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Aufgrund der Schwere des Themas lohnt es sich, einen Einzelpunkt aus der Umfrage gesondert zu betrachten: „Kennen Sie einen Suizidfall oder eine Suizidabsicht unter Chirurg:innen?“ Die Ergebnisse sind alarmierend: 26,8 % beantworteten die Frage mit Ja.

Laut Daten des statistischen Bundesamts nahmen sich im Jahr 2022 in Deutschland 10.119 Menschen das Leben. Dies entspricht etwa 28 Personen pro Tag. Die Tendenz bei Suiziden ist zwar im Vergleich zum Vorjahr steigend, im Langzeitverlauf jedoch deutlich fallend (vgl. 1980 mit ca. 50 Suiziden/Tag). Die Rate an Suizidversuchen wird in Deutschland nicht systematisch erfasst und dürfte daher nach Angaben der WHO ca. 15- bis 20-mal höher liegen als die tatsächliche Suizidrate. Somit sind die aktuellen Umfrageantworten nicht mit den Zahlen aus der Literatur zu Suizid und Suizidalität vergleichbar. Dennoch zeigt die Umfrage, dass fast ein Drittel der Chirurginnen und Chirurgen direkten Kontakt mit dem Thema haben oder hatten. Möglicherweise sind auch die Presseberichte über den Selbstmord einer Ärztin aus Friedrichshafen, die kurz vor der Umfrage erschienen waren, in die Antworten eingeflossen.

Die Antworten sollten aber in einem anderen Kontext gewertet werden: Ärztinnen und Ärzte gelten in Bezug auf Suizidalität als Risikogruppe. Studien zeigen, dass die Rate zwar bezogen auf die Gesamtbevölkerung vergleichbar oder nur gering erhöht sind [1], berücksichtigt man jedoch den sozioökonomischen Status von Ärztinnen und Ärzten, werden die Unterschiede signifikant [2]. Ärztinnen scheinen hier eine besondere Risikogruppe zu sein, obwohl bei nicht-ärztlich Tätigen die Selbstmordraten von Männern deutlich höher liegen [3]. Ursächlich wird eine Vielzahl von Gründen gesehen, inklusive einer signifikant selteneren Nutzung von Hilfs- und Behandlungsangeboten, Angst vor Stigmatisierung und dem Glauben, sich selbst heilen zu können [4].

Diese Zahlen sind nicht neu: Systematische Untersuchungen zum Thema Suizid bei Ärztinnen und Ärzten wurde bereits in den 1960er-Jahren gemacht [5]. Lösungsansätze gibt es bislang nicht. Auch der BDC ist diesem Fakt nachgegangen. In den ersten Umfragen 2008 und 2012, in denen allerdings nur Chirurginnen kontaktiert worden waren, haben nur 12 % der Befragten angegeben, Chirurginnen zu kennen, die Suizid begangen haben oder sich mit dem Gedanken getragen hätten [6]. In der Umfrage von 2021, die sowohl Chirurginnen als auch Chirurgen einbezogen hatte, waren es 23,25 % und aktuell sogar fast 27 % (s. Abbildung) die Kolleg:innen kennen, für die der Freitod eine Lösung ihrer Probleme darstellt [7].

Das Hessische Ärzteblatt gab im Rahmen einer Artikelserie zum Thema Depression 2023 einem langen Artikel zur Suizidprävention Raum, in dem auch auf die spezifische Situation von Ärztinnen und Ärzten aufmerksam gemacht wurde. Auch die Autoren dieses Artikels kamen zu der ernüchternden Erkenntnis, dass die Problematik weder in die Ausbildung von Studierenden noch in spezialisierte Angebote einfließt. Nach wie vor ist die Sorge vor beruflichen Konsequenzen nach dem „Outing“ einer psychischen Erkrankung größer als die selbst wahrgenommene Notwendigkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen [8]. Ein Suizidversuch erscheint der einzige Ausweg und aufgrund des Fachwissens ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser erfolgreich verläuft, hoch [9].

Die Zahl an Publikationen zur psychischen Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten nimmt zu. Die Datenlage wird dichter, Fakten – wie in der hier vorliegenden Arbeit – sind aufgezeigt. Aber ist Licht am Ende eines langen Tunnels? Eher nicht, denn laut einer Metaanalyse von 54 internationalen Studien aus Nord- und Südamerika, Europa, Asien und Afrika wird die mentale Gesundheit unserer Kolleginnen und Kollegen schlechter – und das um 0,5 % pro Jahr [10]!

Abb. 1: Anteil der Ja-Antworten auf die Frage nach Suiziden oder Suizidalität im Verlauf der BDC- Umfragen von 2008, 2012, sowie 2021 und 2024

Doch wie kann man diesem Zustand begegnen? Zuwarten und zuschauen? Warum haben schon mehr 57 % der befragten Chirurg:innen daran gedacht, den Beruf aufzugeben? 60 % der Befragten geben an, dass sich die berufliche Belastungssituation auf ihre Beziehung auswirkt. Und das nicht im positiven Sinn. Mehr als 20 % führten partnerschaftliche Trennungen auf die beruflichen Belastungssituationen zurück. Die zunehmende Arbeitsverdichtung, der fehlende Freiraum, Sozialkontakte zu pflegen und die emotionale Belastung, die die Chirurgie mit sich bringt, wenn dann ein Eingriff komplikativ oder sogar letal verläuft, führen zu Depressionen, Burnout und Hilflosigkeit und bringen Chirurg:innen an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit.

Umso mehr gilt es, die Thematik offen anzusprechen. Nicht nur, dass bereits im Studium Vorkehrungen getroffen werden müssen, die zukünftigen Mediziner:innen auf das Berufsleben mit seinen Höhen und Tiefen vorzubereiten. Auch im Krankenhaus müssen Grundlagen geschaffen sein bzw. werden, Ärzt:innen zu unterstützen. Das Angebot von Supervisionen, Psycholog:innen als feste Ansprechpartner in und außerhalb von Krisensituationen, Angebote zum Erlernen von Resilienz und Arbeitsbedingungen, die es ermöglichen, einen Schutz gegen hohe Belastungen aufzubauen.

Literatur

[1]   Harvey SB, Epstein RM, Glozier N, Petrie K, Strudwick J, Gayed A, u. a. Mental illness and suicide among physicians. Lancet. 4. September 2021;398(10303):920–30.
[2]   Dutheil F, Aubert C, Pereira B, Dambrun M, Moustafa F, Mermillod M, u. a. Suicide among physicians and health-care workers: A systematic review and meta-analysis. PLoS One. 2019;14(12):e0226361.
[3]   Duarte D, El-Hagrassy MM, Couto TCE, Gurgel W, Fregni F, Correa H. Male and Female Physician Suicidality: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Psychiatry. 1. Juni 2020;77(6):587–97.
[4]   Hawton K, Malmberg A, Simkin S. Suicide in doctors. A psychological autopsy study. J Psychosom Res. Juli 2004;57(1):1–4.
[5]   Pitts FN, Schuller AB, Rich CL, Pitts AF. Suicide among U.S. women physicians, 1967-1972. Am J Psychiatry. Mai 1979;136(5):694–6.
[6]   Ansorg JU, Leschber, Gunda. Chirurgin in Deutschland – Ergebnisse einer Umfrage 2008 – BDC|Online [Internet]. BDC. 2009 [zitiert 21. März 2024]. Verfügbar unter: https://www.bdc.de/chirurgin-in-deutschland-ergebnisse-einer-umfrage-2008/
[7]   Fritze-Büttner F, Kunze C, Mille M. Zufriedenheit und Arbeits (zeit) gestaltung von Chirug: innen in Deutschland–wo stehen wir aktuell? Passion Chir. 2022;12(07/08):Artikel-04_02.
[8]   Landesärztekammer Hessen [Internet]. 2023 [zitiert 13. Juni 2024]. Serie Depression – Teil 3: Suizidprävention. Verfügbar unter: https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/artikel/2023/april-2023/serie-depression-teil-3-suizidpraevention
[9]   Hawton K, Clements A, Simkin S, Malmberg A. Doctors who kill themselves: a study of the methods used for suicide. QJM. Juni 2000;93(6):351–7.
[10] Mata DA, Ramos MA, Bansal N, Khan R, Guille C, Di Angelantonio E, u. a. Prevalence of Depression and Depressive Symptoms Among Resident Physicians: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA. 8. Dezember 2015;314(22):2373–83.

Gumpp J: Hot Topic – Suizidalität bei Chirurginnen und Chirurgen. Passion Chirurgie. 2024 Juli/August; 14(07/08): Artikel 03_03.

Autor des Artikels

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Dr. med. Julia Gumpp

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