auf externe Hilfe angewiesen. Das mediale und wissenschaftliche Interesse an unseren Einsätzen, Vorlesungen und praktischen OP-Kursen ist so groß, dass ich gute Entwicklungschancen für die Plastische Chirurgie in der Ukraine sehe. Es war wichtig, auch in politisch und militärisch unruhigen Zeiten den Kontakt aufrecht zu halten und trotz Corona die bedürftigen Kinder zu operieren.
Der Militärputsch in Myanmar im Februar 2021 hat einer 25-jährigen Aufbauarbeit durch INTERPLAST – Teams und ähnliche humanitäre Organisationen ein jähes Ende gesetzt. Die Münchener Sektion hatte unter besonderem Einsatz meines Kollegen Schöneich seit 1997 kontinuierlich OP-Einsätze durchgeführt, Krankenhäuser mit modernen OP-Sälen eingerichtet und mobile Schiffshospitäler im Irrawadidelta installiert. Die INTERPLAST-Teams haben mit burmesischen Kollegen bestens kooperiert und komplexe Operationen bei Gesichtsspalten und Meningomyelozelen erfolgreich durchgeführt. Ich war 18-mal mit verschiedenen humanitären Organisationen in diesem Land, das durch buddhistische Lebensweise zutiefst geprägt ist. Mein letzter Einsatz dort im Februar 2020 war schon durch die Covid19-Pandemie stark eingeschränkt. Wir können nur hoffen, dass die Militärregierung irgendwann wieder die Grenzen für humanitäre Hilfe öffnet. Die Patienten, vorwiegend Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind dort weiterhin auf unsere Hilfe angewiesen.
Die Pandemie hat in den vergangenen Jahren unzähligen Menschen die Chance auf unsere Hilfe genommen. Im Jahr 2021 konnten nur wenige Einsätze stattfinden. Die INTERPLAST-Teams stehen jedoch bereit und werden ihre Arbeit fortsetzen. Der Gründer G. Lemperle gehört nach wie vor zu den besonders aktiven Ärzten. Er baut gerade ein Krankenhaus in Goma/Kongo mit Spendenmitteln auf, das noch 2022 für die unter den blutigen Unruhen leidenden Menschen öffnen soll.
Zurückblickend kann ich nach über 55 Auslandseinsätzen feststellen, dass man auch mit kleinen OP-Teams bei kurzfristigen Einsätzen sehr vielen kranken Menschen individuelle Hilfe und bessere Lebensqualität bieten kann. Die politischen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten der Gastländer muss man berücksichtigen. Veränderungen in diesem Umfeld sind nicht die Aufgabe unserer chirurgischen Missionen. Die eigenen Erfahrungen unter manchmal extremen Bedingungen, die Kooperation mit unendlich vielen Mitstreitern und die kontinuierliche Verbesserung unserer chirurgischen Behandlungen haben alle Mühen gerechtfertigt.
Die Dankbarkeit der Patienten und ihrer Angehörigen, die Freundschaften mit den Gastgebern und die Unterstützung durch unsere Sponsoren sind ebenso wie die gemeinsam erreichten Behandlungserfolge ein unschätzbarer Lohn für alle Teammitglieder. Meinerseits geht der Dank an alle, die diese Missionen ermöglicht und begleitet haben. Ganz besonders gilt er dem Begründer von INTERPLAST-Germany, Gottfried Lemperle, der gerade seinen 85.Geburtstag feiern konnte.
Menschen (wieder) mehr Lebensqualität geben „Eines jeden Engagement ist gefordert – und jeder am besten in seinem Metier.“ So fasst der Plastische Chirurg Dr. André Borsche aus Bad Kreuznach die Motivation von INTERPLAST-Germany e.V. zusammen. Getragen von diesem Leitmotiv helfen Mediziner jährlich vielen Patienten mit angeborenen oder erworbenen Defekten durch plastisch-chirurgische Operationen in Entwicklungsländern. Humanitäre Chirurgie bedeutet Hilfe für Menschen mit schweren Entstellungen nach Unfällen, Verbrennung oder Krieg, Kinder mit angeborenen Fehlbildungen im Gesicht und an den Händen sowie Patienten mit großen Hauttumoren oder nicht heilenden Wunden. Hier sind wir von INTERPLAST gefordert unser Bestes zu geben. Die Mitglieder der Operationsteams sind Spezialisten, die gezielt dort eingesetzt werden, wo hoch entwickelte Hilfe noch nicht vorhanden ist. Sie engagieren sich unentgeltlich, in der Regel während ihrer Urlaubszeit. In vielen Einsätzen rund um die Welt haben sie unzähligen schwer entstellten Kindern durch eine plastische Operation geholfen. Durch die Hilfe vor Ort werden bei den einheimischen Ärzten Kenntnisse vermittelt, so dass sie manche Probleme künftig selbst lösen können. Wenn Sie Interesse daran haben, zu helfen, über Spenden oder Ihren Einsatz, klicken Sie HIER für mehr Informationen. |
PD Dr. med. Dr. h.c. Klaus E. Exner
Königstein
Panorama
Exner KE: 50 Jahre humanitäre Einsätze – Erfahrungen eines plastischen Chirurgen in Entwicklungsländern. Passion Chirurgie. 2022 Januar/Februar; 12(01/02): Artikel 09.
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