Ein Interview mit Univ.-Prof. Dr. Hermann Josef Bail, Leiter der Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Nürnberg, anlässlich des 3. Nürnberger Wundkongresses 2020. Das interview führte Anja Blankenburg.
Anja Blankenburg: Prof. Bail, als Fachmann für Orthopädie und Unfallchirurgie legen Sie das Augenmerk auf postoperative und posttraumatische Wundinfekte. Ein unbequemes Thema …
Prof. Hermann Bail: Ein wichtiges Thema. Diese Infektionen stellen ein großes Problem in den Kliniken dar, das selten so zugegeben wird. Schließlich sind es häufig sogenannte Komplikationen, über die niemand gern spricht. Wer aber behauptet, keine zu haben, der sagt schlicht nicht die Wahrheit. Wir sollten darüber reden.
AB: Welche Dimension hat das Problem?
HB: Da müssen wir unterscheiden zwischen den elektiven, also planbaren Eingriffen und zum Beispiel offenen Frakturen. Von den Patienten mit offenen Frakturen erleiden im Durchschnitt etwa zehn Prozent eine Infektion. Im Bereich des elektiven Gelenkersatzes sind es unter einem Prozent. Das klingt nicht viel. Wenn man aber bedenkt, dass im Jahr mehr als 450.000 Hüft- und Knieprothesen eingesetzt werden, sind das 4.500 Patienten. Es werden von Jahr zu Jahr mehr künstliche Gelenke implantiert. Es werden auch mehr und mehr Revisionen durchgeführt, also Prothesen aufgrund von Verschleiß oder infolge von Komplikationen gewechselt. Bei den Revisionen steigt die Komplikationsrate – vor allem die der Infektionen – um das Fünffache.
AB: Stehen beim „Wuko“ nicht chronische Wunden im Mittelpunkt?
HB: Ich meine, dass man bei postoperativen Wundinfektionen viel von der Behandlung chronischer Wunden lernen kann. Auch können postoperative Wunden chronisch werden. Es gibt gewisse Pfeiler der Herangehensweise, dazu gehört die Verbesserung der Perfusion, also der Durchblutung, dazu gehört auch die passende Antibiose. Wir haben Spezialisten eingeladen für Knochen- und Weichteilinfektionen, für Septische und Rekonstruktive Chirurgie, die sich mit postoperativen Wunden beispielsweise nach Endoprothetik oder nach Verletzungen intensiv beschäftigen und von denen wir einiges lernen werden, was heute im Fokus steht bei der Behandlung solcher Komplikationen, was Standard ist oder sein sollte.
AB: Gibt es denn unterschiedliche Herangehensweisen bei infizierten Wunden?
HB: Aber ja! Eine vieldiskutierte Frage betrifft die Antibiose: Soll man auf Erreger-Verdacht unter Abwägung der Chancen und möglichen Nebenwirkungen eine ungezielte, kalkulierte Antibiose beginnen? Oder besser auf die Befunde warten, also den Erreger identifizieren und sich mit den Mikrobiologen abstimmen? Letzteres ist wahrscheinlich der effektivere Weg. Andererseits darf man keine Zeit verlieren. Eine andere Frage ist: Was ist der beste Weg zur Verbesserung der Perfusion? Braucht man bei jedem Patienten eine Angiografie? Manches wird von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich gehandhabt.
AB: Warum ist das ein Problem?
HB: Wenn man weiß, dass lediglich 15 Prozent der Kliniken eine Abteilung für muskuloskeletale septische Chirurgie vorhalten, weiß man auch, dass die Wundbehandlung nicht überall im Fokus steht. Es wird generell zu wenig operiert, zu wenig debridiert. Der Ansatz für Wundinfekte ist immer ein interdisziplinärer, radikaler. Kliniken, die sich damit kaum befassen, denen fehlt es wahrscheinlich auch an klaren Konzepten. Oft steht das Thema postoperative Infektion in der Schmuddelecke. Darum ist es wichtig, zu informieren und zu diskutieren, wie wir auf Stand des Wissens vorgehen.
AB: Ein Problem im Zusammenhang mit der Antibiose ist die Resistenzentwicklung. Spielt sie eine Rolle beim Kongress?
HB: Das ist ein Riesenproblem. Wir brauchen dringend neue Konzepte und danach wird auch ständig geforscht. Ein Ansatz, mit dem wir uns beim diesjährigen Kongress unter anderem befassen, ist die hyperbare Oxygenierung. Das Verfahren stammt aus der Tauchmedizin und wird schon länger auch unterstützend in der Behandlung von chronischen und infizierten Wunden eingesetzt, um zusätzlich die Sauerstoffversorgung im Gewebe zu verbessern. Wir werden aber auch einige bisher experimentelle Konzepte sehen, die das Potenzial hätten, eines Tages Standard zu werden.
AB: Zum Beispiel?
HB: En vogue ist das Thema Bakteriophagen. Das sind Viren, die hochspezialisiert bestimmte Bakterienarten für die eigene Reproduktion befallen und die Keime dabei zerstören. Die Anfänge dieser Therapie liegen bereits mehr als 100 Jahre zurück, blieben aber mit der Entdeckung wirksamer Antibiotika auf der Strecke. Nur in Russland und Osteuropa nutzt man Bakteriophagen bis heute. Im Westen hat die Forschung jedoch mit dem Vormarsch multiresistenter Keime wieder Fahrt aufgenommen. Wir werden von einem Kollegen der Medizinischen Hochschule Hannover hören, welche Erfahrungen man dort mit dem Einsatz von Bakteriophagen bei therapieresistenten chronisch infizierten Wunden hat. Auch auf dem Gebiet der Gentherapie gibt es interessante Forschung.
AB: … zum Beispiel neuartige, biologische Wundauflagen, die aus dem Blut des Patienten hergestellt werden.
HB: Ich habe mit Forschungsthemen dieser Art leider selbst kaum zu tun. Umso mehr bin ich darauf gespannt, was die Kollegen uns präsentieren werden.
AB: Gibt es weitere Themen, von denen Sie sich viel versprechen?
HB: Das Thema Ernährung und Wundheilung! Weil ich sicher bin, dass da viel gehoben werden kann, was noch unbekannt ist. Stichwort Mikronährstoffe. Stichwort Ernährung im Alter. Der gesamtgesellschaftliche Trend zur gesunden Ernährung, den wir heute sehen, ist sicher gut. Leider muss man sagen, dass Wundprobleme oft bei sozial Schwächeren auftreten. Bis hin zu den Obdachlosen, wo fast jeder eine chronische Wunde hat. Auch für diese Bevölkerungsgruppen sollte eine gesunde Ernährung möglich sein. Das ist natürlich auch eine soziale Problematik. Aber zuerst müssen wir den Einfluss der Nahrung auf die Wundheilung wissenschaftlich festklopfen.
AB: Prof. Bail, Ihr persönlicher Beitrag zum Thema Infektionsvermeidung lautet „Hygiene im OP – jeder ist verantwortlich“. Das klingt so selbstverständlich …
HB: Ist es nicht. Allein für den Chirurgen gibt es eine Reihe von Geboten und Verboten, die man den jüngeren Kollegen beibringen oder sie dafür sensibilisieren muss – und zum Teil auch die älteren. Dass man einen Schnitt gerade führen soll, keine Taschen schneiden mit dem Skalpell. Dass auf der Hautoberfläche immer noch Keime sind, auch nach zweimaliger Desinfektion und man also vermeiden muss, dass Nahtmaterial über die Haut streift. Solche Dinge sind keineswegs jedem bewusst.
AB: Mit Blick auf die Versorgung chronischer Wunden – wo sehen Sie Baustellen?
HB: Aus meiner Sicht ist die Vernetzung insbesondere mit dem ambulanten Bereich an vielen Stellen noch nicht optimal. Woran es außerdem noch fehlt: dass die Patienten auch ambulant den Wundexperten aufsuchen, der im besten Fall mit der Klinik kooperiert. Und zwar spätestens, wenn eine Wunde chronifiziert. Davon sprechen wir, wenn eine Wunde nach acht Wochen nicht abheilt. Je eher die Diagnose chronische Wunde gestellt und eine fachgerechte Therapie eingeleitet wird, umso besser sind die Chancen auf Heilung.
Blankenburg A: Hygiene im OP: Jeder ist verantwortlich. Ist doch selbstverständlich? Ist es nicht! Passion Chirurgie. 2021 Januar/Februar; 11(01/02): Artikel 03_03.