Unser ehemaliger Vizepräsident (2003-2012) Prof. Dr. med. Tilman Mischkowsky berichtet über sein Engagement in der Flüchtlingsrettung vor der Küste Libyens.
Die Zahl der Flüchtlinge, die den lebensgefährlichen Weg von Libyen über das Mittelmeer nach Europa suchen hat in den letzten zwei Jahren dramatisch zugenommen. Damit ist auch die Zahl der Ertrunkenen noch einmal deutlich angestiegen. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat schätzt die Zahl der Toten im Jahr 2015 auf 4000 Menschen, in 2016 ist die Zahl deutlich höher – genauere Zahlen fehlen jedoch noch. Es ist, so viel ist sicher, ein Riesendrama ohne erkennbares Ende.
Ein Freundeskreis von Seglern um den Regensburger Micheal Buschheuer hat sich im Spätsommer 2015 entschlossen, dem Sterben im Mittelmeer nicht weiter tatenlos zuzusehen, sondern sich aktiv an der Seenotrettung vor der libyschen Küste zu beteiligen. Sie gründeten den Verein Sea-Eye e.V. und kauften ein Schiff, einen ehemaligen, bereits ausgemusterten Hochseefischkutter. Sie bauten ihn mit großem Aufwand und sehr viel Eigenleistung zu einem seetauglichen Seenotrettungsschiff um. Es wurde auf den Namen Sea-Eye getauft. Nach Fertigstellung wurde das Schiff in einer vier Wochen währenden Reise von wechselnden Crews durch den Ärmelkanal, durch die Biskaya, Gibraltar bis nach Sizilien gebracht. Ich selbst war bei der Überführung von Brest bis Málaga an Bord und erlebte in der Biskaya einen der berüchtigten Frühjahrsstürme mit bis zu zehn Windstärken. Das war auch für einen erfahrenen Segler ein erstmaliges, sehr, sehr eindrucksvolles Erlebnis. Von Licata auf Sizilien unternahmen wir dann erste Trainingsfahrten, um Rettungseinsätze und den Umgang mit unseren Rettungsmitteln zu üben. Das Schiff verfügt über zahlreiche Rettungsinseln, über 700 Rettungswesten, über 1000 Liter Mineralwasser in kleinen Einheiten, ausreichend Sonnenschutz und eine gute medizinische Ausrüstung. Es gibt einen kleinen Notfallraum, in dem das gesamte Spektrum notfallmedizinischer Versorgung angeboten wird. Nach erfolgreicher Einsatzerprobung begannen dann im Mai die ersten echten Rettungseinsätze.
Die Crews bestehen aus jeweils acht ehrenamtlichen Helfern, unter Leitung eines hochseeerfahrenen Skippers. Ein Großteil der gemischten Besatzung sind erfahrene Segler, es ist nahezu immer ein Arzt oder ein medizinisch qualifizierter Helfer an Bord. Die Kosten für die Anreise und deren übrige Kosten werden von den Mitgliedern selbst getragen, sie opfern dafür neben Geld ihren Urlaub und ihre Freizeit. Die wesentlichen Kosten für den Verein entstehen durch Rettungsmittel und Treibstoff unseres Schiffes, aber auch dessen Reparaturen. Die Sea-Eye ist seit Beginn der Einsätze in Malta stationiert, dort erfolgt auch der 14-tägige Wechsel der Crews. Im eigentlichen SAR-Gebiet (Search and Rescue) agieren noch mehrere ähnliche Schiffe von anderen Nichtregierungsorganisation (NGO) wie Ärzte ohne Grenzen (MSF), Sea-Watch, Jugend rettet, MOAS u.a., diese kooperieren inzwischen hervorragend. Der gesamte SAR-Rettungseinsatz wird von dem zentralen Maritim Rescue Coordination Center (MRCC) in Rom koordiniert und unterstützt. Dazu gehört auch die in hohem Maße aktive und nützliche italienische Küstenwache.
Die Aufgabe unseres Schiffes ist nicht primär die Aufnahme von Flüchtlingen. Die Sea-Eye ist nur 26 Meter lang und für die Aufnahme von Flüchtlingen damit, von Ausnahmen abgesehen, ungeeignet. Es werden nur Flüchtlinge aufgenommen, die sich in einer primär lebensbedrohlichen Situation befinden und daher unmittelbarer, nicht aufschiebbarer Hilfe bedürfen. Die Hauptaufgabe der Sea-Eye besteht darin, nach bedrohten oder sinkenden Schiffen Ausschau zu halten und sie zu finden, oder diese anzulaufen, wenn sie dafür die Koordinaten von MRCC bekommt. Diese können von der Luftaufklärung oder von anderen im Zielgebiet operierenden Schiffen stammen. Wenn ein solches Flüchtlingsboot angelaufen ist, wird Erstkontakt über ein schnelles Schlauchboot hergestellt, um die Lage zuverlässig einschätzen zu können. Diese Flüchtlingsboote sind fast immer hoffnungslos überfüllt, seeuntüchtig, sehr häufig bereits leck, sie haben oft keinen Treibstoff mehr und sind akut in Seenot. Die Überlebenschancen ohne externe Hilfe sind äußerst gering. Es werden an die Flüchtlinge Rettungswesten verteilt, gegebenenfalls Trinkwasser und Sonnenschutz zur Verfügung gestellt. Zuvor wurde ein SOS-Ruf mit den aktuellen Koordinaten abgesetzt. Befindet sich das Flüchtlingsboot in akuter Sinkgefahr, werden die Flüchtlinge auf bereitgestellte Rettungsinseln übernommen. Dort wird die Überlebenssicherung fortgesetzt bis ein größeres Schiff, zum Beispiel der Italienischen Küstenwache oder anderer NGOs (es kann durchaus aber auch ein Kriegsschiff sein), diese Flüchtlinge übernimmt und dann definitiv weiter versorgt.
Wir, aber auch andere NGOs, waren – bedingt durch das riesige Zielgebiet (etwa so groß wie die Nordsee) und die geringe Geschwindigkeit unserer Schiffe – sind wiederholt nicht rechtzeitig bei einem sinkenden Flüchtlingsboot eingetroffen, sodass wir keine Lebenden retten konnten. Der Verein Sea-Eye hat sich daher entschlossen, ein zweites Schiff zu erwerben, das eine ideale Ergänzung zu unserer Sea-Eye sein soll. Es ist ein kleines, sehr schnelles – Speedy getauftes – Schnellboot, das bei Bedarf mit einer Höchstgeschwindigkeit von bis zu 80 km/h noch Flüchtlingsboote erreichen kann, die von den anderen Schiffen nicht mehr rechtzeitig erreicht werden können. Das Schiff wurde in England erworben und teils über Wasser, teils über Land nach Sizilien gebracht. Dann haben wir das Schiff zu zweit quer übers Mittelmeer in einer ziemlich abenteuerlichen Überfahrt nach Tunesien überführt. Es hat, bedingt durch seine geringe Größe, nur sehr viel weniger Rettungsmittel als die Sea-Eye an Bord (etwa 300 Rettungswesten) und verfügt auch über keine ernstzunehmende medizinische Ausstattung. Das Leben an Bord ist extrem spartanisch – von auch nur minimalem Komfort kann keine Rede sein.
Bei schlechtem Wetter, wenn also keine Flüchtlinge zu erwarten sind, bleibt das Schiff im Hafen. Wenn Flüchtlingsboote erwartet oder gemeldet werden, sprintet Speedy in das Zentrum des Einsatzgebietes, um sich mit seiner Schnelligkeit an der Rettung von Flüchtlingen zu beteiligen. Ich war dort selbst kürzlich für drei Wochen im Einsatz.
Unsere Organisation hat seit Beginn im Mai über 4000 Flüchtlinge gerettet. Das geschieht häufig allein, oft aber auch im Verband und in Kooperation mit anderen Helfergruppen. Die Kooperation zwischen den NGOs ist makellos und erhöht die Effektivität der Seenotrettung ganz erheblich.
Die Kosten für unsere Rettungseinsätze sind erheblich, wir rechnen mit etwa 1000 € pro Tag, im Wesentlichen für Rettungsmittel und Dieselkraftstoff. Diese Summen kann der Verein, trotz enormen – auch wirtschaftlichen – Engagements von mehreren Mitgliedern, nicht allein stemmen. Öffentliche Gelder stehen nicht zur Verfügung, sodass wir dringend auf Spenden angewiesen sind.
Wenn Spendenbereitschaft besteht, kann man das über die Internetseite www.Sea-Eye.org veranlassen oder sich direkt an den Autor dieses Berichtes unter [email protected] wenden.