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Das Jahr 2024 wird ganz besonders in Europa durch zahlreiche sportliche Großveranstaltungen geprägt. Während zunächst die Fußball-Europameisterschaft der Männer die Massen begeisterte, beherbergt Paris erstmals seit 2012 die Olympischen Sommerspiele auf europäischem Boden. Doch auch aus Gleichstellungssicht markieren die Spiele ein besonderes Ereignis. Zum ersten Mal in der Geschichte werden die Startplätze zu gleichen Teilen an Frauen und Männer vergeben. Im Sinne einer bestmöglichen Versorgung aller Athletinnen und Athleten macht also eine geschlechtsspezifische Betrachtungsweise von Sportverletzungen Sinn.

Männer zeigen im Vergleich zu Frauen im Sport eine höhere Verletzungshäufigkeit. 71 % aller Sportverletzungen wurden bei männlichen Sportlern registriert [1]. Jedoch verletzen sich weibliche Athletinnen schwerer. In einer vergleichenden Studie einer je männlichen und weiblichen Profi-Fußballmannschaft der Spanischen Primera División fielen die männlichen Spieler durch eine 30 bis 40 % höhere Spielverletzungsinzidenz auf [2]. Die Spielerinnen hingegen zeigten 21 % mehr Abwesenheitstage, am ehesten aufgrund der deutlich schwerwiegenderen Verletzungen wie Syndesmosenrupturen oder Verletzungen des vorderen Kreuzbands. Diese Verletzungen spiegeln sich auch in den Charakteristika sportassoziierter Verletzungen wider. Sportlerinnen verletzen sich vornehmlich die untere Extremität, sie erleiden Überlastungsverletzungen zu 90 % im Hüft- und Beckenbereich. Männliche Athleten dagegen zeigen überwiegend traumatische Verletzungen, meist im Rahmen von Kontakt- oder Kollisionssportarten [3].

Als Flaggschiff der geschlechtsspezifischen Betrachtungsweise gilt im sportorthopädischen Bereich nach wie vor die Ruptur des vorderen Kreuzbandes (VKB). Bereits seit nahezu drei Jahrzehnten bekannt, nahm dank der forcierten medialen Berichterstattung im Rahmen der FIFA Frauen WM 2023 neben Fachleuten nun auch die breite Öffentlichkeit Notiz von einer um das 4- bis 8-fach höheren Verletzungshäufigkeit bei Sportlerinnen [4]. Drei der vier Hochrisikosportarten für VKB-Rupturen sind die von Frauen ausgeübten Sportarten Basketball, Gymnastik und Fußball [5]. Die Frage nach zugrundeliegenden Ursachen wurde laut und aus bereits älteren Erkenntnissen entwickelten sich jetzt Erklärungsmodelle hinsichtlich der Gründe für die bestehenden Geschlechtsdiskrepanzen. In erster Linie kommen sowohl Laien als auch Fachleuten aufgrund ihrer offensichtlichen Unterschiede die Einflüsse durch Sexualhormone in den Sinn. Die Frage nach risikobehafteten Phasen des Menstruationszyklus der Frau erscheint fast als eine logische Konsequenz. Rezeptoren für Sexualhormone wie Östrogen, Testosteron, Progesteron und bei Frauen exklusiv auch Relaxin wurden auf vorderen Kreuzbändern nachgewiesen. Der Beweis für einen relevanten klinischen Einfluss auf höhere Rupturraten bei Frauen bleibt jedoch nach wie vor aus [6]. Vordere Kreuzbandrupturen ereignen sich in allen Phasen des Menstruationszyklus, Phasen höherer Rupturraten konnten bisher nicht zweifelsfrei detektiert werden. Die Einnahme oraler Kontrazeptiva soll eine protektive Wirkung zeigen, jedoch beruhen diese Aussagen auf wenigen Registerstudien aus den USA und Dänemark [7]. Ob möglicherwiese begleitende Faktoren eine größere Rolle spielen, kann hieraus nicht abgeleitet werden. Angaben über die Art und Hormonkombination der verwendeten Präparate sind in den jeweiligen Studiendesigns nicht erhältlich.

Vordere Kreuzbänder unterliegen neben biologischen in hohem Maße auch anatomischen und biomechanischen Einflüssen. Es besteht Expertenkonsens darüber, dass vermutlich eine Kombination unterschiedlicher Risikofaktoren die weibliche VKB-Ruptur begünstigen [8]. Zur besseren Veranschaulichung werden sie in der Literatur in modifizierbare und nichtmodifizierbare Faktoren unterteilt.

Tabelle 1: Weibliche Risikofaktoren für Rupturen des vorderen Kreuzbands, Aus [4]

Modifizierbar

Nichtmodifizierbar

Biomechanik

Neuromuskuläre Kontrolle

Anatomie

Hormone

Genetik

Frauen zeigen bedingt durch eine breitere Beckenanatomie einen größeren Quadrizepswinkel (Q-Winkel), der in der Literatur häufig mit höheren Spannungen auf das VKB in Verbindung gebracht wird [9]. Auch scheint eine erhöhte sagittale Neigung des Tibiaplateaus („tibial slope“) vornehmlich für Frauen risikobehaftet zu sein [10]. Ein wesentliches Problem bei Athletinnen scheinen jedoch in erster Linie für das VKB gefährliche Bewegungsmuster zu sein. Insbesondere im Rahmen von Landungsphasen nach Sprüngen zeigen Sportlerinnen vermehrt eine dynamische Valgusstellung des Kniegelenks. In Kombination mit einer erhöhten Hüftadduktion, vermehrter tibialer Außenrotation und einer Fußpronation gerät das VKB unter Belastung [8].

Neben epidemiologischen Angaben zur Rupturrate zeigen sich auch hinsichtlich des Outcomes nach operativem Ersatz des VKB signifikante Unterschiede. Derzeit berücksichtigen wir bei der Indikationstellung und bei operativer Versorgung das Geschlecht der Patienten nicht. Frauen weisen jedoch schlechtere postoperative Funktionsscores und geringere Return-to-Sport-Raten auf, weshalb dieses Vorgehen zukünftig kritisch betrachtet werden sollte [12, 13]. Beispielsweise könnte sich eine forciert eingesetzte zusätzliche extraartikuläre anterolaterale Stabilisierung bei Frauen als vorteilhaft erweisen. Diese Überlegung beruht auf den Vorgaben der ALL-Konsensusgruppe (Anterolateral Ligament Expert Group), die eine Hyperlaxizität (Beighton-Score ≥ 5) als primäres Entscheidungskriterium für eine entsprechende Stabilisierung postuliert [14]. Diese konstitutionelle Hyperlaxizität wird häufiger bei Frauen beobachtet. Die Wahl des Transplantats scheint eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Unterschiedliche Transplantate erbrachten bisher vergleichbare Ergebnisse, in bisherigen Studien fand der geschlechtsspezifische Einfluss jedoch selten Berücksichtigung. Hier ist eine bessere Studienlage zu fordern [15].

Abb. 1: Geschlechtsspezifische Unterschiede während Landungsphasen, Aus: [1] Sänger R. Geschlechtsspezifische Sportverletzungen – Wenn die männliche Achillessehne zum weiblichen Kreuzband wird. Orthopädische Unfallchirurgische Nachrichten DKOU Special. 2023 10.2023.

Das Phänomen eines schlechteren postoperativen Outcomes bei Frauen scheint kein exklusives Problem der Kreuzbandchirurgie zu sein. Ähnlich verhält es sich im Bereich der Knorpel- und Meniskuschirurgie des Kniegelenks. Daten aus dem deutschsprachigen Knorpel- und Arthroskopieregister zeigen unmittelbar postoperativ und auch im mittelfristigen Verlauf schlechtere Werte der Patientinnen [16, 17]. Die Ruptur der Achillessehne, ein vornehmlich männlich dominiertes Problemfeld, macht auch hier keine Ausnahme. Die männlichen Patienten profitieren in höherem Maße von der operativen Versorgung [18]. Eine Ursache könnten die bereits präoperativ schlechteren Werte der Frauen sein, die zudem oftmals erst mit größerer zeitlicher Latenz einer operativen Therapie zugeführt werden. Andererseits könnten auch soziale Einflüsse und geschlechtsspezifische Rollenmodelle relevant sein. Im Vergleich zwischen Erwachsenen und Kindern wurden signifikante Unterschiede bei der Verwendung des IKDC-Scores (International Knee Documentation Committee) nach Bandverletzungen festgestellt, die zur Entwicklung eines Pediatric-IKDC führten [19]. In ähnlicher Weise wird derzeit die Vergleichbarkeit hinsichtlich des Geschlechts in der Erhebung von PROMS (Patient Reported Outcome Measures) infrage gestellt. Männer und Frauen könnten eine unterschiedliche Grundresilienz aufweisen, was sich auf die Wahrnehmung von Funktionalität, Mobilität sowie Schmerzwahrnehmung und psychischer Gesundheit auswirkt. Gemäß dem allgemein akzeptierten Grundsatz „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“ könnte es also bald heißen „Frauen sind keine kleinen Männer“. Bei einem stetig wachsenden Anteil weiblicher Sportlerinnen auch im professionellen Kontext zeigt sich die hohe Relevanz einer gendersensiblen Betrachtungsweise auch in der Sportorthopädie.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Sänger R: Geschlechtsspezifische Sportorthopädie – Ein Thema so aktuell wie noch nie. Passion Chirurgie. 2024 September; 14(09/III): Artikel 03_03.

Autor des Artikels

Profilbild von Rebecca Sänger

Dr. med. Rebecca Sänger

Ab 04/2024 Assistenzärztin, Schwerpunkt: Kniechirurgie, Geschlechtsspezifische MedizinKlinik für Orthopädie, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Rehabilitative MedizinUniversitätsklinikum Greifswald kontaktieren

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