01.11.2024 Panorama
Kader entschieden alles! Zu Berufungen auf chirurgische Lehrstühle in der jungen DDR
Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 7. und 8. Mai 1945 begann die sowjetische Militäradministration (SMAD) in ihrem Machtbereich mit der rigorosen Umgestaltung des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Diese „Sowjetisierung“ betraf auch das Gesundheits- und Hochschulwesen, z. B. die SMAD-Befehle zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens, zur Abschaffung des privaten Sektors und zum Aufbau einer „sozialistischen Wissenschaft“. Hier kommt nun die alles entscheidende Personalpolitik der neuen Machthaber ins Spiel, die gemäß der Stalinschen Vorgabe Nachwuchs-Führungskräfte, also Kader, heranziehen musste, welche die politische Linie in der Praxis durchzusetzen hatten.
Das Dilemma konnte größer nicht sein: Fast drei Viertel der medizinischen Hochschullehrer waren bis 1945 Mitglieder der NSDAP gewesen. Um den Lehrbetrieb und die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten, war es nicht möglich, alle „reaktionären“ Dozenten und Professoren zu entlassen, so gern man das nach Stalinscher Doktrin auch gewollt hätte. Dabei wurde offen zugegeben, die alten bürgerlichen Wissenschaftler so lange „auszunutzen“, bis eine neue, marxistisch-leninistisch geschulte Generation herangewachsen und zur Übernahme höchster Ämter befähigt war. Wie sehr die Universitäten und mit ihnen die chirurgischen Ordinariate auf die Hilfe der Parteigänger des alten Systems angewiesen waren, zeigen die folgenden Beispiele.
In Greifswald harrte das seit 1949 habilitierte SED-Mitglied Doz. Walter Schmitt jahrelang seiner Berufung. Schmitt selbst sah die Medizinische Fakultät als Trutzburg zur Verhinderung junger Kader. Tatsache ist, dass selbstbewusste Alt-Ordinarien sich mit erstaunlicher Zähigkeit gegen parteigesteuerte Berufungen wehrten. Dazu muss man wissen, dass oft von dem klassischen Berufungsverfahren nach a primo, secundo und tertio loco abgewichen wurde und der Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik im Zentralkomitee (ZK) der SED in Berlin bestimmte, welche Person welchen Lehrstuhl erhielt. Die Allgewaltigen hießen in den ersten Jahren Hans Horst, Hugo Graf und Fritz Schellhorn. Dem Autor ist aus eigenem Erleben der Langzeit-ZK-Sekretär Werner Hering ein Begriff. Walter Schmitt wurde erst 1953 und nach mehrfachen Chef-Vertretungen Professor in Greifswald und dann 1957 auf den Rostocker Lehrstuhl berufen. Die Ordinariate in Greifswald und Rostock hatten zuvor ehemalige NSDAP-Mitglieder wie Volkmann, Lehmann und Karitzky inne. Schmitt machte in Rostock eine beachtliche, fast zwanzigjährige Karriere, in der er sich nach eigenen Worten aber nie seiner SED-Zugehörigkeit bediente, um Vorteile zu erlangen. Er hat – wie viele andere – die Partei „als notwendiges Übel“ betrachtet.
In Halle fieberte Genosse Hans-Joachim Serfling auf einen Lehrstuhl. Sein Chef Werner Budde wiederum war als Nazigegner und ohne SED-Parteibuch 1946 Ordinarius geworden. Serfling hatte es 1952 geschafft und wurde Ordinarius in Greifswald, bevor er 1962 als Kader ersten Ranges die Nachfolge von Willi Felix, der weder Nazi noch Sozi war, in der Sauerbruchschen Klinik der Charité in Berlin antrat. Auch wenn das Zentralorgan der SED, das „Neue Deutschland“, dem Genossen Professor 1983 zu seinem 70. Geburtstag gratulierte und ihm für „seinen bedeutenden Beitrag zur Erziehung, Aus- und Weiterbildung sozialistischer Ärztepersönlichkeiten“ dankte, so hat sich doch Serfling parteipolitisch kaum exponiert. Zusammen mit seinen Kollegen in Halle und Rostock hat er das DDR-Lehrbuch „Spezielle Chirurgie“, den „Serfling-Schober-Schmitt“, herausgegeben, vergleichbar dem westdeutschen „Hellner-Nissen-Vossschulte“.
Abb. 1: Plakat 1935 von Gustav Glucis
Abb. 2: Walter Schmitt
Abb. 3: Johannes Karl Lehmann (Wikipedia)
Abb. 4: Werner Budde
Abb. 5: Willi Felix (Wikipedia)
Die Verhältnisse an der renommierten Leipziger Chirurgischen Universitätsklinik, an der Thiersch, Trendelenburg und Payr gewirkt hatten, waren nach dem Zusammenbruch besonders kritisch. Nachdem der auf atypische Weise 1937 von Berlin aus berufene Pg Wilhelm Rieder 1945 nicht ganz freiwillig Leipzig gen Bremen verlassen hatte, supplierten einige Herren mit und ohne SED-Parteibuch sowie zuletzt der integre, fast siebzigjährige Ernst Heller vom St. Georg die Klinik, bevor mit Herbert Uebermuth zwar ein ehemaliges, rasch als Mitläufer eingestuftes NSDAP-Mitglied Ordinarius wurde und eine neue Leipziger Chirurgenschule begründen konnte (Kuntzen, Becker, Wehner, Wolff, Reichmann, Gläser).
In das Schema der Reaktivierung von NS-belasteten Hochschullehrern passte auch der Fall Nicolai Guleke in Jena. Dieser, gewesenes NSDAP- und SS-Mitglied, war 1945 nur kurz suspendiert und bald wieder ins Amt eingesetzt worden. Nach Rudolf Nissens Ansicht gehörte Guleke neben wenigen anderen zu den führenden Chirurgen in Deutschland, die „versuchten den Einfluss des Nazismus zu reduzieren“. All jene Vertreter der älteren Generation standen ständig „zwischen Systemtreue, Loyalität und Distanz“ (Jessen), wobei bis zum Mauerbau 1961 die SED-Politik von Privilegierung und Disziplinierung beitrug („Zuckerbrot und Peitsche“!).
Nicht zu vergessen sind die 1954 gegründeten Medizinischen Akademien in Erfurt, Dresden und Magdeburg, die durch den aufgrund von Krieg und Flucht in den Westen entstandenen Ärztemangel notwendig geworden waren. Sie hatten die gleichen Rechte wie die Medizinischen Fakultäten der auf dem Gebiet der SBZ/DDR verbliebenen sechs Universitäten. In Erfurt wurde Prof. Egbert Schwarz sowohl Gründungsrektor der Hochschule als auch erster Ordinarius für Chirurgie. Was über ihn, der NSDAP- und SS-Mitglied gewesen war, ohne Schuld auf sich geladen zu haben, anlässlich seiner Wiederbeschäftigung nach dem Entnazifizierungsverfahren in den Ministerialakten zu lesen ist, hatte volle Gültigkeit auch für ähnlich gelagerte Fälle: „Er ist … ein Spezialist von besonderem Fachkönnen, der z. Zt. durch keinen gleichwertigen Nachfolger ersetzt werden kann. Ich bitte daher Herrn Prof. Dr. Schwarz als Spezialisten anzuerkennen und seiner Weiterbeschäftigung in der bisherigen Stellung [das war die des Direktors der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Erfurt, d. V.] ausnahmsweise zuzustimmen“. Was auch geschah und Schwarz in die Lage versetzte, eine den Universitäten nicht nachstehende Klinik mit einer „Erfurter Schule“ (Rodeck, Paschold, Usbeck, Reichelt, Gottschalk) zu entwickeln. Ein Parteibuch hat er nicht wieder in die Hand genommen.
Weniger ideologisch als pragmatisch gingen die Genossen auch in Dresden vor, als der deutschlandweit angesehene Albert Fromme Mitbegründer und erster Rektor der neuen Medizinischen Akademie „Carl Gustav Carus“ wurde; auch die Namensgebung setzte er gegen in Vorschlag gebrachte Politikernamen durch. Der dem Nationalsozialismus gegenüber mehr als kritisch eingestellte Fromme erhielt zudem den ersten Lehrstuhl für Chirurgie. Ein zweites, später alleiniges Ordinariat übernahm der Greifswalder Dozent Hans Bernhard Sprung, 1951 zum Professor berufen, ein ganz der Liebe zu seiner schwer zerstörten Heimatstadt verpflichteter und politisch unbescholtener Mann aus dem Bürgertum. Alle seine Nachfolger gehörten der SED an.
Auch Werner Lembcke, seit 1952 Professor der Chirurgie in Rostock und 1954 auf den Lehrstuhl an der Medizinischen Akademie Magdeburg berufen, verziehen die Machthaber seine (nominelle) NSDAP-Mitgliedschaft. Auch er wurde dringend gebraucht. Natürlich hatten die Berliner Herren ihr Ziel, eigene Kader zu schaffen und mit ihnen eine neue, der Partei treu ergebene Bildungselite zu schaffen, nicht aufgegeben. Dabei genügte es nicht, ein sehr guter Chirurg zu sein, sondern es wurde ein klares Bekenntnis zu Partei, Staat und Regierung erwartet.
Abb. 6: Nicolai Guleke (Wikipedia)
Abb. 7: Egbert Schwarz
Abb. 8: Albert Fromme
Abb. 9: Hans Bernhard Sprung (Wikipedia)
Es sollte jedoch noch Jahrzehnte dauern, bevor auf den chirurgischen Lehrstühlen der DDR ausnahmslos SED-Genossen saßen, wobei der Mauerbau und die totale Abschottung des Landes nach 1961 die wesentliche Zäsur bedeuteten, die Berlin die Daumenschrauben gegen die „Bürgerlichen“ noch mehr anziehen ließ. Halle bildete da die große Ausnahme, zu Anfang auch noch Jena und Leipzig. Das chirurgische Ordinariat der Martin-Luther-Universität in Halle/Wittenberg bekleideten von Budde und Mörl über Schober bis zu Reichmann und Gläser nur Nicht-Genossen. Je weiter die „Ursurpierung akademischer Freiheit“ (Heydemann) im Arbeiter- und Bauernstaat fortschritt, desto mehr näherte sich die DDR ihrem Ende. So wurden mit der III. Hochschulreform (1967–1971) die Fakultäten abgeschafft und neue akademische Grade (nach sowjetischem Muster) eingeführt.
Abb. 10: Werner Lembcke
Abb. 3: Franz Mörl
Was die hier geschilderten Anfangsjahre betrifft, so zeigte sich einmal mehr das gespaltene Verhältnis der Kommunisten zu den Intellektuellen. Ein „Sturm auf die Bastionen bürgerlicher Wissenschaft“, wie sie so manchem Funktionär vorschwebte, war durch die harten Fakten nicht möglich, zu groß waren die Widerstände der traditionsbewussten Hochschullehrer, zu unentbehrlich deren Einsatz in Forschung, Lehre und medizinischer Versorgung.
Begriffe wie Kaderpolitik, Kaderleiter, Kaderakte oder Reisekader sind inzwischen Geschichte.
Volker Klimpel |
Klimpel V: Kader entschieden alles! Zu Berufungen auf chirurgische Lehrstühle in der jungen DDR. Passion Chirurgie. 2024 November; 14(11): Artikel 09.
Autor des Artikels
Dr. med. habil. Volker Klimpel
Grazer Straße 301279DresdenWeitere Artikel zum Thema
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Der Arztberuf besitzt in Deutschland wegen der ständig gestiegenen Arbeitsbelastung nicht mehr die Attraktivität wie noch vor 10 oder 20 Jahren [10]. Eine wachsende Zahl von jungen Ärzten sucht nach Alternativen im nichtkurativen Bereich [7,12,14,16,22,28]. 2001 waren in den USA erstmals Weiterbildungsplätze in der Chirurgie unbesetzt [8], ein Problem, das wir in Deutschland schon länger kennen. Im Dezember 2002 gab es nach einer Umfrage des BDC in 28 % der chirurgischen Kliniken unbesetzte Assistentenstellen (interne Umfrage BDC).
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