01.11.2023 Neurochirurgie
Einblick in die spinale Neurochirurgie
Rückenbeschwerden sind in der heutigen Zeit ein alltägliches Problem, das einen beachtlichen Teil der Bevölkerung belastet. Nicht immer, aber auch nicht selten ist eine Operation an der Wirbelsäule indiziert. Ursächlich sind am häufigsten degenerative Veränderungen wie die Spinalkanalstenose, der Bandscheibenvorfall oder die Spondylolisthese. In der Klinik begegnet man zudem einer Vielzahl komplexerer Wirbelsäulenerkrankungen, die eine aufwendigere operative Versorgung benötigen. In der modernen Wirbelsäulenchirurgie stehen den Chirurg:innen zahlreiche technische Hilfsmittel zur Verfügung, auch das operative Equipment hat sich weiterentwickelt. Insbesondere die Reduktion der Strahlenexposition hat einen hohen Stellenwert erfahren.
Im Folgenden gebe ich eine kompakte Darstellung des Spektrums und einiger Hilfsmittel und Technologien, die der modernen spinalen Neurochirurgie heute zur Verfügung stehen.
Spektrum
Die spinale Neurochirurgie umfasst die konservative und chirurgische Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen. Hierzu gehören einfache mikrochirurgische oder endoskopische dekompressive Eingriffe bei Bandscheibenvorfällen und Spinalkanalstenosen aller Wirbelsäulenabschnitte, Instrumentationen und Fusionen bei degenerativen, onkologischen, traumatischen und entzündlichen Wirbelsäulenerkrankungen, der Wirbelkörperersatz, die chirurgische Behandlung intraspinaler, epiduraler, intraduraler extra- und intramedullärer Läsionen u. a. spinale Metastasen, Neurinome, Meningeome und Ependymome, vaskuläre spinale Pathologien, Erkrankungen des kraniozervikalen Übergangs, die chirurgische Behandlung osteoporotischer Frakturen und die Neuromodulation. Speziellen Zentren vorbehalten ist die Deformitäten-Chirurgie sowie ausgedehnte Tumoroperationen mit u. a. En-Bloc-Spondylektomien.
Neuro-Navigation und Augmented Reality
Die Neuronavigation findet seit mehr als zwei Jahrzehnten Anwendung in der kranialen Neurochirurgie, um Tumore genauer zu lokalisieren und sogenannte „Tailored Approaches“, sprich maßgeschneiderte patientenindividuelle Zugänge zu ermöglichen. Dadurch konnten Kraniotomien präziser platziert und teilweise deutlich kleiner und weniger invasiv geplant werden. Heute findet diese Technologie gleichermaßen in der spinalen Neurochirurgie Anwendung und ermöglicht vordergründig eine genauere Implantatplatzierung (z. B. Pedikelschrauben) insbesondere bei schwierigen anatomischen Gegebenheiten und reduziert die Strahlenexposition des Personals. Letzteres gewinnt zunehmend an Bedeutung. Zudem können heute weitere Implantate navigiert eingesetzt werden, wie beispielsweise intervertebrale Cages. Jüngere Kolleg:innen profitieren von der dreidimensionalen Darstellung, da diese ein besseres Verständnis der ausgeführten Schritte erlaubt. Der zusätzliche Zeitaufwand ist heute, bei weit verbreiteten intraoperativen 3-D-Bildgebunsmöglichkeiten und der erreichten Reduktion der Strahlenexposition für das Personal, zu vernachlässigen.
Mit der heute zur Verfügung stehenden Software können präoperativ genaue Pläne erstellt werden. Zum Teil können diese Programme die Wirbel automatisch erkennen und auf Knopfdruck korrekte Pedikelschrauben-Trajektorien virtuell anzeigen, die von den Chirurg:innen individuell angepasst werden können. Bei komplexen Deformitäten und größeren Tumoroperationen sind dies durchaus nützliche Tools, um in Kombination mit der intraoperativen Navigation zusätzlich die Operationszeit zu verkürzen. Die Planung kann zudem als Virtual Reality (VR) betrachtet und im Operationssaal am Situs als Augmented Reality (AR) sichtbar gemacht werden. Bisher ist der Mehrwert von AR und VR für die Ausbildung wissenschaftlich untersucht worden. Der Effekt auf das Patienten-Outcome ist jedoch nicht bewiesen.
Abb. 1a: Beispiel geplanter Schraubentrajektorien an fusionierter MRT- und CT-Bildgebung
Abb. 1b: Beispiel 3-D-Darstellung der Planung
Robotik
Die Robotik ist seit Jahren auf dem Vormarsch in der spinalen Neurochirurgie, allerdings sind, mit wenigen Ausnahmen, hohe Anschaffungskosten ein limitierender Faktor.
Robotisch assistierte spinale Eingriffe sind im Grunde navigierte Eingriffe, bei denen der Roboter die vorab geplanten Trajektorien am Situs nach entsprechender Registrierung einstellt, somit ist diese vorgegeben und die Chirurg:innen können sich auf die Einbringung der Implantate konzentrieren. Wissenschaftlich ist bis heute kein eindeutiger Vorteil gegenüber der konventionellen Neuronavigation bewiesen.
Minimalinvasive Techniken
Perkutane Eingriffe sind heute weit verbreitet, auch die Endoskopie findet zunehmend Einzug in immer mehr Kliniken. Die perkutane Instrumentationstechnik kann bei kurz- oder längerstreckigen Instrumentationen eingesetzt werden. Das geringere Muskeltrauma ermöglicht eine raschere Mobilisation. Am häufigsten ist dies bei Frakturen oder monosegmentalen degenerativen Erkrankungen der Fall. Sie kann dennoch auch langstreckig bei älteren Patient:innen mit oder ohne Zementaugmentation verwendet werden. Spezielle Retraktorensysteme erlauben es, übliche offene Zugänge wie transthorakale und retroperitoneale Eingriffe deutlich kleiner zu gestalten. Zudem sind zweizeitige Eingriffe heute als „Single Position“ in einem Eingriff möglich, indem technische Möglichkeiten wie Navigation und Robotik auf minimalinvasive Zugänge mit entsprechenden Retraktorensystemen treffen. So können eine minimalinvasive Instrumentation von dorsal und eine Cage Fusion von lateral in einer Sitzung erfolgen, ohne den Patienten umlagern zu müssen. Endoskopische Eingriffe sind heute an allen Wirbelsäulenabschnitten möglich, auch im Bereich der Halswirbelsäule. Ob uni- oder biportal, die Endoskopie findet sowohl bei einfachen Eingriffen (z. B. Bandscheibenvorfälle, Spinalkanalstenosen) als auch bei komplexeren Eingriffen (z. B. Spondylodiszitis, thorakoskopische Wirbelsäuleneingriffe) zunehmend Anwendung.
Abb. 2: Perkutane Technik mit minimalinvasivem Zugang
Implantate
Schrauben-Stab- und Schrauben-Platten-Konstrukte aus Carbon-PEEK werden heute in der Tumor-Wirbelsäulenchirurgie eingesetzt. Diese ermöglichen postoperativ Artefakt-ärmere MR- und CT- Aufnahmen und erleichtern den Kolleg:innen der Strahlentherapie eine genauere Dosisberechnung für die nachgeschaltete Radiotherapie z. B. bei spinalen Metastasen. Diese Implantate sind als Schrauben-Stab-System zurzeit nur für die Brust- und Lendenwirbelsäule verfügbarund als Schrauben-Platten-System ebenfalls für die Halswirbelsäule verfügbar. Heute stehen den Chirurg:innen eine Vielzahl dieser Implantate auch als Fusionsmaterial oder Wirbelkörperersatz für alle Wirbelsäulenabschnitte zur Verfügung.
Im Bereich der lumbalen Wirbelsäule sind distrahierbare intervertebrale Implantate zunehmend erhältlich. Diese bieten bei minimalinvasiven Eingriffen eine gute Möglichkeit, die Lordose wiederherzustellen. Mit starren Implantaten sind der Aufwand und der benötigte Zugang etwas größer. Ein wissenschaftlich bewiesener Vorteil ist auch hier zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhanden.
Abb. 3: Carbon-PEEK Schrauben-Stab-System im Situs
Abb. 4: Carbon-PEEK Schrauben-Stab-System im Vergleich zum üblichen Titan-Schrauben-Stab-System
Ausblick
Mit der heutigen Geschwindigkeit der technischen Entwicklung erleben wir bereits jetzt eine dramatische Veränderung von der Wirbelsäulenchirurgie mit dem Bildwandler zur hochtechnisierten Wirbelsäulenchirurgie. Der Vorteil moderner Techniken liegt in erster Linie in der Reduktion der Strahlenexposition des Personals und der höheren Genauigkeit der Implantatplatzierung. Ein weiterer wichtiger Vorteil findet sich in der Ausbildung der kommenden Generationen an hochaufgelösten 3-D-Modellen und -Simulationen. Mit diesen Mitteln erreicht man heute junge Kolleg:innen und insbesondere Studierende und kann diese für das Fach und die spinale Neurochirurgie früh begeistern. Der Einsatz von navigierten Instrumenten, AR und VR erhält bereits heute vielerorts Einzug in den klinischen Alltag. Der Einsatz von Exoskopen und die Bedeutung für die Ergonomie und Fehlbelastung der eigenen Wirbelsäule im Operationssaal bei bestimmten Eingriffen wird in Zukunft vermutlich eine größere Rolle spielen. Die Verfügbarkeit spezieller Schrauben-Stab-Systeme, auch für die Halswirbelsäule u. a. aus Carbon-PEEK, wird bei Tumorerkrankungen von Bedeutung sein. Zuletzt sollte man einen bestimmten Trend aus den USA kritisch beachten, die „Awake Spinal Fusion“. Heute werden in den USA Instrumentationen und Fusionen zum Teil in Analgosedierung durchgeführt und die Patient:innen als „Same-Day Surgery“ ambulant behandelt. Bei all der raschen technischen Entwicklung sollten die strenge Operationsindikation und die absolute Patientensicherheit stets von höchster Priorität sein.
Dr. med. Sami Ridwan
Leitender Oberarzt Neurochirurgie
Projektleiter NCH TO GO
www.nchtogo.de
Klinikum Ibbenbüren
Große Str. 41
49477 Ibbenbüren
Chirurgie
Ridwan S: Einblick in die spinale Neurochirurgie. Passion Chirurgie. 2023 November; 13(11): Artikel 03_01.
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