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Die Notfallmedizin in Deutschland wird in ersten Aufzeichnungen bereits im späten 19. Jahrhundert erwähnt, wobei sich ein organisiertes Rettungswesen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte. Als richtungsweisend gilt der erste Internationale Kongress für das Rettungswesen in Frankfurt am Main im Jahr 1908, bei dem der präklinische Bereich erstmals als eigenständige Sonderwissenschaft anerkannt wurde. In den Nachkriegsjahren wurden Hilfsorganisationen und Feuerwehren mit der Sicherstellung des öffentlichen Rettungswesens beauftragt. Die Geburtsstunde des modernen Notarztsystems ist das Jahr 1957, als in Heidelberg sowohl das „Clinomobil“, ein zu einem mobilen Operationssaal umgebauter Reisebus mit bis zu sieben Ärzten und Pflegekräften, als auch der erste Notarztwagen (NAW) in Köln eingeführt wurden.

Aus dem NAW-Konzept entwickelte sich das aus verschiedenen Gründen effizientere Rendezvous-System, wie wir es heute kennen, mit gleichzeitiger Alarmierung eines Rettungswagens (RTW, eigentlich Rettungstransportwagen) und eines Notarzteinsatzfahrzeuges (NEF).

Der erste Rettungshubschrauber (RTH) wurde im Jahre 1970 unter der Kennung „Christoph 1“ in München in Dienst gestellt, was den Beginn der zivilen Luftrettung in Deutschland markierte. Mittlerweile können Leitstellen zumindest bei Tageslicht deutschlandweit auf über 85 Luftrettungsmittel, welche die schnelle Zuführung des Notarztes/der Notärztin bzw. den schnellen und schonenden Patiententransport ins nächste geeignete Krankenhaus gewährleisten, zurückgreifen. Nachts reduziert sich die Zahl der disponiblen Luftrettungsmittel deutlich. Hier wird man zukünftig zumindest über eine Randzeitenerweiterung nachdenken müssen.

Übrig bleiben witterungsbedingte Einschränkungen (reiner Sichtflug nicht möglich), die mit angestrebter Einführung der Point-in-Space-Navigation, einem hochpräzisen satellitengestützten Hubschrauber-Instrumentenflugverfahren, zukünftig reduziert werden sollen.

Im Mai 2013 wurde durch den Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das Gesetz über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (NotSanG) verabschiedet. Das Gesetz konnte sein beabsichtigtes Potenzial durch Kompetenzerweiterung für Notfallsanitäter in der medizinischen Diagnostik und Therapie aber noch nicht voll entfalten. Hier gilt es, die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter, die sich im Rahmen ihrer Ausbildung Wissen und Fähigkeiten angeeignet haben, die sie anschließend aufgrund föderalistischer Strukturen und Vorgaben nicht zur Anwendung bringen können, weiter zu stärken.

Auch die Anforderungen an die notfallmedizinisch tätigen Ärzte und Ärztinnen wurden in den letzten fünf Jahren deutlich verschärft. Das Fachgebiet der präklinischen Notfallmedizin ist eine Zusatzweiterbildung von Ärzten und Ärztinnen aus Fachrichtungen mit notfallmedizinischem Bezug. In der Notfallmedizin gibt es nicht die eine geeignete Fachrichtung; vielmehr muss das gesamte notfallmedizinische Wissen fachgebietsübergreifend über viele Jahre hinweg erlernt und trainiert werden. Dass es sich dabei um einen fortwährenden und fachgebietsübergreifenden Prozess handelt, ist inzwischen glücklicherweise weitgehend konsentiert.

Genügte es in manchen Regionen Deutschlands bis vor wenigen Jahren noch, auf einem arztbesetzten Rettungsmittel als Hospitant Einsätze im unteren zweitstelligen Bereich zu sammeln, um anschließend „nach Feierabend das bisschen Notfallmedizin“ abzudecken, so sieht sich der Weiterbildungsassistent aus Berlin am Anfang seiner Weiterbildung mit einem Gesamtumfang von 70 Arbeitstagen konfrontiert, bevor er eigenverantwortlich präklinisch praktizieren darf. Notfallmediziner von heute sind Allrounder, sie müssen das gesamte medizinische Spektrum über alle Fachgebiete und Altersgruppen hinweg sicher abdecken, ohne den Anschluss an die Weiterentwicklungen in den jeweiligen Fachgebieten zu verlieren.

Auch ist das professionelle Auftreten in entsprechender persönlicher Schutzausrüstung (PSA) inzwischen die Regel; Einsatzstellen mit Kolleginnen und Kollegen in Birkenstocksandalen und offenem Kittel gehören der Vergangenheit an.

Die überarbeiteten, aber regional noch sehr unterschiedlichen Anforderungen seitens der Landesärztekammern und Rettungsdienstträger werden von Assistenzärzten und -ärztinnen entgegen aller Befürchtungen angenommen und lassen sich auch strukturiert in die jeweiligen Facharztkataloge integrieren.

Was bedeutet die Krankenhausreform für die Notfallmedizin?

Die Krankenhausreform in Deutschland zielt darauf ab, die Behandlungsqualität der medizinischen Versorgung zu verbessern und eine Spezialisierung der Krankenhäuser zu fördern. Direkt werden die (hier im Detail nicht näher beschriebenen) Maßnahmenpakete der Reform zu einer Steigerung der Einsatzmittelbindungszeit der Rettungsmittel und indirekt zu einem Anstieg der Sekundärverlegungen führen:

  • Stärkere Spezialisierung:
    Die Reform sieht eine Einteilung der Krankenhäuser in verschiedene Versorgungsstufen (Level) vor. Dies wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass komplexe Fälle häufiger in spezialisierte Kliniken über weitere Distanzen verlegt werden müssen und mit einem signifikanten Anstieg der Sekundärverlegungen zu rechnen ist.
  • Konzentration von Leistungen:
    Kleinere Krankenhäuser, insbesondere in ländlichen Gebieten, werden aus ökonomischen Zwängen bestimmte Leistungen nicht mehr anbieten und sich zu Klinikverbünden zusammenschließen bzw. Kooperationen anstreben, was die Anzahl der Sekundärtransporte ebenfalls ansteigen lassen wird.
  • Potenzielle Krankenhausschließungen:
    Analysen gehen davon aus, dass aufgrund von Personalmangel und Insolvenz bis zu einem Drittel der Krankenhäuser, vor allem kleinere Häuser, geschlossen oder umgewandelt werden könnten. Aufgrund längerer Transportwege ist mit einem Anstieg der Einsatzzeiten des/der jeweiligen Primärrettungsmittel zu rechnen.
  • Herausforderungen bei Verlegungen:
    Schon jetzt berichten intensivmedizinisch tätige Notärzte und Notärztinnen von steigenden Herausforderungen bei Verlegungen von schwer kranken Patientinnen und Patienten in Kliniken höherer Versorgungsstufen. Dieser Entwicklung dürfte nur mit verpflichtenden Schulungen (mit intensivmedizinischem Schwerpunkt) für Rettungsdienstmitarbeitende, mit Vorhaltung von boden- und luftgebundenen Intensivtransportressourcen und mit einheitlichen Vorgaben zum Verfahren bei Verlegungen mit Spezialteams (z.B. Verlegung von pädiatrischen Patienten oder Anwendung extrakorporaler Verfahren) zu begegnen sein.

Die tatsächliche, durch die Krankenhausreform bedingte Zunahme der Einsatzmittelbindungszeit bei Primär- und Sekundäreinsätzen sowie der Anstieg der Anzahl bei den Interhospitalverlegungen bleibt abzuwarten und wird von der konkreten Umsetzung der Reform und den regionalen Gegebenheiten abhängen.

Seit einiger Zeit finden sich in den Medien und sozialen Netzwerken ausführliche Berichte und Beiträge, die eindringlich auf Missstände in der Notfallmedizin hinweisen. Es werden Vergleiche zu Rettungsdienststrukturen im Ausland gezogen und dabei aber oft außer Acht gelassen, dass es sich dabei meist nur um erfolgreiche Teilaspekte eines ebenfalls überforderten Gesundheitssystems handelt. Teilerfolge einzelner Leuchtturmprojekte oder Spezialrettungsmittel sollten anerkannt und sorgfältig auf Überführungsmöglichkeit ins deutsche Rettungsdienstsystem überprüft werden.

Wie lässt sich die notfallmedizinische Versorgung in Deutschland verbessern?

Der Rettungsdienst steht aufgrund der Bekanntheit der 112 als letzte Versorgungsinstanz jederzeit zur Verfügung und muss oft auch für Probleme herhalten, die wesentlich ressourcenschonender gelöst werden könnten.

Die notfallmedizinische Versorgung in Deutschland lässt sich durch verschiedene Maßnahmen verbessern, dazu zählen die Stärkung des Notfallsanitäters, der Ausbau der Digitalisierung, Laienreanimationsschulungen der Bevölkerung und Einführung des Telenotarztes. Die folgenden Punkte lassen sich nicht alle gleichzeitig umsetzen und benötigen Zeit, bevor sie ihre Wirkung messbar entfalten können:

  • Zielsetzungen der Digitalisierung in der Notfallmedizin waren die Verkürzung der Einsatzzeit durch Entbürokratisierung und mehr Zeit für Empathie und medizinische Maßnahmen am Patienten. Das Potenzial der Digitalisierung und Harmonisierung von Schnittstellen über alle Sektoren unseres Gesundheitssystems hinweg bleibt bisher weitgehend ungenutzt. Der Datenfluss an den Schnittstellen ist leider noch immer von Kommunikationsbrüchen und Informationsverlust geprägt, gerade im präklinischen Setting. Das führt in Zeiten von Personal- und Ressourcenverknappung zu vermehrtem Dokumentationsaufwand. Zeit, die wir sinnvoller nutzen könnten.
  • Bundeseinheitliche Vorgaben zu Mindeststandards in der notfallmedizinischen Versorgung und Einhaltung von Hilfsfristen sind längst überfällig. Hier wird insbesondere in ländlichen Regionen über den Ausbau der Luftrettung zu diskutieren sein.
  • Datenerhebung und -auswertung sowie die verpflichtende Teilnahme am Deutschen Reanimationsregister im Sinne eines Qualitätsmanagements sind Voraussetzungen für eine strukturierte Fehleranalyse.
  • Die Rolle von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern muss wie oberen Teil des Artikels beschrieben weiter gestärkt werden.
  • Das bisher unvollständig genutzte Potenzial von Notfallsanitätern könnte die Effizienz und Reaktionsfähigkeit des Rettungsdienstes erhöhen und die arztbesetzten Rettungsmittel entlasten.
  • Die umfassende Ausbildung der Bevölkerung in Reanimationstechniken (BLS) würde die Überlebenschancen bei Herz-Kreislauf-Stillständen erheblich verbessern. Es gilt, das therapiefreie Intervall bis zum Eintreffen der Rettungskräfte zu überbrücken. Die Teilnahme an Erste-Hilfe-Kursen und Reanimationsschulungen sollte in Schulen, Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen, wie von den Fachgesellschaften gefordert, obligatorisch werden. Dies würde nicht nur die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung erhöhen, sondern auch die Bereitschaft, in Notfällen zu helfen, signifikant steigern. Der internationale Vergleich zeigt, dass wir beim Thema Laienreanimation erheblichen Nachholbedarf haben.
  • Der Ausbau der Vernetzung von KV-Notdiensten und Rettungsdienst mit individueller Patientensteuerung wird in einigen Bundesländern bereits vorangetrieben. Das Ergebnis einer standardisierten Notrufabfrage entscheidet, ob und welche Ressourcen alarmiert werden. Die Optionen sind vielfältig und reichen von der Terminvereinbarung beim niedergelassenen Arzt über die telefonische Beratung bis hin zur Konsultation eines Gemeindenotfallsanitäters. Die Alarmierung von Rettungsmitteln stellt die höchste Eskalationsstufe dar.
  • Systeme der standardisierten Notrufabfrage werden durch einen Großteil der Leitstellen bereits angewandt. Die vorhandenen Abfragesysteme sind jedoch weder selbstlernend noch fehlerfrei und müssen mittels Code Reviews fortlaufend überprüft und angepasst werden. Die Auswertung einzelner Notrufabfragen und Identifizierung von Einsatzcodes, bei denen die Disponierung angepasst werden muss, ist sehr zeitintensiv.
  • Um weitere Aufklärungskampagnen der Bevölkerung wird man nicht herumkommen. Selbst wenn wir anerkennen müssen, dass der Notfall immer subjektiv ist, es für die Alarmierung der 112 multiple Ursachen gibt, so gibt es sicherlich Einsätze, die auch mit viel Wohlwollen nicht dem Rettungsdienst zuzuordnen sind. Auch wenn teure Aufklärungskampagnen in der Vergangenheit nicht zum gewünschten Ergebnis geführt und teilweise nachweislich das Gegenteil bewirkt haben, führt auch zukünftig kein Weg an präventiven Maßnahmen zum Schutz des Systems vorbei.
  • Der Einsatz von Telenotärzten führt nachweislich zur Ressourcenschonung arztbesetzter Rettungsmittel und einer Erhöhung der Leitlinienadhärenz vor Ort befindlicher Einsatzkräfte. Telenotärzte können über digitale Plattformen und telemedizinische Geräte in Echtzeit Anweisungen an Rettungskräfte vor Ort geben. Dies ermöglicht eine schnellere und oft lebensrettende medizinische Versorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten oder bei komplexen Notfällen, in denen ein Notarzt nicht sofort verfügbar ist. Die digitale Vernetzung aller an der Notfallversorgung beteiligten Institutionen ist hierbei von zentraler Bedeutung. Für das Hinzuziehen eines Telenotarztes bestehen derzeit hauptsächlich die drei folgenden Indikationen:
  • Entscheidungsfindung/rechtl. Absicherung für RTW vor Ort
  • Zeitliche Überbrückung bis zum Eintreffen NEF/RTH
  • Telemedizinische Überwachung nicht komplexer Verlegungstransporte

Die Reform des Rettungsdienstes in Deutschland erfordert eine ganzheitliche Herangehensweise, die sowohl die Stärkung des Personals als auch die Integration moderner Technologien umfasst. Einheitliche Qualitätsstandards, eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern sowie die Digitalisierung sind entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche Umsetzung.

Inzwischen ist alles gesagt – wir wissen, was zu tun ist, an welchen Schrauben wir nachjustieren müssen. Packen wir es gemeinsam an!

Ich freue mich auf Ihre Kommentare.

Ihr Konrad von Kottwitz

Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf die Verwendung geschlechtsspezifischer Sprachformen verzichtet. Entsprechende Bezeichnungen sollen stets für alle Geschlechtsidentitäten gelten.

Konrad von Kottwitz

Leitender Arzt Zentrum für präklinische Notfallmedizin

BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin gGmbH

Warener Str. 7

12683 Berlin

[email protected]

Chirurgie

Von Kottwitz K: Notfallmedizin in Deutschland. Passion Chirurgie. 2024 September; 14(09/III): Artikel 03_01.

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