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Lieber Klasse statt Masse oder macht die Masse die Klasse?

Mindestmengen (MM) – ein Reizthema quer durch alle Bereiche der Medizin. Die einen wehren sich vehement dagegen, andere sehen darin wichtige Qualitätskriterien. Dritte meinen: Es kann doch sowieso jeder seine Mengen angeben, wie es ihm gefällt. Öffentlich kontrolliert wird da nichts. Oder: Sind die Mindestmengen (MM) vielleicht nur ein Stellvertreter-Thema? Für die Frage, vor der sich alle so fürchten: Müssen wir in Deutschland Kliniken schließen, die Bettenzahl abbauen. Und wenn ja, wie viele und vor allem welche?

Experten aus unterschiedlichsten Institutionen waren am 13. Juni nach Berlin ins Langenbeck-Virchow-Haus gekommen, um darüber zu diskutieren. Eingeladen hatten der Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) und die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH).

Für alle, die nicht dabei sein konnten, wollen wir hier Auszüge aus einigen Vorträgen wiedergeben.

MM aus der Sicht des Gemeinsamen Bundesausschusses

Josef Hecken vom G-BA wies darauf hin, dass der Nutzen der MM nicht durch Studien belegt sein muss. Deshalb sei die Frage, ob sie dann überhaupt rechtssicher durchsetzbar sind. Hecken: „Wenn ich ein kleines Haus habe, wo ich nur 14 Fälle hatte, die alle gut ausgingen, dann ist dies sehr zuverlässig. Es kann aber auch ein Zufall sein, da es ja eben nicht genügend Fallzahlen gibt.“

Das Bundessozialgericht (BSG) bestätigt einen konkreten Zusammenhang zwischen MM und Qualität bei der Knie-Endoprothetik und der Perinatal-Versorgung. Trotzdem müssten MM ein Ausnahmefall bleiben und in jedem Einzelfall neu geprüft werden.

04_01_a_09_2013_mindestmengen_image_01Abb. 1: Bestehende Mindestmengenregelungen

Man müsse vor allem auf die medizinischen Qualitätskriterien schauen, so Hecken. Welche Auswirkungen gibt es dort, wo MM nicht realisierbar sind?
Sein Fazit: Das Gericht sagt, MM sind zulässig. Also haben wir vier Optionen:

  1. eine optimale MM festlegen,
  2. eine Mengen-Untergrenze festlegen, um „wenigstens das Schlimmste zu verhindern“,
  3. eine Mengen-Untergrenze festlegen, die (mit Begleitforschung) stufenweise an die optimale Grenze angehoben wird,
  4. einen Korridor unterhalb der „optimalen Menge“ festlegen, bei nachgewiesener guter Qualität.

Immer wieder kommen dabei die Bedenken um eine flächendeckende Versorgung auf. Hecken: „Die Frage ist nur: Was ist flächendeckende Versorgung? Welche Wege kann man welchen Patienten zumuten? Das Gericht hat sich da nicht festgelegt.“

MM aus Sicht der Bundesärztekammer

Dr. med. Bernhard Rochell sieht, dass ein Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität nicht allein durch MM erreichbar ist. „Mindestmengen schließen die Versorger aus, die diese Zahlen nicht erreichen und trotzdem eine gute Qualität haben. Mindestmengen können Fehlanreize ausüben. In jedem Fall brauchen wir eine begleitende Evaluationsforschung!“

Das Fazit der BÄK:

  1. MM können zur Gefahr für die flächendeckende Krankenhaus-Versorgung werden.
  2. Die Höhe der MM muss sich an tatsächlich Erreichbarem orientieren.
  3. MM können nur ein ergänzender Teil der Qualitätssicherung sein.
  4. Gute Leistungserbringer dürfen nicht durch MM ausgeschlossen werden.
  5. Die Auswirkungen der MM sind ständig zu überprüfen.

MM aus Sicht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG)

Prof. Dr. Jürgen Windeler betont, dass MM gerade in der Weiterbildung Fehlentwicklungen und -anreize begünstigen. „Ich kann mich noch erinnern“, so Windeler, „wie in der Weiterbildung dann überlegt wurde, bei welchem Patienten man denn noch eine Leber-Biopsie machen könnte…“. Mindestmengen garantierten keine Qualität, sondern sind lediglich ein Indikator, so der Professor.

MM aus Sicht der Deutschen Krebsgesellschaft

Prof. Dr. Wolff Schmiegel macht auf seinem Gebiet eindringlich klar, was MM bedeuten können. „Es besteht die Gefahr der Übertherapie, der Ressourcen-Verschwendung und der verringerten Patientensicherheit. Die Lebens-Qualität des Patienten kann sogar infrage gestellt werden. Muss denn ein Patient kurz vor seinem sicheren Tod noch am Enddarm operiert werden?“

MM sind nicht so leicht umzusetzen. Ein Beispiel aus NRW: Hier werden 80

Prozent aller Dickdarm-Krebs-OP in Klinikern unter 200 Betten durchgeführt. Schmiegel stellt fest: „Wir sind auch weiterhin für Mindestmengen. Es gibt viele Publikationen mit einem positiven Zusammenhang. Doch die Fallzahlen müssen für alle Disziplinen gelten, nicht nur für die Chirurgen.“ Sehr positiv würden sich MM z. B. Bei Vorsorge-Koloskopien auswirken. „Hier verhindern wir eine Vielzahl von Tumoren“, so Schmiegel.

Sein Fazit: Eine Festlegung von MM ist sinnvoll, es muss aber die Kompetenz der Struktur (das Interdisziplinäre) berücksichtigt werden. Leider gibt es kaum evident basierte Studien für „die eine Mindest-Zahl“. Deshalb müssen die MM immer wieder kritisch hinterfragt werden.

Doch Schmiegel hat eine große Hoffnung: „Unser Hauptziel ist ein klinisches Krebsregister. Dann haben wir auf Dauer Langzeitergebnisse – zu den OPs, zu den Chemo-Therapien, zur Bestrahlung. Wenn wir so weit sind, kann der Bezug zu den Fallzahlen besser gestellt werden!“

MM aus Sicht des GKV-Spitzenverbandes

Dr. Wulf-Dietrich Leber sieht das Thema MM erst in den Kinderschuhen. „Bisher war das Projekt nicht überzeugend. Bei jeder Krankheit ist alles anders. Aber die Zahl 50 eignete sich erst einmal für sämtliche Krankheiten“, so Leber. Und etwas zynisch fügte er hinzu: „50 – das war eben jede Woche einer, außer Ostern und Weihnachten.“ Seit März 2013 gibt es nun eine neue Richtlinie. Vorerst wurden keine Zahlen übernommen. Doch: Neue Mindestmengen sind hochwahrscheinlich.

Leber gibt zu bedenken: „75 Prozent der kleinen Häuser liegen in verdichteten Gebieten. Im 50-Km-Umkreis von Essen-Hauptbahnhof z. B. gibt es 100 Kliniken, die Knie-Endoprothesen anbieten. Man muss gucken, wer rausfliegt, aber es muss nach Qualität gehen!“

Einen Spezialfall nennt Leber die Transplantationszentren. „Sind deren mittelmäßige Ergebnisse auf schlechte Organe oder schlechte Zentren zurückzuführen? Wie können solche Häuser weiterleben, wenn sie z. T. Mengen von unter fünf Fällen haben? Nur die ständige Kommission hat die Macht, solche Zentren zu schließen, indem nur die Organe erhalten, werden die bestimmte Mindestmengen erfüllen!“

Strukturanforderungen seien eben noch weniger evidenzbasiert, als Fälle. „Sterben zwei von fünf oder 20 von 50 ist das gleich, aber doch völlig anders. Es muss nach Signifikanz über Konfidenz-Intervalle sortiert werden. Dies ist jedoch nur bei messbaren Ergebnissen möglich.“

„Doch Vorsicht“, und hier wird Leber wieder sehr direkt „die beste Qualität erreichen Sie natürlich immer bei der Operation von Gesunden.“ Sein Fazit lautet: „Bei den Mindestmengen sind wir eher am Anfang, als am Ende dieser Story.“

Umsetzung der Mindestmengen – die Versorgungsrealität

Prof. Dr. Max Geraedts vom Institut für Gesundheitssystemforschung der Uni Witten/Herdecke ist ein Mann der Zahlen. Er zeigt die Veränderungen der MM bei Pankreas, Ösophagus, Knie-TEP auf. „43 Prozent aller Kliniken führen unterhalb der Fallzahlen komplexe Ösophagus-Eingriffe durch. Das sind 14 Prozent aller Fälle.“ Die Vorgabe war hier von fünf auf zehn gestiegen. „Und trotzdem“, so der Uni-Professor, „ist die Anzahl der Kliniken von 2004 bis 2010 gleichgeblieben. Beim Knie-TEP gibt es sogar eine Zunahme der Kliniken, die das machen.“

04_01_a_09_2013_mindestmengen_image_02Abb. 2: Verteilung der Häufigkeit von Knie-TEP 2010: 144 Kliniken mit 41-60 Eingriffen (von insgesamt 987 Kliniken mit Knie-TEP)

Sein Fazit: Es gibt durch die MM keinen Zentralisierungseffekt, der erwartet wurde. Aber: Es gibt anscheinend einen Anreiz zur Fallzahl-Steigerung, wenn man kurz darunter liegt. Geraedts: „Die Fallzahlen kontrolliert ja niemand. Die Kliniken tragen das selbst ein.“

Und: „Auch unterhalb der Mindestmengen wird jeder Eingriff von der Kasse gezahlt. Vielleicht wäre hier ein Ansatzpunkt, dass Mindestmengen eingehalten werden müssen!“

MM – Wunschvorstellungen, Realität und Notwendigkeiten

Prof. Dr. Thomas Mansky von der TU Berlin hat mit seinem Team von 2005 bis 2011 über 120 Mio. statistische Fälle eingeholt und ausgewertet. Nüchtern stellt er fest: „Selbstdeklarierte Mengen sind Beschiss. 70 Prozent aller Kliniken erreichen die Mindestmengen nicht!“

Seine Ergebnisse nennt er „spannend bis gruselerregend“. Bei Leber, Knie, Pankreas, Ösophagus, Neonatologie und Transplantation gelte eines: „Ob wir eine MM-Regelung haben oder in Marokko fällt ´ne Dattel vom Baum ist egal.“

Aber: Die MM an sich findet er gar nicht egal. Denn die Sterblichkeit unterhalb der MM sei höher. In seinen Augen ist die gesamte MM-Diskussion nur eine Stellvertreter-Diskussion für die notwendige Schließung von Häusern. Mansky nimmt kein Blatt vor den Mund: „Von den rund 500.000 Krankenhaus-Betten in Deutschland kann man 150.000 streichen, ohne, dass die Versorgung gefährdet wird. Praktizierte Politik ist jedoch nicht Streichung, sondern Sicherung von Arbeitsplätzen.“

Die Fehlstrategien der Kliniken seien ersichtlich. Kleinere Häuser stehen vor dem Haus. Da würden dann zum Teil hohe Investitionen für kleine Fallzahlen unternommen. Die Folge: der Aufbau unwirtschaftlicher Bereiche. Es erfolge keine Leistungsbereinigung. Mansky: „Schuld ist die überkommene Ideologie der Grundversorgung in der Krankenhausplanung. Wenn alle nur noch Hüften machen wollen, sind wohl die Preise zu hoch. Dann müsste man die Preise senken. Wir müssen endlich fragen: Stimmen die Versorgungsstrukturen noch? Werden die Patienten in die richtigen Kliniken gebracht? Mehr Geld wird diese Probleme nicht lösen…“

MM – Verändern sie die Versorgungsstrukturen?

Prof. Dr. Edmund Neugebauer von der Universität Witten/Herdecke bejaht dies eindeutig.

Sein Fazit:

  1. MM gefährden die wohnortnahe Versorgung.
  2. MM gefährden die Kontinuität in der Versorgung
  3. MM gefährden die Koordination in der Versorgung.
  4. MM gefährden die Notfallversorgung.
  5. MM bewirken einen Verlust an Einweisern.
  6. Die Debatte um Mindestmengen lenkt ab – von der eigentlichen Diskussion um Schließungen.

Reisinger K. Mindestmengen in der Medizin. Passion Chirurgie. 2013 September, 3(09): Artikel 04_01.

Autor des Artikels

Profilbild von Kathrin Reisinger

Kathrin Reisinger

Berufsverband der Deutschen Chirurgen e.V. (BDC)Ehem. PressesprecherinLuisenstr. 58/5910117Berlin

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