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Dieser Artikel stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er galt unter den Einsendungen für den BDC-Journalistenpreis 2023 als einer der Favoriten.

Es geschah wie aus dem Nichts heraus auf dem Weg von der Garage ins Haus. Wolfgang Münch spürte einen heftigen Stich in der Herzgegend, und sein Brustkorb fühlte sich plötzlich so beklemmend eng an, dass er nach Luft schnappte. Mit aller Kraft schleppte sich der 75-Jährige ins Haus, legte sich aufs Sofa und blickte aus dem Fenster. Wie jedes Jahr verbrachte der pensionierte Gymnasiallehrer auch diesen Winter im Farmhaus seiner Freunde in Südafrika. „Als ich in die saftig-grüne Buschlandschaft blickte, dachte ich, das wäre eigentlich ein schöner Ort zum Sterben“, erinnert sich Münch (der eigentlich anders heißt).

Zum Glück war die Attacke zehn Minuten später wieder vorbei. Am nächsten Morgen fuhr Münch mit dem Auto ins 130 Kilometer entfernte Krankenhaus nach Pretoria. Dort diagnostizierten die Ärzte einen Hinterwandinfarkt. Dabei verschließt sich meist das rechte Herzkranzgefäß, das die Rückwand des Herzens mit Blut versorgt. Infolgedessen können die Muskelzellen an der Rückwand des Herzens nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden und sterben ab. Schnell stand fest, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Minderdurchblutung seines Herzens zu beseitigen: Der Oberpfälzer benötigte einen Bypass.

So wie ihm geht es vielen Menschen. Pro Jahr erfolgen hierzulande etwa 45.000 Bypassoperationen. Dabei werden verstopfte Gefäße mit Adern oder Venen aus anderen Bereichen des Körpers überbrückt. Man kann sich das vorstellen wie eine Umgehungstrasse um die verstopfte Stelle herum. Das Blut kann so über das Ersatzgefäß ungehindert an den Engstellen vorbeifließen und den Herzmuskel wieder mit Sauerstoff und Energie versorgen. Bypassoperationen sind für Experten eigentlich ein Routineeingriff. Dennoch löst die Vorstellung einer Operation am offenen Herzen bei vielen Betroffenen – verständlicherweise – Ängste aus.

Deutlich weniger furchteinflößend erscheint da für viele die Implantation eines Stents. Das Drahtgeflecht in Form einer kleinen Hülse stützt das Gefäß von innen. Anders als eine Bypassoperation ist der Eingriff minimalinvasiv und liegt auch deshalb im Trend: Gut 300.000 Stent-Implantationen finden pro Jahr deutschlandweit statt. Bypassoperationen stehen da im Vergleich weit hinten an. Dabei sind sie häufig die bessere Alternative und versprechen nach Untersuchungen verschiedener wissenschaftlicher Studien eine längere Lebenserwartung. Für wen also eignet sich ein Bypass besonders gut?

Nachdem die Ärzte in Pretoria Wolfgang Münch mitgeteilt hatten, dass er operiert werden müsse, entschied er sich, zurück nach Deutschland zu fliegen – ansonsten hätte er die immens teuren Behandlungskosten in Südafrika selbst bezahlen müssen. Er hatte Glück, alles verlief glimpflich, den Großteil der Reise verbrachte er schlafend und ohne größere Beschwerden. Einen starken Druck auf dem Herzen verspürte er erst während des Krankentransports vom Münchner Flughafen ins Deutsche Herzzentrum München.

Wie alle Patienten wurde auch Münch von einem interdisziplinären Herzteam betreut, das im Kern aus Kardiologe, Herzchirurg und Anästhesist besteht. Das ist ein gängiges Verfahren in deutschen Kliniken und heute vorgeschrieben. „Dieses Team nimmt jeden Patienten selbst in Augenschein“, sagt Prof. Heribert Schunkert. Der Kardiologe ist ärztlicher Direktor des Herzzentrums und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Herzstiftung. „In die Therapiewahl sollen zum Wohl des Patienten die Expertisen der unterschiedlichen Fachbereiche einfließen.“

Bei Münch ergaben die Untersuchungen, dass er seit Jahren an einer Koronaren Herzkrankheit (KHK) litt. Die Krankheit ist weit verbreitet. Allein in Deutschland leiden rund sechs Millionen Menschen daran – oft wie Münch ohne es zu bemerken. Die Betroffenen bekommen zunächst nicht mit, dass sich Fett- und Kalkablagerungen an der Innenwand ihrer Herzkranzgefäße abgesetzt haben. Dadurch verengen sich jedoch die Adern, die den Herzmuskel mit Blut versorgen. „In dem Prozess spielen Vererbung und Alter genauso wie der Lebensstil eine entscheidende Rolle“, erklärt Kardiologe Schunkert. „Übergewicht, Bewegungsmangel, Rauchen und Stress schädigen die Gefäße und sind die größten vermeidbaren Risikofaktoren.“

Mit der Zeit wachsen die Ablagerungen und behindern den Blutstrom. Das Herz wird nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt. „Bemerkbar macht sich das etwa beim Treppensteigen oder einem Sprint zum Bus“, erklärt der Arzt. „Atemnot, ein Druckgefühl und manchmal auch ein Brennen in der Brust sind typische Anzeichen einer Angina Pectoris, dem Hauptsymptom einer Erkrankung der Herzkranzarterien.“ Das Besondere: Die Beschwerden treten zunächst nur unter Belastung auf und verschwinden im Ruhezustand wieder.

Heilbar ist die KHK zwar nicht. Aus medizinischer Sicht ist dennoch klar: „Bei einer Gefäßverkalkung in den Herzkranzgefäßen muss etwas unternommen werden“, sagt Schunkert. „Unbehandelt drohen Herzinfarkt, Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen und plötzlicher Herztod.“

Für alle Patienten gilt: Medikamente sind unverzichtbar, um das Fortschreiten der Ablagerungen aufzuhalten. Ob dann mittels Stents oder Bypass behandelt wird, ist abhängig von der Komplexität der Erkrankung. Ist das Gefäß nur an einer Stelle verengt, wird diese mithilfe eines Stents erweitert. Die Implantation dauert oft nicht länger als 15 Minuten und findet unter örtlicher Betäubung statt. Ein Kardiologe schiebt einen dünnen Kunststoffschlauch (Katheter) vom Handgelenk oder der Leiste aus über die Hauptschlagader bis zum Herzen und spritzt ein Kontrastmittel. Mittels Röntgenaufnahme werden die Herzkranzgefäße beurteilt.

Auf diese Weise kann auch die genaue Lage der Engstelle lokalisiert werden. „An dieser wird ein Miniaturballon aufgeblasen, der den zusammengefalteten Stent trägt. Durch den Druck entfaltet sich der Stent, drückt sich in die Wand des Blutgefäßes und stabilisiert das erweiterte Gefäß“, erklärt der Experte. „Bestehende Kalkablagerungen werden dabei an die Gefäßwand gedrückt. Der Stent sorgt dafür, dass das Blut wieder ungehindert fließen kann.“

Bei Patienten mit fortgeschrittener KHK, also wenn viele Arterien stark betroffen sind oder die Symptome heftiger, ergaben allerdings verschiedene Studien, dass fünf Jahre nach einer Stent-Implantation etwa 13 Prozent der Patienten verstorben waren. Zum Vergleich: Bei einer Bypassoperation waren es in dem Fall weniger als zehn Prozent. „Das liegt daran, dass es wieder zu Verengungen im Bereich der Stents kommt“, sagt Prof. Rüdiger Lange. Er ist Direktor der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie am Deutschen Herzzentrum München. „Die Patienten müssen öfter erneut einen Stent bekommen. Dadurch ist die Langzeitüberlebensrate etwas schlechter als beim Bypass.“

Zu einer Bypassoperation raten Ärzte, wenn alle drei großen Äste der Herzkranzarterien betroffen sind und viele Stents eingesetzt werden müssten. „In diesem Fall ist es besser, mit dem Bypass eine Umgehung zu legen und die verstopften Gefäße mit Adern oder Venen aus dem Körper zu überbrücken“, sagt Herzchirurg Lange. „Ein Bypass ist ebenfalls notwendig bei Patienten mit Diabetes sowie hochgradigen und diffusen Verengungen.“

Bei Münch hatten sich infolge der Koronaren Herzkrankheit im Laufe der Zeit viele und weitverzweigte Verengungen in den Herzkranzgefäßen gebildet. Er benötigte gleich drei Bypässe. Dazu wurde zunächst das Brustbein mit einer Stichsäge der Länge nach durchtrennt. An der Rückseite des Brustbeins – der Wand des Brustkorbs – sind die Brustwandarterien eingebettet. „Diese müssen herausisoliert und die Seitenäste verschlossen werden“, erklärt Herzchirurg Lange. „Danach können sie für einen Bypass verwendet werden.“

Nun wird der Herzbeutel geöffnet. Die Herz-Lungen-Maschine wird an die Hohlvene und an die Hauptschlagader angeschlossen. Bevor das Herz still gestellt wird, kühlen die Mediziner die Körpertemperatur auf 34 Grad herunter. „Ziel ist es, dadurch den Sauerstoffbedarf des Herzens massiv zu verringern“, erklärt der Experte. Ist der Patient heruntergekühlt, wird die Hauptschlagader abgeklemmt. Mittels einer speziellen kalten und extrem kaliumhaltigen Lösung wird das Herz für eine Dauer von 60 bis 120 Minuten stillgestellt.

Während dieser Zeit wird der Bypass hinter verengte oder verschlossene Gefäßabschnitte genäht. Zur Herstellung des Bypasses werden auch oft Arterien oder Venen aus Armen oder Beinen verwendet. Ein Ende wird hinter der Verstopfung an das Herzkranzgefäß genäht, das andere an die Hauptschlagader, die Aorta. „Auf diese Weise kann der nachfolgende Herzmuskel wieder mit Blut versorgt werden“, erklärt Lange. „Der Trend ist in den letzten zwanzig Jahren immer mehr zu arteriellen Bypässen gegangen.“

Am häufigsten werden dazu die beiden Brustwandarterien genutzt. Der entscheidende Vorteil von Bypässen sei, so Lange, dass nach zehn Jahren höchstens zehn Prozent verschlossen seien. Zum Vergleich: Bei venösen Bypässen seien im gleichen Zeitraum 20 bis 25 Prozent verschlossen. Ein arterieller Bypass ist auch oft die einzige Lösung, weil viele Patienten unter Krampfadern leiden. Dadurch ist nicht genügend Venenmaterial im Körper zur Überbrückung der Engstellen vorhanden. Künftig könnte es gerade für diese Patienten eine Alternative geben: Ein Kieler Forscherteam arbeitet daran, feine Blutgefäße für Bypassimplantate mittels 3-D-Drucker künstlich herzustellen.

Mittlerweile ist es auch möglich, den Bypass ohne einen Anschluss an die Herz-Lungen-Maschine zu legen. Bei der sogenannten Off-Pump-Chirurgie sind die Belastung und die Gefahr von Komplikationen für den Patienten geringer. Das ist auch der Grund, weshalb das Verfahren im Trend ist. „In diesem Fall hat man allerdings nicht zu allen Regionen des Herzens perfekten Zugang“, sagt Lange. „Sind die Gefäße sehr stark verkalkt und arteriosklerotisch verändert, kann es manchmal sehr schwierig werden, sie ohne stillstehendes Herz mit einem Bypass zu versorgen.“

Egal, ob mit oder ohne Einsatz der Herz-Lungen-Maschine: Der Eingriff birgt natürlich auch Gefahren. Um eine weitere Operation am offenen Herzen zu vermeiden, werden deshalb bei einer Bypassoperation oft noch eine oder mehrere defekte Herzklappen ausgetauscht – so wie bei Ludwig Meier. Der 64-Jährige brauchte neben einem Bypass dringend noch eine neue Aortenklappe. Durch Zufall war bei Meier (der ebenfalls anders heißt) während der Voruntersuchungen für eine Bandscheiben-OP ein extrem ho her Blutdruck festgestellt worden. Auch die Werte des Belastungs-EKGs waren auffällig gewesen.

Ein Ultraschall des Herzens hatte ergeben, dass Meier schwer herzkrank war – ohne etwas davon zu spüren. „Das war ein Schock“, sagt der ehemalige Verwaltungsangestellte aus Reichertshausen in der Nähe von Oberpfaffenhofen. „Natürlich hatte ich große Angst vor der Operation.“ Bei Meier war ein Herzkranzgefäß so stark verkalkt, dass mittels einer Vene aus dem Oberschenkel ein Bypass gelegt werden musste. Zudem war die Aortenklappe zwischen linker Herzkammer und Hauptschlagader durch Verschleißprozesse verengt.

Zehn Prozent der über 80-Jährigen leiden unter einer Verengung der Aortenklappe, in der Fachsprache „Stenose“ genannt. Ihr Herz muss mehr Kraft aufbringen, um genügend Blut in den Kreislauf zu pumpen. Das Herz wird dabei überstrapaziert und auf Dauer geschädigt. Eine Aortenklappen-Stenose äußert sich anfangs beispielsweise durch Schwindel, Luftnot und Leistungseinschränkung. Bleibt die Erkrankung unbehandelt, kommt es innerhalb weniger Jahre zu einer Herzschwäche.

Um das zu verhindern, wird die defekte Klappe durch eine mechanische oder biologische Prothese ersetzt. Mechanische Klappen haben zwar den Vorteil, dass sie in der Regel ein Leben lang halten. „Allerdings erfordern sie immer eine Gerinnungshemmung mit Marcumar, weil sich sonst lebensbedrohliche Blutgerinnsel an der künstlichen Herzklappe ablagern können“, erklärt Herzchirurg Lange. Das ist auch der Grund, weshalb biologische Klappen immer gefragter sind. Diese müssen zwar meist nach zehn bis 15 Jahren ausgetauscht werden. Dafür müssen die Patienten aber keine Blutverdünner einnehmen.

Meier und Münch übrigens sind nach ihren Eingriffen beide wieder fit – und fast etwas dankbar, dass ihre unbemerkten Herzerkrankungen noch rechtzeitig erkannt wurden.

Sabine Hoffmann

Journalistin

Hoffmann S: Ein Umweg schenkt ein längeres Leben. Passion Chirurgie. 2024 Juni; 14(06/II): Artikel 09_01.

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