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Nicht nur der oft noch sehr raue Ton im Operationssaal hält Studienabgänger:innen davon ab, sich für eine chirurgische Facharztausbildung zu entscheiden, auch die steigende Arbeitsbelastung und -verdichtung mit unzureichender Work-Life-Balance und schlechter Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind wesentliche Faktoren. Mit der stetig steigenden Zahl von Medizinstudentinnen erhöht sich auch die Zahl der chirurgisch tätigen Ärztinnen. Nach Angaben der Bundesärztekammer hat sich die Anzahl der Chirurginnen von 2017 bis 2023 um fast 24 % erhöht [1, 2]. Eine Umfrage des Marburger Bundes 2022 hat gezeigt, dass 2022 mit 31 % mehr als das Doppelte der befragten Ärztinnen und Ärzte in Teilzeit-Modellen tätig sind als noch 2013 (15 %) [3]. Vielleicht ist es auch dem weiblichen Zuwachs geschuldet, dass auch Chirurgen zunehmend über Anpassungen von Arbeitszeiten nachdenken, von ihren Rechten Gebrauch machen und auch der Anteil an Chirurgen in Teilzeit in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Bereits 2021 äußerten in einer durch den BDC durchgeführten Umfrage zur Erhebung der Arbeitsbedingungen 51 % der Chirurgen, dass sie sich durchaus eine (vorübergehende) Reduktion der Arbeitszeit zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie vorstellen könnten [4].

Aufgrund der berufspolitischen Relevanz haben wir uns vom Themenreferat „Familie und berufliche Perspektiven“ entschlossen, die Umfrage von 2021, fokussiert auf Arbeitsbedingungen und psychische Belastungen, zu aktualisieren. Eine Umfrage mit 33 Fragen wurde Anfang dieses Jahres sowohl an die Mitglieder des BDC als auch über die Fachgesellschaften an deren Mitglieder versandt. Aus 2.300 Rückmeldungen konnten 2.221 Antworten in die Auswertung eingeschlossen werden. Auch wenn im Vergleich zur vorherigen Befragung mit 44,6 % mehr Chirurginnen teilgenommen haben, 2021 waren es nur 34,2 %, wird im Folgenden keine Differenzierung zwischen Chirurginnen und Chirurgen vorgenommen, da demografische Angaben und die Wichtung der Beantwortungen ohne geschlechtsspezifische Unterschiede waren.

Besorgniserregend ist, dass im Vergleich zur Umfrage von 2021 mit 57,1 % die Anzahl der Kolleginnen und Kollegen deutlich zugenommen hat, die sich vorstellen können, ihre Profession aufzugeben. 2021 waren es noch 50,7 %. Und das, obwohl eigentlich der Großteil der Befragten (64,28 %) im Wesentlichen mit ihrer beruflichen Tätigkeit zufrieden waren. Beeinflusst wird dieser Fakt vor allem durch die Arbeitsmenge und die (nicht) umgesetzten Arbeitszeitregelungen (Abbildung 1).

Abb. 1: Faktoren und deren Wichtung hinsichtlich der Bedürfnisse

Im Vergleich zu 2021, als mit 72,8 % administrative und bürokratische Tätigkeiten für Unzufriedenheit sorgten, gefolgt von 52,2 % infolge von Überstunden und langen Diensten, hat die Belastung durch nicht chirurgische Tätigkeiten um fast 8,7 % zugenommen, wohingegen die Belastung durch die Arbeits- und Dienstzeiten mit 54,76 % nur geringfügig angestiegen ist. Die Anzahl der Kolleginnen und Kollegen, die eine bis zehn Überstunden wöchentlichen machen, hat sich mit 64,68 % zugunsten derer, die mehr als zehn Überstunden pro Woche absolvieren, mit knapp 4 % erhöht. Hohen Einfluss auf das Belastungsempfinden haben derzeit allerdings die aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklungen und zu erwartenden Strukturveränderungen (Abbildung 2).

Abb. 2: Faktoren und ihre Wichtung im Rahmen beruflicher Belastung

Bei Betrachtung der Belastung durch Dienste hat sich im Vergleich zu vor drei Jahren aufzeigen lassen, dass sich die Anzahl der Dienste, die Chirurginnen und Chirurgen monatlich leisten, etwas reduziert hat. Allerdings ist unklar, ob dies auf eine zunehmende Teilzeittätigkeit zurückzuführen ist, auf eine verbesserte Personalsituation oder auf Umstrukturierungsmaßnahmen (Abbildung 3).

Abb. 3: Belastung durch Dienste

Betrachtet man die Umfrageergebnisse, ist es nicht sonderlich verwunderlich, dass knapp 60 % der Befragten bereits daran gedacht haben, nicht mehr chirurgisch tätig sein zu wollen. Da uns das Umfrageergebnis 2021 schon aufhorchen ließ, wurde die Frage, ob man wieder eine chirurgische Berufslaufbahn einschlagen würde, in diesem Jahr dezidierter gestellt. Beantworteten diese Frage 2021 mit „eher nein“ oder „sicher nein“ 12,4 % waren es aktuell nur 8,46 %. 36,85 % würden es auch „auf jeden Fall“ wieder tun, aber mit 54,7 % waren es mehr als die Hälfte der Befragten, die es sich nur unter anderen Arbeitsbedingungen vorstellen könnten (Diagramm 4). Mit Reduktion bürokratischer und administrativer Aufgaben, Ausgleich von Überstunden durch Freizeit oder Bezahlung durch adäquate Arbeitszeiterfassung, einer an den klinischen Alltag angepassten flexiblen Arbeitszeitgestaltung und Reduktion der Dienstbelastung könnten hier sicherlich die Weichen neu gestellt werden (Abbildung 4).

Abb. 4: Faktoren zur Verbesserung der Zufriedenheit mit Arbeitsbedingungen

Diese Fakten zeigen uns, wo die Probleme liegen, aber sie zeigen auch, wie es besser gehen könnte: Wir brauchen aktives Umdenken in Organisationsstrukturen und auch im kollegialen Miteinander. Ist das neue Zauberwort „New Work“? Und ist dieses Konzept der modernen Arbeitsform im Klinikalltag umsetzbar und wenn ja – wie? Voraussetzung ist eine Transformation der Arbeitsmodelle, für die sich die Klinikleitung nicht nur einsetzen, sondern sie, besser noch, vorleben sollte. Dies verlangt Führung, aber nicht in klassischer pyramidenförmiger Hierarchie, sondern in gelebtem Miteinander. Vertrauens- und Fehlerkultur, Kommunikation und Transparenz sind Grundvoraussetzungen.

Die eine oder andere Chefärztin oder der ein oder andere Chefarzt werden sicher behaupten: „Das geht doch gar nicht.“ „Das kann ich nicht umsetzen.“ „An der Uniklinik funktioniert das schon gar nicht.“ „Wer an „meiner Klinik“ bleiben will, muss schon ein bisschen mehr Einsatz zeigen.“ Aber es gilt, nicht kurzfristig zu denken. Die Kolleginnen und Kollegen, die wir jetzt ausbilden, stellen auch unsere zukünftige chirurgische Versorgung sicher. Berufliche Ansprüche, Anforderungen, Wünsche, Ziele und individuelle Werte haben sich über die Entwicklung der Generationen verändert. Und die meiste Lebenszeit wird immer noch vorrangig am Arbeitsplatz verbracht und ist somit Lebensmittelpunkt. Es gibt bereits Kliniken, die diesen Weg beschreiten. Einer der Vorreiter und sowohl 2023 geehrt mit dem Modern Work Award in der Kategorie „Modern Work Explorer“ als auch jüngst ausgezeichnet mit dem Vordenker-Award des DRG-Forums ist Prof. Dr. Friedrich-Hubertus Schmitz-Winnenthal, Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie des Klinikums Aschaffenburg-Alzenau. Mit „Meine Station“ wurde 2022 ein Pilotprojekt initiiert, das nach dem Zusammenarbeitsmodell der Selbstorganisation funktioniert [5].

Warum sollte es im Zeitalter der Digitalisierung nicht möglich sein, Arztbriefschreiben, Kodierung, Studientätigkeiten und Erfassungen für das Qualitätsmanagement im Homeoffice zu erledigen oder Bürotätigkeiten an nicht chirurgisch tätige Kolleg:innen zu delegieren? Vielleicht würde dann auch manche Mutter und mancher Vater nicht ausfallen, um ggf. das erkrankte Kind zu Hause zu pflegen, und vielleicht würden dann bürokratische Aufgaben als weniger belastend empfunden, da sie nicht zwischen Visite und OP stattfinden müssen? Selbstverständlich bringt unser Beruf Schichtdienst, Bereitschaftsdienst, Wochenenddienste und auch Überstunden mit sich. Aber lässt sich diesem Fakt durch adäquate Erfassung, Vergütung oder Ausgleich nicht auch etwas Positives abgewinnen, wenn man selbst mehr mitgestalten kann?

Natürlich bedarf eine chirurgische Klinik auch der Führung, aber es gibt auch Modelle der Führung, die mehr Mitgestaltung erlauben! Warum sollten Teilzeit- oder Jobsharing-Modelle in Führungspositionen nicht möglich sein? Im respektierten Miteinander und gelebter Kommunikation gehören solche Modelle auf Chefarztebene zwar noch zu den Raritäten, aber es gibt bereits Beispiele, die zeigen, dass sie umsetzbar sind, so an der Klinik für Gefäßchirurgie am Klinikum Kulmbach und in der Adipositas Klinik am Universitätsklinikum OWL.

Zufriedenheit bei Chirurg:innen mit Schaffung lebenswerter Arbeitsbedingungen ist nicht nur Burnout-Prävention, sondern steigert auch die Attraktivität unseres chirurgischen Handwerks und ist vielleicht ein Ansatz, sicherzustellen, dass auch wir im Alter auf Menschen treffen, die ihren Beruf gerne ausführen und gerne für uns da sind. Denn nur, wenn wir die positiven Seiten unseres Berufs zeigen und unsere Begeisterung vorleben, werden unsere Studierenden die Chirurgie wieder als attraktives Fach erleben.


ERWARTEN WIR NICHT, DASS SICH DIE DINGE ÄNDERN, WENN WIR WEITERHIN DASSELBE TUN.“

und


DAS MASS AN INTELLIGENZ ZEIGT SICH IN DER FÄHIGKEIT, SICH ZU VERÄNDERN, WENN ES NOTWENDIG IST.“

Albert Einstein war zwar kein Chirurg, aber Visionär, und warum sollten Chirurg:innen nicht auch Visionäre sein!

Literatur

[1]   Bundesärztekammer. Im Internet: https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aertztestatistik/2017. Stand 29.04.2024
[2]   Bundesärztekammer. Im Internet: https://www.bundesaerztekammer.de/baek/ueber-uns/aertztestatistik/2023. Stand 29.04.2024
[3]   MB-Monitor 2022. Im Internet: https://www.marburger-bund.de/sites/default/files/files/2022-08/3 %20- %20MB_Monitor %202022_Zusammenfassung_Ergebnisse_0.pdf. Stand 29.04.2024
[4]   Fritze-Büttner F, Kunze C, Mille M: Zufriedenheit und Arbeits(zeit)gestaltung von Chirurg: innen in Deutschland – wo stehen wir aktuell? Passion Chirurgie. 2022 Juli/ August; 12(07/08): Artikel 04_02.
[5]   Klinikum Aschaffenburg-Alzenau. Im Internet: https://www.klinikum-ab-alz.de/meine-station. Stand 29.04.2024

Fritze-Büttner F, Kunze C, Blank B, Axt S, Gumpp J: Arbeitszeiten im Wandel? Passion Chirurgie. 2024 Juli/August; 14(07/08): Artikel 03_02.

Autoren des Artikels

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Dr. med. Frauke Fritze-Büttner

Leiterin Themen-Referat Familie & berufliche Perspektiven im BDCLeitende Oberärztin der Klinik für Allgemein- und ViszeralchirurgieSana Klinikum LichtenbergFanningerstr. 3210365Berlin kontaktieren
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Claudia Kunze

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