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Das Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen: die demografische Entwicklung, die Zunahme chronischer Erkrankungen (4 D: Dick, Degenerativ, Diabetisch, Dement), die verbesserten Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten bei organspezifischen Verletzungen und Erkrankungen sowie im Bereich der Onkologie (3 O), die damit einhergehende zunehmende Diskrepanz zwischen Kostenentwicklung und Einnahmen sowie die an der Versorgungsrealität vorbeigehende Bedarfsplanung der medizinischen Betreuung der Bevölkerung. (Abb. 1).

OEBPS/images/07_01_A_10_2016_Dittrich_image_01.pngAbb.1: Herausforderungen des Gesundheitswesens

Zunehmende Ökonomisierung, schwindender ärztlicher Einfluss, steigende Informationsmöglichkeiten der Gesellschaft, aber auch die Erkenntnis, dass nicht alles Machbare sinnvoll und finanzierbar ist, führen zu einem Wandel von der Standardversorgung zur Individualversorgung der Patienten. Somit ist eine Umwandlung des Gesundheitswesens in einen Gesundheitsmarkt zu verzeichnen. Krankheit wird zum versicherungsrechtlichen Schaden degradiert, der mit medizinischen Mitteln zu beheben ist. Das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis, welches einen freiberuflichen Arzt und einen mündigen Patienten zur Basis hat, wird destruiert und als Wurzel jeglicher Heilungsoption infrage gestellt.

Eine offene gesellschaftliche Diskussion über Leistungsinhalte und Finanzierung einer solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung findet nicht statt. Die resultierenden Probleme im Gesundheitswesen werden in der Realität nicht gelöst, sondern zunehmend verwaltet, bürokratisiert, ökonomisiert und letztendlich kriminalisiert. Dabei gibt es Lösungsansätze, wie z. B. die Integrierte oder wie man jetzt sagt: die Sektorenverbindende Versorgung (IV). Diese populationsorientierte Versorgungsform wird von Vertretern der Kostenträger, Ärzte, Leistungserbringer, von Gesundheitsökonomen und -Politikern auf diversen Kongressen und Symposien seit über zehn Jahren gewünscht, gefordert und für gut befunden.

Theoretisch bietet diese Versorgung auf Basis von Kostenkalkulation und definierter Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität die Möglichkeit, Behandlungsabläufe zu definieren, zu evaluieren und medizinisch fachlich sowie ökonomisch zu optimieren. Zur Förderung hatte der Gesetzgeber im Jahr 2004 eine zeitlich begrenzte Anschubfinanzierung implementiert. Leider wurde diese potenzielle Chance von der überwiegenden Zahl der Kostenträger und den Leistungserbringern nicht in ihrer Komplexität erfasst und umgesetzt, ja sogar zum Teil völlig konterkariert. So ist es bis jetzt zu keinem nennenswerten Durchbruch dieser Versorgungsform gekommen.

Auf die Hintergründe soll kurz eingegangen werden: Motivation für Krankenkassen, integrative Versorgung zu finanzieren, waren und sind vor allem Marketingaspekte, der Ausgleich von akuten Versorgungsdefiziten, die mit Patientenbeschwerden einhergehen, Datenerfassung von Leistungsträgern und die Möglichkeit, den Risikostrukturausgleich zu nutzen. Für die Leistungserbringer stehen finanzieller Benefit bzw. Unabhängigkeit vom KV-System, vereinfachte Behandlungswege (z. B. direkter Facharztzugang) und Beteiligung an der ambulanten Versorgung im Vordergrund. Die Verträge sind vordergründig über persönliche Kontakte und Engagements sowie über Leistungserbringer-Identifikationen zustande gekommen. Tatsächliche sektorenübergreifende – besser sektorenverbindende fachübergreifende integrierte Versorgung – mit Beteiligung von Vertragsärzten, Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen, Physiotherapeuten und Pflegediensten fand und findet nur selten statt. Nach Ende der Anschubfinanzierung und Überprüfung der IV-Verträge wurden in den Jahren 2007 und 2008 dann auch viele, insbesondere Krankenhaus-assoziierte Verträge gekündigt. Derzeit ist eine, wenn auch abgeschwächte, Dynamik der Zahl der Selektivverträge nur im vertragsärztlichen Bereich zu verzeichnen. Die integrierte Versorgung im Rahmen von Selektivverträgen ist überwiegend zu einem Notnagel für Versorgungsengpässe bzw. Marketingobjekt von Kostenträgern verkommen. Obwohl die bekannten, seit Jahren immer wieder plakatierten Leuchttürme (z. B. Kinzig-Tal), aber auch konkrete praktische eigene Erfahrungen, die Sinnhaftigkeit integrierter sektorenverbindender Konzepte zur Verbesserung der Versorgungsqualität der Patienten unter dem Aspekt der Qualitätssicherung und Kostenoptimierung unterstreichen.

Folgende vier Ursachen, welche alle miteinander in Verbindung stehen und sich gegenseitig beeinflussen, sollen exemplarisch begründen, warum die Integrierte bzw. Sektorenverbindende Versorgung bisher nicht funktioniert:

1. Sektorale Organisation des Gesundheitswesens

Die Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung fällt in die Zuständigkeit der Bundesländer. Die Länder haben für die ambulante Versorgung diesen Auftrag an die Kassenärztlichen Vereinigungen übertragen. Das hat zu einer nahezu verstaatlichten, stringenten Sektorierung geführt. Unter dem Dogma der Beitragsstabilität für die gesetzlichen Krankenkassen erfolgten Budgetierungen im Rahmen von Kollektivverträgen, Vorgaben von Leistungskatalogen, Qualitätssicherungsmaßnahmen, Defacto-Budgetierungen von Honorar-, Arznei- und Heilmittelausgaben, Eingriffe in die Honorarverteilung (Hausarzt/Facharzt) – flankiert von überbordender Bürokratie, existenzbedrohenden Kontrollen und Regressen und einer kaum noch nachvollziehbaren Straf- und Sozialgerichtsbarkeit. Die stationäre Behandlung verblieb unter der Länderhoheit, war anfangs traditionell kommunal bzw. klerikal geprägt und weist jetzt bei klammen kommunalen/staatlichen Kassen die Tendenz der Dominanz rein privater Trägerschaft auf. Dies hat zur Folge, dass Gelder der Solidargemeinschaft (Krankenkassen) als Gewinn dem System entzogen werden. Eine ambulante Patientenversorgung war, bis auf die Notfallversorgung, bis Mitte der 1990er-Jahre für Kliniken nahezu tabu.

Die stringente Sektorierung in einen ambulanten und stationären Bereich hat in ihren Auswirkungen und vor dem Hintergrund der unten genannten differenten Honorierungssysteme zu einer intern-strukturellen Sektorierung bei Kostenträgern, Industrie und Handel sowie Politik- und Verwaltungsstrukturen geführt.

2. Finanzierungssystem im Gesundheitswesen

Es gibt drei vordergründige Finanzie­rungssysteme:

a) Einzelleistungsvergütung: Pharmaindustrie, Medizintechnik, Apotheken, Privat-/BG-Ärzte, Physiotherapeuten u. ä. erhalten überwiegend eine Einzelleistungsvergütung, d. h. das Produkt, die erbrachte/verordnete Leistung wird vergütet. Dies hat den Anreiz der Bedarfsdeklaration, der Leistungserweiterung, positiver und negativer Preisgestaltung (Monopol, Rabatte). Die Kostenträger schultern das Morbiditätsrisiko und das Risiko der allgemeinen und fallbezogenen Leistungserweiterung.

b) Fallpauschale: Für jeden Behandlungsfall wird eine Pauschale bezahlt – das ist das klassische DRG-System der Krankenhäuser und Fallpauschalen der Reha-Kliniken. Diese Honorierung hat den Anreiz zur Fallvermehrung, Case mix adaptierten Optimierung, betriebswirtschaftlich vorgegebener Verweildauer und Leistungsverlagerung in andere Bereiche (Ambulanter Sektor, Rehabilitation). Es besteht der Anreiz der Morbiditätsdeklaration, welche Prozedur und nicht unbedingt gesichert Krankheit bezogen ist. Das Morbiditätsrisiko trägt der Kostenträger. Das Risiko der fallbezogenen Leistungserweiterung trägt der Leistungserbringer, das Risiko der Fallzahlsteigerung wird in der Praxis durch Begrenzungsregelungen eingefangen.

Abb. 2: Finanzierungssystem im Gesundheitswesen

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c) Kopfpauschalen (Capitation): Für jeden Versicherten im System wird eine Gesamtpauschale bezahlt – die klassische Honorierung im KV-System. Dies führt zum Anreiz der Leistungsverweigerung und birgt das Risiko der Durchschnitts- und Unterversorgung. Morbiditätsbedingte Honorierungssteigerungen haben den Anreiz der Morbiditätsdeklaration, welche im Rahmen der Leistungsabrechnung als „Gesichert“, „Verdacht“ oder „Ausschluss“ zu kodieren ist. Das Morbiditätsrisiko und das Risiko jeglicher Leistungserweiterung – auch im Rahmen von Verlagerungseffekten – trägt der Leistungserbringer.

Alle drei Honorierungssysteme haben den Anreiz der Bedarfs- bzw. Morbiditätsdeklaration, jedoch keinerlei Ansatz der erfolgreichen Morbiditätsbeseitigung. Die ambulanten und stationären Kodierungsmodalitäten sind ebenfalls different entsprechend der Honorierungsmodalitäten ausgelegt, was durch eine unkritische Vermengung möglicherweise auch eine Ursache des statistischen Morbiditätszuwachses in Deutschland bedeutet.

Die völlig differenten drei Honorierungssysteme sind zum anderen eine weitere Ursache dafür, dass die Differenzierung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen und damit die Entsolidarisierung voranschreiten.

Die GKV-Kostenträger haben keine Budget-Verantwortung für den gesamten Behandlungspfad (z. B. Rehabilitations- und Rentenleistungen erfolgen über die Rentenversicherungsträger) und wurden in den Topf „Gesundheitsfond“ gesteckt. Somit besteht für sie der Anreiz der Kostenverlagerung, der Leistungsverlagerung und im Rahmen des Risikostrukturausgleiches ebenfalls der Anreiz zur Morbiditätsdeklaration, jedoch nicht immer der Anreiz zur Honorierung einer effizienten Behandlung. Sogenannte Qualitätsindikatoren, welche meist mittelalterlich-metaphysisch in einfacher Kausalkette verwendet werden, tragen wenig zu einer Effizienzsteigung bei und bergen die Gefahr, massive Fehlanreize zu setzen.

Auf die Sinnhaftigkeit, das „Prävention“ eine Krankenkassenleistung und nicht eine gesundheits- und gesellschaftspolitische und somit steuerfinanzierte Aufgabe ist, soll nicht näher eingegangen werden.

3. Interessenslagen

Aus den genannten Anreizsystemen erwachsen entsprechende differente Interessenlagen der beteiligten Akteure im Gesundheitswesen. Diese sind vielseitig und auf verschiedenen Ebenen angesiedelt:

Unternehmerisch – ökonomisch; medizinisch – ärztlich – ethisch – persönlich/menschlich und haben wiederum zu verschiedenen Betriebs-, Verbandsstrukturen, Interessengemeinschaften und Lobbyismen geführt. Schon allein die Differenzierung der Arztgruppe in Unternehmer und Angestellte, in Vertragsärzte, angestellte MVZ- und Krankenhausärzte, in Chefärzte mit und ohne Gewinnbeteiligungen/Ermächtigungen/Lehraufträgen, in Ärzte universitärer, großer und kleiner Versorgungskrankenhäuser/kommunaler, kirchlicher und privater Träger, in Fach- und Assistenzärzte, in Haus- und Fachärzte, in Beleg-, Honorar- und Konsiliarärzte, in niedergelassene Ärzte in Einzelpraxis, Berufsausübungsgemeinschaften/MVZ in jeweils differenten fachlichen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen und mit differenten Risiken und Verantwortlichkeiten, offenbart, wie schwer es ist, fachlichen und menschlichen Konsens für eine Sektorenverbindende Versorgung zu finden. Aus meiner Erfahrung heraus, sind viele gute IV-Projekte schon allein aus rein subjektiven Befindlichkeiten gescheitert.

Die Differenzierung der Interessenlagen wurde auch durch den Gesetzgeber vertieft. Seit etwa 2005 gibt es neben dem Trend einer zunehmenden Verstaatlichung und privater Konzernkonzentrierung, Initiativen und Gesetzgebungen, die versuchen, Behandlungsmonopole der einzelnen Sektoren – vor allem des ambulanten Bereiches – zu durchbrechen und einen Wettbewerb (bzw. besser Pseudowettbewerb) der Leistungserbringer zu fördern.

4. Rechtliche Rahmenbedingungen

Die Zusammenarbeit zwischen Ärzten der verschiedenen Sektoren, Industrie und Fachhandel auf Basis von gegenseitigen Respekt und Vertrauen ist sinnvoll und notwendig zur Optimierung der Gesundheitsversorgung und von Behandlungspfaden mit Hebung von Struktur- und Prozessreserven. Nur so können patientenorientierte

Innovationen entwickelt und im Alltag umgesetzt werden. Die struktur- und/oder prozessdefinierten Kooperationen im Rahmen von Praxis-/Klinikverbünden, Netzstrukturen, Selektivverträgen sind auf der einen Seite durch den Gesetzgeber möglich und gewollt (Vertragsarztänderungsgesetz, Versorgungsstrukturgesetz), andererseits sind die resultierenden Interaktionen straf-, dienst-, berufs- und sozialrechtlich risikobehaftet, sodass sich alle Beteiligten sofort in ein nicht kalkulierbares Spannungsfeld mit der Gefahr der unsachgemäßen Einflussnahme auf Verordnungs- und Therapieentscheidungen begeben, was jetzt im Rahmen des Antikorruptionsgesetzes sogar strafbewehrt sein. Somit wird die gesetzliche Förderung von Kooperationen an der ambulant/stationären Schnittstelle durch Verunsicherung der Beteiligten konterkariert. Fachliche und ärztliche Kompetenz wird durch juristische Auslegung ersetzt.

Zusammenfassend kann zur bisherigen Realität der Sektorenverbindenden Versorgung gesagt werden:

  • Ökonomisierung, differente Hono­rierungssysteme, Interessenslagen, subjektive Befindlichkeiten, tradierte Denkschemen sowie Rechtsnormen trennen die Sektoren.
  • Die Sektorierung ist unverändert zementiert in ärztlichen und pflegerischen Leistungsstrukturen, bei Kostenträgern, bei Industrie und Handel, in der Politik und in den vielen Köpfen der Beteiligten im Gesundheitswesen.
  • Dauerbaustellen sind seit über zehn Jahren der Vertragswettbewerb und das Bereinigungsverfahren sowie der Sicherstellungsauftrag.
  • Evaluation, Versorgungsmanagement und -forschung fristen ein Schattendasein.

Was ist zu erwarten?

Verknappende Geldmittel und der Aufbruch der Sektorengrenzen zwingen zu einem Konzentrationsprozess und zur Kooperation der Leistungserbringer (Abb. 3).

Abb. 3: Konzentrationsprozess und Aufbruch der Sektorengrenzen zwingt zur Kooperation

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Mit dem Ziel der Kostenoptimierung/Umsatz-/Gewinnsteigerung, des Erhalts einer fachlichen und/oder ökonomischen Unabhängigkeit und Zukunftssicherung und nicht zuletzt zur Verbesserung der Patientenversorgung wurden/werden von den Beteiligten Kooperationen eingegangen. Diese sind meist traditionell strukturell-sektoral im Sinne von Berufsausübungsgemeinschaften, MVZ (fachgleich, fachübergreifend, überörtlich), Praxisnetzen, Genossenschaften oder Klinikverbundsystemen. In letzter Zeit sind zunehmend auch sektorenverbindende Kooperationen mit entsprechend gestalteten Krankenhaus-MVZ Strukturen, Verbundsystemen oder Netzwerken von Praxen und Kliniken (z. B. 5-Phasen-Campus Modell) zu verzeichnen. In Zusammenhang mit diesen Kooperationen, aber auch unabhängig davon, bestehen prozessbezogene Kooperationen im Rahmen von z. B. Einkaufsmodellen, Verträgen nach §§ 63/64/140/116 SGB V. Die Einbindung von Industrie und Fachhandel ist oft mangelhaft, perspektivisch aber aus meiner Sicht zwingend erforderlich.

Die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung (ASV) nach § 116 ff SGB V ist m.E. ein Hoffnungsfunke zur Reanimation der Integrierten bzw. Sektorenverbindenden Versorgung. Leider wurde vor der Bundestagsabstimmung aus dem Gesetzentwurf das Ambulante Operieren gestrichen, mit dem man bei übersichtlichen Behandlungspfaden und Kostenstrukturen die neue Versorgungsform hätte trainieren können. So muss man sich gleich an schwierige Behandlungskomplexe wie z. B. die Onkologie heranwagen. Vorteil der ASV ist die harmonisierte Vergütung und die potentiell gleichberechtigte Beteiligung der Sektoren, wobei z. B. die differenten Finanzierungsmodelle von Krankenhäusern (s. duale Finanzierung) und Vertragsärzten (monistische Honorierung) von z. B. Investitionen meines Wissens keine Berücksichtigung finden. Die ASV ist überwiegend strukturdefiniert und kaum prozess- bzw. falldefiniert. Nachteile sind weiterhin die Nichteinbeziehung von Produkt- und Arzneimittelversorgung/-kosten und die aufwendigen bürokratischen Hürden. Somit ist die ASV ein Schritt in die richtige Richtung und eine Chance für eine Sektorenverbindende Versorgung, muss aber in Zukunft weiter suffizient ausgestaltet werden.

Versorgungsstruktur- und Versorgungsstärkungsgesetz werden in Zusammenhang mit der avisierten Krankenhausreform die Versorgungslandschaft im Gesundheitswesen beeinflussen. Der freiberufliche-selbstständige Facharzt in eigener Praxis (früher oder später auch der Hausarzt) und kleine regionale Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung werden verdrängt und durch ambulante/teilstationäre Versorgungszentren kommunaler/privater Krankenhausträger in Kooperation mit hausärztlichen Versorgungszentren ersetzt. Die stationäre Behandlung findet hochspezialisiert in Krankenhäusern der Schwerpunktversorgung statt – mit hoher Fallfrequenz, überwiegend kurzstationär und multimodal. Daneben werden wirtschaftlich engagierte freiberufliche Ärzte aber auch Kliniken sicherlich auskömmliche Nischen finden.

Abschließend möchte ich ein Projekt vorstellen, an dem ich seit dem Jahr 2004 arbeite und in das ich meine fachlichen und organisatorischen Erfahrungen und Aktivitäten im Rahmen von Tätigkeiten in Akut-Kliniken, Praxen, ambulanten OP-Zentrum, MVZ, Reha-Klinik, Körperschaften (KV/LÄK), Berufs- und Fachverbänden sowie bei Krankenkassen, Industrie und Fachhandel eingebracht habe:

Projekt Sektorenverbindende Versorgung in der Chirurgie

Das vertragsärztlich ambulante und krankenhausambulante Operieren sowie das sogenannte „kurzstationäre“ Operieren sollen im Rahmen eines sektorenverbindenden Versorgungsprojektes auf der Basis des § 115 ggf. auch perspektivisch des § 116 SGB V mit einer entsprechenden Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität auf Basis eines kalkulierten Dienstvertrages einheitlich für den ambulanten und klinischen Bereich entwickelt werden. Neben der Operation umfasst das Projekt die gesamte prä-, peri- und postoperative Sektorenverbindende Versorgung mit zweckmäßiger und notwendiger Diagnostik, Vor- und Nachbehandlung zur Sicherung der Ergebnisqualität auf Basis einer eindeutigen Indikationsstellung. Vordergründiges Ziel ist dabei unter der Prämisse der Patientenorientiertheit die Schaffung einheitlicher Qualitäts-, Kosten- und Honorierungskriterien für Praxen und Kliniken und die Abschaffung von Doppelstrukturen bei Kostenträgern und Körperschaften. Durch die Einbeziehung aller Leistungserbringer (Praxen, Krankenhäuser, Pflege, Reha, Heilmittel-, Arzneimittelversorger, Industrie- und Fachhandel) werden die drei differenten Honorierungssysteme im Gesundheitswesen (Einzelleistungsvergütung, Fallpauschale, Capitation) im Rahmen einer Gesamtbudgetverantwortung zusammengefasst sowie Indikationen, Behandlungswege, Ergebnisse und Kosten transparent dargestellt. Basis für eine Kalkulation ist eine DRG- Systematik unter Einbeziehung von Produkt- und Managementkosten. Qualitätsmanagement, Abrechnung und Honorarverteilung sollten aufgrund des bestehenden Know-hows von einer entsprechenden Managementgesellschaft bzw. über eine Kassenärztliche Vereinigung als Dienstleistung erfolgen.

Startpunkt zur Umsetzung der Initiative war eine Sitzung auf dem Bundeskongress Chirurgie am 2. März 2013 in Nürnberg, zu der ich als Kongressleiter repräsentative Vertreter von GKV-Spitzenverband, Industrie und Fachhandel sowie der chirurgischen Berufsverbände BDC, BNC und BAO eingeladen hatte und die sich dort einhellig für eine konzertierte Aktion aussprachen. Diesem Ansinnen hat sich die DGCH angeschlossen. Nach entsprechenden Projektvorstellungen mit Unterstützung des damaligen Präsidenten des BDC, Herrn Prof. Bruch, des BDC-Geschäftsführers, Herrn Dr. Ansorg, und des Generalsekretärs der DGCH, Herrn Prof. Meyer, konnte man sich mit den Kostenträgern und GKV-Spitzenverband auf die Umsetzung des Projektes zunächst als Pilotprojekt für vier Indikationen einigen, für das als Kostenträger die Techniker Krankenkasse gewonnen werden konnte.

Hilfreich war bei der weiteren Umsetzung, dass die TK ein prozedurbezogenes Hybrid-DRG-Finanzierungsmodell entwickelt hatte, welches für das Projekt mit entsprechenden Indikationsbezug angepasst wurde. Als Modellregion wurde das Land Thüringen gewählt, aufgrund der dort bereits bestehenden Netzstrukturen (Chirurgennetz, Netzwerk Ambulantes Operieren, Wundnetz Thüringen) und der guten Zusammenarbeit von Kassenärztlicher Vereinigung, Berufsverbänden, Landesärztekammer und regionaler wissenschaftlicher chirurgischer Fachgesellschaft sowie einschlägigen Erfahrungen bei der Konzeption und erfolgreichen Umsetzung von flächendeckenden integrierten Versorgungsverträgen (NAO GmbH) sowie Selektivverträgen (KV-Thüringen). Nachdem über die Hälfte der Kliniken in Thüringen und die niedergelassenen Chirurgen ihr Interesse an dem Projekt bekundet haben, soll das Pilotprojekt „Hybrid-DRG Thüringen – Neue Wege im Gesundheitswesen“ mit den Indikationen: Leistenhernie, vordere Kreuzbandläsion, Stammvarikosis und Karpaltunnelsyndrom in Abhängigkeit des Innovationsfond noch im Jahr 2016 starten. 

Auf Basis einer leitliniengerechten, dokumentierten ärztlich-medizinischen Indikationsstellung, Berücksichtigung der Patientencompliance und -einwilligung und medizinisch anerkannter Ausschlusskriterien (G-AEP-Kriterien) erfolgt bei den vier Indikationen eine ambulante, tagesklinische bzw. short stay-Operation/medizinische Prozedur bei einheitlicher Hybrid-DRG Finanzierung und modularen Zulagen für z. B. Vorbehandlung/Dokumentation-Qualitätssicherung/Na­chuntersuchung Physiotherapie. Routine-MDK-Prüfungen erfolgen an beteiligten Kliniken für die Fälle nicht. Die weitere Nachbetreuung inkl. adjuvanter Heilmaßnahmen (z. B. Physiotherapie) bis zum Behandlungsabschluss verbleibt in der Verantwortung des/der Operateurs/behandelnden Einrichtung. Je nach Erfordernis werden sektorenübergreifend Kooperationspartner (z. B. Physiotherapeut) einbezogen. Ein Jahr postoperativ erfolgt eine Nachuntersuchung mit Erfassung von Routinedaten (AQUA-Bericht adaptiert) sowie des subjektiven (Arzt- und Patientensicht) und objektiv-klinischen Behandlungsergebnisses. Das Pilot-Projekt ist für vier Jahre konzipiert. Für das Jahr 2017 sind weitere acht Indikationen avisiert.

Fazit

Die Herausforderung der künftigen medizinischen Versorgung ist im Rahmen von Kooperationen, integrativen, sektorenverbindenden Versorgungsmanagement und Healthcare Services die Definition:

Wer behandelt patientenorientiert was, wo, wie, welche Kosten sind damit verbunden und wie wird die praktische Umsetzung gestaltet.

Das von Ökonomisierung, Regulierung, Kriminalisierung und Sektorierung geprägte bisherige Gesundheitssystem löst die Probleme nicht.

Die Erwartungen bestehen somit in der Hinwendung von der sektoralen zu einer patienten- bzw. populationsoriertierten Versorgung. Integrierte bzw. sektorenunabhängige Versorgungsformen mit der Möglichkeit indikationsbezogener Behandlung und Finanzierung, der Evaluation und der Kosten-Nutzen-Analyse sind Bestandteil einer solchen Versorgung und können außerdem als Modell für die Versorgungsforschung genutzt werden. P4P, Werksverträge, Rabattierungen, direkte und indirekte Kostendämpfungen provozieren falsche Anreizsysteme und sind somit kontraproduktiv.

Langfristiger Erfolg von Kooperationen und sektorenverbindender Zusammenarbeit wird generiert über

  • Patientenzufriedenheit mit den Indikatoren Heilung, Linderung, Vorbeugung vor Sekundärschäden,
  • das von Vertrauen geprägte und unantastbare Arzt-Patienten-Verhältnis,
  • ärztlich geprägten Indikationsbezug und ärztlich festgelegte Behandlungspfade,
  • die Bewahrung der ärztlichen Freiberuflichkeit/eines Berufsethos,
  • die gegenseitige Wertschätzung und der respektvolle Umgang aller Beteiligten miteinander,
  • die Überwindung von sektorenbezogenen Denkansätzen, Vorbehalten, Klischees,
  • eine gemeinsame Unternehmenskultur (Basis: Healthcare compliance) mit Zuverlässigkeit, Kollegialität, Integrations- und Kommunikationsfähigkeit sowie,
  • Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung.

Die Lösung lautet also: Zurück zu den chirurgischen Wurzeln, das Richtige richtig tun und Partnerschaft leben.

Der Artikel basiert auf einem Vortrag des Autors im Rahmen der „Teupitzer Gespräche“ im Jahr 2014, welcher in Wolff.H. (Hrsg.): Stand und Erwartung in der Chirurgie -Fremdbestimmung? im Dr. R. Kaden Verlag, Heidelberg im Jahr 2016 erschienen ist und jetzt aktualisiert wurde.

Dittrich S. Sektorenverbindende Versorgung – Realität und Erwartung. Passion Chirurgie. 2016 Oktober, 6(10): Artikel 07_01.

Autor des Artikels

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Dr. med. Stephan Dittrich

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