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Vorwort – Mindestmengen kolorektale Chirurgie

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Einführung von Mindestmengen vor allem in operativen Fächern durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) segelt immer unter der Flagge der Qualitätsverbesserung. Das Argument ist so schlagend wie auch sakrosankt. Doch wer sich mit der deutschen Variante der Mindestmengen-Diskussion genauer beschäftigt, dem fallen schnell die zu einseitigen Betrachtungen, argumentativen Fehler und der Anspruch auf die absolute Deutungshoheit auf. Wir ringen seit Jahren, doch wir werden nicht besser. An einer zu niedrigen Menge an Diskussionen liegt das nicht. Was nahtlos zur operativen Mindestmenge zurückführt, die sich seit Jahren ernsthaft auf den Zusammenhang von Masse und Qualität reduziert. Ein Vergleich zum Fußballsport: Natürlich kann man einen Freistoß besser platzieren, wenn man das vielfältig praktiziert. Und trotzdem beeinflusst Talent das Ergebnis und die Lernkurve ganz erheblich. Und wenn dann nur noch die im Häufigen Geübten vor die Kugel treten dürfen, dann lernt es auch gar keiner mehr. Moment – war Konkurrenzdruck nicht auch ein politisch gewolltes Prinzip der Qualitätssteigerung? Na, was denn jetzt?

Qualität setzt sich natürlich aus weit mehr zusammen als nur der reinen Menge, die als Argument der Zentrierung alles zusammenschießt. Wir täten gut daran, dass endlich in unseren Diskussionen zu berücksichtigen. Vielleicht hilft da wieder mal ein Blick über den Tellerrand, z. B. nach Schweden. Die dortigen Kollegen drehen die Zentrierung jetzt wieder etwas zurück, weil man überzeugt ist, übertrieben zu haben. Andernfalls freuen wir uns auf die Mindestmengen für Schilddrüsen, Nabelhernie und den Sinus pilonidalis. Da ist sicher auch was zu holen. Alles eine Frage der Grenzziehung. Aber jetzt geht es erstmal um das Kolon.

Lehrreiche Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Am 16. Juni 2022 hat der Gemeinsame Bundesausschuss gemäß 8. Kapitel § 15 Abs. 6 der Verfahrensordnung beschlossen, den Unterausschuss Qualitätssicherung mit der Durchführung eines Beratungsverfahrens zur Festlegung einer Mindestmenge in der kolorektalen Chirurgie bei Darmkrebs zu beauftragen. Nach Analyse der aktuell verfügbaren Daten hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) am 15.03.2023 einen Rapid Report zum Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Qualität der chirurgischen Behandlungsergebnisse bei kolorektalen Karzinomen veröffentlicht [1]. Die Autor:innen kommen zu der Schlussfolgerung, dass bei 9 von 13 verwertbaren Zielgrößen ein Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge und den Behandlungsergebnisse zugunsten von Krankenhäusern mit höheren Leistungsmengen abgeleitet werden kann. Diese betreffen u. a. die Mortalität, die Gesamtkomplikationen, die Häufigkeit von postoperativem Nierenversagen und die Re-Interventionsrate.

Seither sind keine weiteren offiziellen Verlautbarungen zum weiteren Umgang mit diesen Ergebnissen publiziert worden, es gilt aber als hochwahrscheinlich, dass diese Daten nun in der Folge als Grundlage für die Einführung einer Mindestmengenregelung bei kolorektalen Karzinomoperationen in deutschen Krankenhäusern herangezogen werden.

Einfluss auf die chirurgische Weiterbildung

Um abschätzen zu können, welchen Einfluss die Einführung dieser Mindestmengenregelung auf die chirurgische Weiterbildung in Deutschland hätte, müssten grundsätzlich zunächst die folgenden Fragen beantwortet werden:

Wird sich die Mindestmenge ausschließlich auf maligne Diagnosen beziehen (diagnosebezogene Mindestmengenregelung) wie z. B. bei den bereits geltenden Lungenmalignom-Prozeduren oder auf alle Eingriffe am Organsystem Kolorektum (organbezogene Mindestmenge) wie etwa bei Pankreas- und Ösophagusresektionen?

Welche Anzahl von Prozeduren wird bei diagnosebezogener Mindestmengenregelung gefordert?

Wird der Einfluss auf die Inhalte der aktuellen Weiterbildungsordnung (WBO) bezogen?

Welche Zeitachse wird betrachtet?

In diesem Artikel beziehen sich die Annahmen auf die nach derzeitigem Kenntnisstand wahrscheinlichste Variante einer Mindestmenge von 30 Kolon- und 20 Rektumkarzinom-Prozeduren (analog DKG-Zertifikat für Darmkrebszentren). Angenommen wird eine zunächst unveränderte Weiterbildungsordnung (WBO 2011) für den Facharzt für Viszeralchirurgie und die Zusatzweiterbildung Spezielle Viszeralchirurgie. Ferner wird davon ausgegangen, dass die Einführung zeitlich und numerisch gestaffelt umgesetzt wird.

Zu erwartende Versorgungssituation in Deutschland vor diesem Hintergrund

Laut Aussagen der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) gibt es derzeit 310 Krankenhäuser in Deutschland, die als Darmkrebszentrum zertifiziert sind. Diese Zertifizierung beinhaltet u. a. eine operative Mindestmengenanforderung, die bei 30 Kolonresektionen und 20 operativen Rektumprozeduren festgelegt ist. Nach Einschätzung der DKG ist die Anzahl der Kliniken, die diese Mindestmenge erreicht oder überschreitet und noch nicht zertifiziert ist, relativ gering [2]. Ferner wird davon ausgegangen, dass in etwa 1000 Kliniken in Deutschland kolorektale Resektionen bei Malignomen durchgeführt werden, die diese Zahlen nicht erreichen. Diese Einschätzung wird unterstützt durch eine populationsbasierte Kohortenstudie von Trautmann und Mitarbeiter:innen anhand von Krankenkassendaten zwischen 1/2010 und 12/2015. Es ergab sich hier eine Verteilung von 34,3 % von Patient:innen, die in zertifizierten Einrichtungen versorgt wurden zu 65,7 % von Patient:innen, die in nichtzertifizierten Zentren behandelt wurden [3].

Nach Einschätzung der DKG würde die Einführung einer Mindestmenge für kolorektale Karzinomoperationen nach obengenannten Kriterien zu folgenden Effekten führen:

1.Die Fallzahl in den bereits vorhandenen zertifizierten Zentren würde sich deutlich erhöhen.

2.Neue Zentren würden etabliert

3.Im Ergebnis würde an etwa 400-500 Zentren in Deutschland kolorektale Karzinomchirurgie zugelassen sein.

Nicht berücksichtigt bei diesen Annahmen sind die weiteren politischen Entwicklungen zur deutschen Krankenhausreform und mögliche regionale Sondergenehmigungen zur Leistungserbringung trotz Mindestmengenunterschreitung.

Perspektive der chirurgischen Weiterbildung unter Mindestmengenregelung

Für die Weiterbildung zum Facharzt für Viszeralchirurgie ist eine Richtzahl von 30 Eingriffen am Kolon festgelegt. Diese gelten unabhängig von der zugrunde liegenden Diagnose und sind daher formal auch mit Resektionen aufgrund benigner Grunderkrankungen, Anlagen von Stomata, Korrekturen etc. erreichbar. Es ist daher für den „Viszeralchirurgen“ davon auszugehen, dass die Einführung einer Mindestmengenregelung kurzfristig keinen wesentlichen Einfluss auf die Anzahl der Weiterbildungsstätten und die Qualität der Weiterbildung hätte.

Im Rahmen der Zusatzweiterbildung Spezielle Viszeralchirurgie sind 50 Eingriffe am Kolon sowie 30 Eingriffe am Rektum als Richtzahl gefordert. Zwar ist auch hier formal keine Verknüpfung mit der zugrunde liegenden Diagnose vorhanden. Es ist aber schwer vorstellbar, dass diese Zahlen ohne Karzinomresektionen erreichbar wären. Bei unveränderter WBO wäre daher diese Zusatzweiterbildung nur noch an Zentren möglich, die die Mindestmengvorgaben erfüllen.

Diskussion

Der Zusammenhang zwischen der Frequenz einer erbrachten Leistung und dem Outcome ist nicht nur eine allgemeingültige Erfahrung nach dem Motto „Übung macht den Meister“, sondern längst auch für viele Entitäten des chirurgischen Portfolios statistisch nachgewiesen [4]. Spätestens seit der Erkenntnis, dass Patient:innen in zertifizierten Darmkrebszentren besser behandelt werden [5,6], drängt sich zunehmend die Frage auf, warum in Deutschland nicht, wie beispielsweise in den USA oder den Niederlanden, diesbezügliche Mindestmengen eingeführt werden.

Insofern ist der Beginn des Prozesses durch den G-BA nur folgerichtig und wird wohl kurzfristig in der politischen Entscheidung münden, diese Mindestmenge in Deutschland einzuführen. Nach Ansicht des Verfassers ist es sehr wahrscheinlich, dass diese, ähnlich wie bei Pankreas und Lunge, schrittweise über einen gewissen Zeitkorridor eingeführt werden. Als sehr unwahrscheinlich darf angenommen werden, dass Fragen der chirurgischen Weiterbildung in diesem Kontext mitgedacht werden. Eine deutliche Erschwerung der ärztlich-chirurgischen Aus- und Weiterbildung muss ohne weitere Maßnahmen daher befürchtet werden [7].

Es wird also an uns liegen, die Weiterbildung unter diesen neuen Voraussetzungen zu restrukturieren und zu reorganisieren. Dies ist sicherlich eine Herausforderung, man kann es aber auch als Chance verstehen, denn es darf wohl als unwahrscheinlich angenommen werden, dass in Kliniken, in denen kolorektale Karzinomchirurgie unterhalb der Mindestmenge betrieben wird, eine fundierte und solide onkologisch-chirurgische Weiterbildung am Kolorektum stattfindet.

Die Weiterbildung zum Facharzt für Viszeralchirurgie würde nach Einführung kolorektaler Karzinommindestmengen kurzfristig wenig beeinflusst. Mittel- bis langfristig ist zu befürchten, dass auch die Frequenz von elektiven Kolonresektionen bei benignen Diagnosen in einer Klinik abnimmt, die keine kolorektalen Karzinome mehr operieren darf. Spätestens dann ergäbe sich für diese Kliniken neben dem „Weiterbildungsproblem“ auch ein zunehmendes Personal- und Versorgungsproblem, zumindest in den Flächenländern [8].

Für die Zusatzweitbildung „Spezielle Viszeralchirurgie“ werden sich die größten Veränderungen ergeben. Schon durch die aktuelle Anhebung der Mindestmenge bei Pankreasresektionen wird sie schon 2025 an vielen Kliniken nicht mehr möglich sein, eine Mindestmenge kolorektale Karzinomresektionen verstärkt das Problem.

Mögliche Lösungsansätze könnten beinhalten:

1.Kooperative Kliniknetzwerke mit Ausbildungs- und Versorgungsrotationen.

2.Anpassung der Weiterbildungsordnungen, ggf. Teilschrittkonzeptionen [9].

3.Intensivere Integration von Simulation in die Weiterbildung.

Eine Rotation von Weiterbildungsassistent:innen in das zentrale Krankenhaus mit Gegenrotation von Fachärzt:innen zur Versorgung in die Peripherie wäre in Flächenländern inhaltlich denkbar. Ob solche Netzwerkverbünde vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation vieler Krankenhäuser tatsächlich umsetzbar wären und ob man junge Mitarbeiter:innen mit innovativen Konzepten von solchen Rotationen überzeugen kann, hängt maßgeblich von den weiteren politischen Entscheidungen und insbesondere auch von der Zeitachse ab. Mit ausreichend Zeit und klaren politischen Rahmenbedingungen könnte sicherlich vieles lokal und regional neugestaltet werden.

Eine Anpassung der WBO würde nicht das erste Mal der praktischen Erkenntnis folgen, dass die von Fachgesellschaften geforderten Richtzahlen in realitas nicht erbracht werden können. Letztmalig hat eine solche „Katalogbereinigung“ zur Einführung der Zusatzweiterbildung „Spezielle Viszeralchirurgie“ geführt [4]. Mit zunehmender Einführung von Mindestmengen und ggf. auch Leistungsgruppen im Rahmen der Krankenhausreform wird eine Anpassung unumgänglich sein.

Inwieweit IT/KI/VR unsere Aus- und Weiterbildung zukünftig beeinflussen wird, ist derzeit schwer abschätzbar, Simulatortraining wird aber sicher an Bedeutung zunehmen [10].

Fazit

Die Mindestmenge kolorektale Karzinomresektion wird kommen.

Eine zahlenmäßige Analogie zum DKG-Zertifikat ist wahrscheinlich.

Die Anzahl von Kliniken, die dann diese Eingriffe anbieten dürfen, wird sich deutlich verringern.

Der Einfluss auf die Facharztausbildung Viszeralchirurgie wird zunächst überschaubar bleiben.

Die Zusatzweiterbildung Spezielle Viszeralchirurgie wird nur noch an großen Zentren möglich sein.

Mittelfristig müssen chirurgische Aus- und Weiterbildungen angepasst und reorganisiert werden. Zeitlicher Vorlauf und klare Rahmenbedingungen sind dafür wichtige Voraussetzungen.

Literatur

[1]   Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) Rapid Report V22-02 Im Internet www.iqwig.de

[2]   Persönliche Kommunikation Deutsche Krebsgesellschaft

[3]   Trautmann F, Reißfelder C, Pecqueux M et al. Evidence-based quality standards improve prognosis in colon cancer care. Eur J Surg Oncol 2018:44:1324-1330

[4]   Bauer H Mindestmengen in der Chirurgie-sind wir weit genug? In: Klauber J, Geraedts M, Friedrich J et al. Krankenhausreport 2017: 107-131

[5]   Gemeinsamer Bundesauschuss. WiZen-Studie -Wirksamkeit der Versorgung in onkologischen Zentren. Im Internet https://innovationsfonds.g-ba.de

[6]   Völkel V, Draeger T, Gerken M et al. Langzeitüberleben von Patienten mit Kolon- und Rektumkarzinomen: Ein Vergleich von Darmkrebszentren und nicht zertifizierten Krankenhäusern. Gesundheitswesen 2019; 81: 801-807

[7]   Lang H, Grimminger PP, Meyer H-J Mindestmengenregelung in der Chirurgie aus sich der Fachgesellschaft (DGCH) Chirurg 2022; 93: 342-348

[8]   Kugler CM, Gretschel S, Scharfe J et al. Auswirkungen der neuen Mindestmenge in der Viszeralchirurgie auf die Gesundheitsversorgung in Brandenburg aus der Perspektive der Versorger:innen Chirurgie 2023; 94: 1015-1021

[9]   Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Teilschrittekonzept. Im Internet www.dgav.de

[10] Plum PS, Mehdorn M, Gockel I Kollaboratives VR-Teamtraining ist dem individuellen Lernen für die Durchführung komplexer offener Operationen überlegen. Chirurgie 2024; 95:238-239

Prof. Dr. med. Stephan Timm

Chefarzt der Klinik für Chirurgie

Ärztlicher Direktor

Malteser Krankenhaus
St. Franziskus-Hospital

Waldstraße 17

24939 Flensburg

[email protected]

Timm S: BDC-Praxistest: Mindestmengen in der kolorektalen Chirurgie: Welchen Einfluss hätten sie auf die Weiterbildung? Passion Chirurgie. 2024 Mai; 14(05): Artikel 05_01.

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