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Deutschland auf dem Weg in den Staatsmonopol-Kapitalismus

Die Bürgerversicherung – ein hervorragend gewählter Begriff! – will er doch die Gewissheit von Geborgenheit in der Solidargemeinschaft vermitteln, die ohne Unterschied von allen Bürgern getragen wird – vom Staat mit den Mitteln ausgestattet, die sozial Benachteiligte nicht aufbringen können. Bei einer Erkrankung sind alle Bürger gleich. Alle werden, nach den Regeln der Kunst, eine optimale Therapie erhalten. Das System wird transparent, da der Staat die Kontrolle übernimmt. Das Wohl der Bürger und der Patienten ist der Fürsorge des Staates und der staatlichen Organe anheim gegeben. Die im System Tätigen werden sachgerecht entlohnt und entsprechend der Versorgungsnotwendigkeit weitergebildet und eingesetzt.

Ein geradezu paradiesischer Zustand, der, gestützt auf einen umfassenden Denkansatz, alle Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten unmittelbar und vollständig beseitigt, die das bestehende System für einen Teil der politischen Klasse so unerträglich macht.

Wer sich aber, und sei es auch noch so oberflächlich, mit der Geschichte von Staaten und Systemen befasst, den müssen Zweifel befallen, wenn von quasi paradiesischen Zuständen auf Erden die Rede ist. Deshalb lohnt es sich, die „Bürgerversicherung“ genauer zu betrachten. Es muss erlaubt sein, ein Versicherungssystem zu hinterfragen, das sich Bürgerversicherung nennt und Assoziationen weckt, wie Bürgergesellschaft, Bürgersinn, Bürgerverantwortung, Solidarität uvm.

Denn: kann ein Versicherungssystem diesen hohen Ansprüchen überhaupt gerecht werden?

Demographie, Schuldenbremse, Arbeitskräftemangel, Unterfinanzierung der Krankenhäuser etc. sind derzeit heftig diskutierte Schlagworte. Die Auseinandersetzungen zu diesen Problemen zeigen, dass das Gesundheitssystem in der bestehenden Form an Grenzen stößt. Ein, von der Zukunft her gedachtes, neues System muss also etabliert werden.

Das von der SPD vorgelegte Versicherungssystem soll die bekannten Daten und Fakten berücksichtigen, auf einem breiten, nachhaltigen Finanzfundament ruhen, solidarisch gestaltet sein, flexibel auf Veränderungen reagieren und die Elastizität besitzen, um den berechtigten Wünschen der Bürger zu genügen. Das Konzept verfolgt den umfassenden Ansatz einer Versorgungsreform und einer Finanzierungsreform.

Die Versorgungsreform

Alle heute gesetzlich Versicherten und alle zukünftig Krankenversicherten sind Mitglieder der Bürgerversicherung. Dies gilt auch für Selbständige und Beamte. Für Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst soll ein beihilfefähiger Tarif entwickelt werden. Die Umsetzbarkeit, das Beihilfevolumen und die Beihilfeverordnungen sind Gegenstand der Diskussion.

Den derzeit privat Versicherten wird ein Wechselrecht in die Bürgerversicherung eingeräumt, das über zwölf Monate bestehen bleibt.

Die Reform zielt darauf ab, die privaten Krankenversicherungen aufzulösen, um einen einheitlichen, staatlich kontrollierten, Krankenkassenmarkt zu schaffen.

Das gesamte Vergütungssystem wird vereinheitlicht. Die Versorgungsstruktur wird verändert. Krankenhäuser werden für die ambulante Behandlung geöffnet. Der ambulante niedergelassene Facharzt soll abgeschafft und staatlich subventionierte spezielle medizinische Versorgungszentren sollen verstärkt eingerichtet werden.

Die hausärztliche Versorgung wird aufgewertet. Denn gerade die Hausärzte sind diejenigen, die eine Koordinierungsfunktion im Gesundheitssystem übernehmen können und Patientinnen und Patienten auch bei komplexen Behandlungen begleiten. Aber man will nicht den innovativen, flexiblen , selbständigen, niedergelassenen Hausarzt. Man will den Angestellten Hausarzt in „Hausärztlichen Versorgungszentren“ . Aufbau und Betrieb werden staatlich subventioniert. Dabei will sich der Staat nur anteilig engagieren. Die fehlenden Mittel werden den Kassenärzten aufgebürdet. Dies bedeutet, die niedergelassenen Haus- und Fachärzte als Vertragsärzte werden auch noch für die Abschaffung des eigenen, freien Berufes bezahlen müssen.

Das Problem der unzureichenden Prävention (Deutschland ist zu dick und bewegt sich zu wenig), meint man mit einer kostenintensiven Präventionsbehörde besser verwalten zu können. Bürgersinn und Selbstverantwortung bleiben Fremdworte im parteilichen Vokabular. Bei objektiver Betrachtung aber ist Prävention ein gesamtgesellschaftliches gesundheitspolitisches und gesundheitspädagogisches Anliegen. Notwendige Mittel müssen daher steuerfinanziert sein. Denn die originäre Aufgabe einer Krankenkasse ist es im Rahmen einer Solidargemeinschaft das Risiko „eingetretener Krankheitsfall“ zu versichern.

Die Bedarfsplanung wird kleinräumig erfolgen. Die Beteiligungsrechte der Länder werden gestärkt. Alle Planungen unterstehen der Rechtsaufsicht der Länder. Gemeinsame Landesausschüsse entwickeln die „sektorübergreifende Versorgungsplanung“ weiter. Es wird ein Kontinuum geschaffen zwischen ambulanter und stationärer Behandlung. Gleiche Leistungen werden gleich vergütet. Die Politik trägt Sorge dafür, dass „Über- und Unterversorgung“, was immer mit diesen Schlagworten verbrämt werden soll, der Vergangenheit angehören.

Die medizinische Aus- und Weiterbildung wird stärker über Bundesmittel finanziert. Der Staat nimmt direkten Einfluss auf die Inhalte der Lehre und die Anforderungen an künftige Studenten und Ärzte. Der Ärztestand soll beamtenähnlich organisiert werden, in einer staatlich geplanten Versorgungsstruktur, nach den Versorgungsnotwendigkeiten eingesetzt. Streik- und Widerspruchsrechte müssen eingeschränkt oder gänzlich aufgehoben werden, sollen die Ziele der Reform erreichbar sein.

Die Finanzierungsreform

Unter der Aufsicht des Bundesversicherungsamtes wird der Gesundheitsfond einen angemessenen Finanzkraftausgleich zwischen den Kassen gewährleisten. Die Einnahmeseite wird von drei großen Finanzströmen bedient:

  1. der lohnsummenabhängigen Gesundheitssteuer, die vom Arbeitgeber zu entrichten ist,
  2. dem Arbeitnehmerbeitrag, mit der Bezeichnung Bürgerbeitrag und
  3. der Kapitalgesundheitssteuer, die einer dynamisierbaren Steuerbelastung von Kapitalerträgen entspricht.

Dazu heißt es im Programm der SPD kurz zusammengefasst:

„Arbeitgeber müssen ihrer größer werdenden Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung entsprechend an den Kosten und Investitionen im Gesundheitssystem beteiligt werden. Die Krankenkassen setzen den Bürgerbeitrag individuell selbständig fest. Mit einem dynamisierten Steuerbeitrag sollen weitere Einkommensarten zur Finanzierung der Krankenversicherungen beitragen. Der bestehende Steuerzuschuss wird zum Steuerbeitrag. Die Mittel werden aus einer Erhöhung der Steuern aus dem Kapitalertrag geschöpft.

Es werden diejenigen Branchen und Unternehmen stärker als bisher einbezogen, die sich auf Grund ihrer überdurchschnittlichen Einkommensstruktur bislang zu gering an der Finanzierung der Krankenversicherung beteiligten. Die Arbeitgeber werden über eine Gesundheitslohnsummensteuer an der Bürgerversicherung beteiligt. Die Beitragsbemessungsgrenze, die derzeit besteht wird für die Arbeitgeberbemessungsgrundlage aufgehoben”.

Für den Bürgerbeitrag bleiben die Beitragsbemessungsgrundlagen und Grenzen unverändert.

Kritische Wertung

Die Folgen des demographischen Wandels werden seit mehr als zwei Jahrzehnten wissenschaftlich untersucht. Man verfügt daher über ein sehr stabiles Szenario, das in alle Zukunftsbetrachtungen einbezogen werden muss.

Danach wird sich das Finanzvolumen, das aus der Bürgerversicherung geschöpft werden kann, bis zum Jahre 2036 asymptotisch einem Maximum angenähert haben, vorausgesetzt die konjunkturelle Entwicklung bleibt auf dem derzeit hohen Niveau stabil. Die Kosten aber werden, wegen der Demographie und wegen des technischen Fortschrittes, unablässig weiter steigen.

Es ist daher nachvollziehbar, dass die Einnahmen für die medizinische Grundversorgung auf eine sehr breite Basis gestellt werden müssen. Die Finanzierung muss nachhaltig und möglichst wenig konjunkturanfällig sein. Neben der Grundversorgung, die jedem Bürger zusteht, muss es in einem freien Lande verschiedene Wahltarife geben, die vom „sollte man haben“ bis zum „wäre schön, wenn man es hätte“ reichen. Entsprechend müssten die Tarife vollkommen transparent gestaffelt werden.

Die Bürgerversicherung in Form einer autoritären Einheitsversicherung belebt dagegen die Gleichheitsphantasien untergegangener sozialistischer Staaten. Weitere fünf Millionen Arbeitnehmer des Medizinsystems werden abhängig von staatlicher Reglementierung. Addiert man die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und ein wachsendes Heer von Rentnern und Pensionären dazu, befindet sich Deutschland auf dem Weg zum Staatsmonopolkapitalismus und bewegt sich dorthin, wo sich Schweden vor seinen extrem schmerzhaften Reformen befunden hat (Hans Spies).

Ärzte werden zu Beamten, Bürger haben keine Wahl mehr, wissenschaftlicher Fortschritt bleibt aus

Die Bürgerversicherung führt direkt in eine Staatsmedizin nach Kassenlage, die von staatlichen Gesundheitskonzernen gelenkt wird. Der wissenschaftliche Fortschritt und die Wissensexplosion, die individualisierte Medizin und die daraus zwingend folgende Spezialisierung werden negiert. Der Hausarzt soll die Aufgabe eines Gesundheitsmanagers auch in komplexesten Fällen übernehmen – Fälle deren Behandlung im Weiterbildungskanon der Allgemeinmedizin nicht vorkommen.

Kosten- Nutzenanalysen sind nicht mehr notwendig, da ein staatlich administriertes “Managed Care System” das Optimalmodell für den Bürger klarstellt. Die regionale und nationale Gesundheitspolitik bestimmt über Preise, medizinische Infrastruktur, Aus- und Weiterbildung, Qualitätsparameter und Prozesse.

Der Staat/die Politiker bestimmen schließlich, was für den Patienten gut ist – nicht mehr die Ärzte!

In die Bürgerversicherung sollen Elemente der GKV und der Rentenversicherung einfließen. Wollte man den Steuerzuschuss des Staates minimieren, müsste im ungünstigsten Falle eine Summe von 60 Milliarden Euro pro Jahr (Drabinski 2013) durch die Kapitalertragssteuer gegenfinanziert werden. Der derzeitige Steuersatz würde sich mehr als verdoppeln.

Höhere Steuern, hunderttausende Arbeitslose, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit auf dem Gesundheitsmarkt wird infrage gestellt

Der unaufhaltsame Niedergang der Privatkrankenkassen würde mehr als 100.000 Angestellte freisetzen und es würden vornehmlich jene Personen aus den privaten Kassen abwandern, die eine geringe Finanzkraft besitzen und einen hohen Aufwand benötigen – Geringverdiener, Rentner und Pensionäre. Ob die Altersrückstellungen dafür ausreichen werden, die nach dem Gesetzentwurf im Rahmen des grundgesetzlich Möglichen mitwandern sollen, sei dahingestellt.

Insgesamt wirkt die Bürgerversicherung wie eine gewaltige “Einkommens-Umverteilungsmaschine”, die vornehmlich vom Mittelstand finanziert werden muss. Sie ist einkommens- und steuerbasiert und daher konjunkturabhängig und nicht nachhaltig. Sie wird – und hier sei von Dohnani zitiert – die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands tangieren. Absehbar wachsende Steuerzuschüsse werden wie selbstverständlich der nachwachsenden Generation aufgebürdet.

Die Tatsache, dass bereits heute 90 Prozent aller Bürger Deutschlands in der Gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, verdeutlicht, dass die 10 Prozent Beamten und Selbständigen, welche durch die Bürgerversicherung zusätzlich rekrutiert werden, das Finanzzierungsproblem der GKV nicht lösen werden. Darf man den veröffentlichten Statistiken Glauben schenken, dann sind es gerade jene Beamten und staatlichen Angestellten, welche über die staatliche Beihilfe allgemein steuerfinanzierte Gesundheitskostenzuwendungen erhalten, die den höchsten Krankenstand und die niedrigste Lebensarbeitszeit aufweisen. Das aber bedeutet, dass der Solidargemeinschaft zusätzlich hohe Kosten aus den staatlichen und kommunalen Etats aufgebürdet werden.

Selbständige dagegen haben die Solidargemeinschaft, gesichert durch die Versorgungswerke, bisher auch im Rentenalter in keiner Weise belastet.

Dabei sind Selbständige, und das sei hier angemerkt, in der Regel keine Spitzenverdiener. Die überwiegende Mehrzahl gehört dem unteren und mittleren Drittel des Mittelstandes an. Wie sich die im Zuge der Bürgerversicherung notwendige Auflösung der Versorgungswerke auf die Motivation der Versicherten und die Finanzierung auswirken werden kann derzeit in keiner Weise abgeschätzt werden..

Arbeitnehmer, deren Einkommen bisher unter der Beitragsbemessungsgrenze lag, werden sehr viel stärker belastet, wenn die Bürgerversicherung auf weitere Bemessungsgrundlagen, z. B. Kapitalerträge/Sparrücklagen etc., zurückgreift. Die Zahl der „Maximalzahler“ mit perspektivisch willkürlicher und beliebiger Steigerungspotenz wird nach Kapitalbedarf erhöht. Die wiederholte Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen in der letzten Jahren legt davon beredtes Zeugnis ab. Der prozentuale Beitragssatz wird so stabil gehalten. Kleine und mittlere Einkommen werden überproportional belastet.

Die Mogelpackung wird ganz im Sinne der “political correctness” und der scheinbaren Gerechtigkeit als „Bürgerversicherung“ verhökert.

Um die notwendige und entscheidende Diskussion aber, zur Struktur des Gesundheitssystems zur Mittelverwendung, Priorisierung und Rationierung, macht die Politik nach wie vor einen weiten Bogen. Diese Diskussion wird einfach nicht geführt!

Höchste Zeit also über alternative Modelle nachzudenken, die positive Faktoren aus der vorgesehenen Reform bewahren, sozialromantische, zerstörerische Elemente aber dorthin verweisen wo sie hingehören – nämlich in die Mottenkiste der Geschichte!

Bruch H.-P. / Dittrich S. Die Bürgerversicherung. Passion Chirurgie. 2013 August; 3(08): Artikel 07_02.

Autoren des Artikels

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Prof. Dr. med. Hans-Peter Bruch

ehem. PräsidentBerufsverband der Deutschen Chirurgen e.V.Luisenstr. 58/5910117Berlin
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Dr. med. Stephan Dittrich

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