01.10.2021 Fachgebiete
Die Arbeit als Chirurgin in den Niederlanden und in Deutschland
In den letzten Jahren fällt immer häufiger auf: Niederländische Ärztinnen und Ärzte gehen ins Ausland, um dort zu arbeiten. Insbesondere sind Deutschland und die Schweiz beliebt. Niederländische Ärzte suchen ihre Zuflucht im Ausland, weil es in ihrem Heimatland für manche Weiterbildungen schwierig ist, eine Ausbildungsstelle zu bekommen. Wie ist das möglich?
Der Weg zu einer Weiterbildungsstelle in den Niederlanden
Jedes Jahr bewerben sich etwa 10.000 Interessierte in den Niederlanden für einen Studienplatz in Medizin. Mittels „Numerus clausus“ werden insgesamt 2.800 Studentinnen und Studenten angenommen. Während der ersten vier Jahre werden sie theoretisch ausgebildet. Dann folgen zwei Jahre, die aus Forschung und einem praktischen Jahr bestehen. Nach Erhalt der Approbation können die Ärztinnen sich für eine Facharztrichtung entscheiden. Um eine Weiterbildungsstelle zu bekommen, muss man sich bewerben. Wie wahrscheinlich es ist, für sein Wunschfach eine Weiterbildungsstelle zu bekommen, hängt von der Beliebtheit des Fachs ab. Zum Beispiel gibt es pro Jahr in der Allgemeinchirurgie 67 Weiterbildungsstellen für circa 150 Bewerber. Facharztrichtungen wie Geriatrie und Behindertenmedizin sind weniger beliebt.
Bevor sich zum Beispiel eine Ärztin für eine Ausbildungsstelle bewerben kann, sollte sie zuerst Erfahrungen als Assistenzärztin sammeln – ohne eigentliche Weiterbildungsanstellung („Arts niet in opleiding tot specialist“, ANIOS). In dieser Funktion arbeiten die Assistenzärzte unter Supervision der Oberärzte in der Klinik. In der Allgemeinchirurgie bedeutet es, dass die Ärzte viel Stationsarbeit machen, Patienten in der Zentralen Notaufnahme behandeln, Sprechstunden anbieten sowie kleine ambulante Eingriffe durchführen. Im OP arbeiten sie nur selten, da dort meistens Kolleginnen in Weiterbildung eingeteilt sind („Arts in opleiding tot specialist“, AIOS).
Andere Kriterien für eine erfolgreiche Bewerbung bei einer Weiterbildungsstelle in der Allgemeinchirurgie sind nachweisliche Affinität zur Chirurgie, Handfertigkeit und Forschungserfahrung, vorzugsweise im Sinne eines PhD-Programms. Da sich heutzutage etwa 80 bis 90 % der potenziellen Chirurgen zu so einem Programm entscheiden, bietet es keine klaren Vorteile mehr, um die Chance auf eine Weiterbildungsstelle zu erhöhen. Deswegen sollen sich die Bewerber aufgrund anderer Qualifikationen von den Mitbewerbern unterscheiden.
Zweimal pro Jahr gibt es eine nationale Bewerbungsrunde. Hat sich ein Assistenzarzt für die Allgemeinchirurgie entschieden, kann er eine Bewerbung an zwei der acht Regionen schicken. Jede Region besteht aus einem Universitätsklinikum und vier bis sieben Allgemeinkrankenhäusern. Zunächst werden ungefähr acht bis zehn Bewerber zum Vorstellungsgespräch eingeladen, zum Schluss werden die geeignetsten Kandidatinnen für eine Weiterbildungsstelle selektiert.
Die Weiterbildung
Die Weiterbildung Allgemeinchirurgie dauert in den Niederlanden sechs Jahre, davon sollen zwei Weiterbildungsjahre in einem Universitätsklinikum stattfinden und die übrigen vier Jahre in einem Allgemeinkrankenhaus, das sich in der Region des Universitätsklinikums befindet. Im Gegensatz zur Allgemeinchirurgie in Deutschland, gehören die Gefäß-, Kinder-, Thorax- und Unfallchirurgie zur Ausbildung in der Allgemeinchirurgie. Während der ersten vier Jahre werden die Assistenzärzte in einem Rotationsplan von drei bis sechs Monaten eingeteilt, um so die allgemeinen Fertigkeiten der verschiedenen Fachrichtungen zu lernen. Nach dem vierten Jahr wählen die Assistenzärztinnen eine Richtung, in der sie sich in den letzten zwei Jahren der Ausbildung spezialisieren. Nach sechs Jahren haben die Assistenzärzte ihre Weiterbildung in der Allgemeinchirurgie mit einem Schwerpunkt absolviert.
Für die Weiterbildung ist zentral festgelegt, welche Kurse durchgeführt und welche Kompetenzen am Ende jedes Weiterbildungsjahrs erfüllt werden sollen. Kompetenzen werden mittels „Objective Structured Assessments of Technical Skill“ (OSATS) beurteilt und, wenn von den Chirurgen angemerkt worden ist, dass die Assistenzärztinnen diese Kompetenz ohne Supervision ausführen können, wird diese Kompetenz als übertragene Tätigkeit vermerkt. Auch hier ist festgelegt, in welchem Weiterbildungsjahr welche übertragenen Tätigkeiten erreicht werden sollen.
Die Suche nach einem Job als Chirurgin
Wenn man sich nach sechs Jahren Ausbildung endlich Chirurgin nennen darf, fängt die Suche nach einem Job an. Aktuell ist der Arbeitsmarkt für beginnende Chirurgen schwierig, viele sind arbeitslos. Wie viele Chirurgen keine Stelle bekommen, ist schwierig einzuschätzen, da manche jungen Chirurginnen mit einem Vertrag als Assistenzärztin arbeiten. Auch andere Konstruktionen in Arbeitsverträgen machen es unklar, wie groß das Problem tatsächlich ist.
Fakt ist, dass 50 % der Chirurginnen und Chirurgen fünf Jahre nach Ende der Weiterbildung immer noch keinen unbefristeten Vertrag haben. Das Problem hat mehrere Ursachen: Zuerst berechnet eine unabhängige Instanz auf Grund von circa 50 Faktoren, wie viele Assistenzärzte in den nächsten Jahren weitergebildet werden sollen, aber die Regierung bestimmt, wie viele Weiterbildungsstellen es tatsächlich gibt. Von 2011 bis 2019 sind mehr Weiterbildungsstellen als empfohlen freigegeben worden, sodass aktuell mehr Chirurgen den Arbeitsmarkt betreten als verlassen. Die Idee war, dass durch einen Überschuss an Chirurgen ein Marktmechanismus entstehen würde und so die Chirurgen einen niedrigeren Stundensatz akzeptieren würden. Dass dies nicht gelungen ist, liegt zuerst daran, dass wir nicht in einem normalen Markt arbeiten, unter anderem weil die Regierung und die Krankenkassen bestimmen, wie viel der Markt zunehmen darf. Das heißt, dass die Zahl von elektiven Eingriffen pro Krankenhaus und Jahr begrenzt ist und das führt dazu, dass im Augenblick kein zusätzlicher Bedarf an Chirurgen besteht.
Des Weiteren werden Chirurginnen, die aufgrund des Alters aus dem Beruf ausscheiden, nicht immer von neuen Kollegen ersetzt. In den Niederlanden arbeiten Fachärzte nicht immer als Arbeitnehmer im Krankenhaus. Dabei muss man zwischen Universitätskliniken und Allgemeinkrankenhäusern unterscheiden: In Universitätskliniken haben Fachärzte immer einen Arbeitsvertrag beim Krankenhaus, in Allgemeinkrankenhäusern hingegen liegt der Prozentanteil an angestellten Fachärzten bei nur 35 %. 65 % sind im Auftrag einer medizinischen Fachfirma für ein Allgemeinkrankhaus tätig. Diese Firmen haben eine Partnerschaftsvereinbarung mit lokalen Allgemeinkrankenhäusern und arbeiten intensiv mit der Geschäftsführung einer Klinik zusammen. Diese Struktur führt auch dazu, dass medizinische Fachfirmen darüber entscheiden können, die Arbeitsstellen von berenteten Chirurgen unter den verbleibenden Chirurgen zu verteilen, statt neue anzustellen. So bleibt der Chirurgenmangel bestehen. Dieses Problem wird aktuell viel in den Nachrichten diskutiert und es wird versucht, Lösungen zu erarbeiten.
Als deutsche Chirurgin in den Niederlanden arbeiten
Wenn Sie als deutsche Chirurgin in den Niederlanden arbeiten möchten, sollten Sie sich auf eine ganz andere Mentalität vorbereiten. Der größte Unterschied liegt, meiner Meinung nach, in der Tatsache, dass die Organisation in Krankenhäusern und Kliniken komplett anders ist. Es gibt zum Beispiel keine Chefärzte, sodass die medizinische Behandlung der Patienten durch alle Chirurginnen festgelegt wird. So gibt es mehr Raum für Diskussionen und es ist für die Assistenzärzte einfacher, an der Diskussion teilzunehmen und ihre Meinung zu äußern. Letztendlich ist der Chirurg, der operiert hat oder im Dienst verantwortlich war, zuständig für die definitive Behandlung. Für die praktische Organisation der Klinik ist das Management zuständig, das für den Betrieb verantwortlich ist.
Insgesamt sind die Krankenhäuser in den Niederlanden sehr effizient organisiert. So gibt es nur noch elektronische Gesundheitsakten und viel unterstützendes Personal, wie zum Beispiel Personal vom Labor, das für die Blutabnahmen im kompletten Krankenhaus zuständig ist. Außerdem werden Patientinnen nur nach den neuesten Standards behandelt (zum Beispiel nationale und lokale Leitlinien). Viele Behandlungen können (teils) ambulant stattfinden und laufen über die Polikliniken. Der Vorteil des effizienten Gesundheitswesens ist, dass die durchschnittliche Verweildauer in den Niederlanden unter dem europäischen Durchschnitt liegt. Dies definiert damit auch die Anzahl der Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner. Jedoch hat sich während der Corona-Pandemie ein Nachteil gezeigt: Die Kapazität der niederländischen Krankenhäuser war zu knapp, sodass Patienten in deutsche Krankenhäuser verlegt werden mussten.
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Effizienz des Gesundheitswesens ist die Arbeitsbelastung in den Niederlanden höher als in Deutschland, insbesondere die administrative Belastung ist hoch, da man in den Niederlanden alles dokumentieren muss. Dazu gibt es zweimal am Tag eine Übergabe und am Ende des Tages eine Besprechung: Tumorkonferenz, Morbiditäts- und Mortalitätsbesprechung, interdisziplinäre Besprechungen mit den Internisten und Gastroenterologen zu Therapiekonzepte etc. Fast alle Chirurginnen und Assistenzärztinnen sind bei diesen Besprechungen anwesend. Für die Assistenzärzte gehören sie zur Weiterbildung.
Schließlich ist die Beziehung zu den Patienten komplett anders. Deutsche Patientinnen sind viel höflicher und akzeptieren die Meinung der Ärzte, aber die niederländischen Patienten sind mündiger und haben schon vor dem Krankenhausbesuch im Internet recherchiert, welche Krankheit sie haben könnten oder welche Therapie sie haben möchten. Die Gespräche mit den Patienten sollten deswegen ausführlich die Vor- und Nachteile von verschiedenen Therapien enthalten, sodass die Patienten sich nach ‚shared-decision making‘ für die geeignetste Behandlung entscheiden können.
Clabbers L, Kirschniak A: Eine niederländische Chirurgin in Deutschland. Passion Chirurgie. 2021 Oktober; 11(10): Artikel 03_01.
Autoren des Artikels
Leontine Clabbers
Klinik für Allgemein- und ViszeralchirurgieKliniken Maria Hilf GmbHViersener Straße 45041063Mönchengladbach kontaktierenProf. Dr. med. Andreas Kirschniak
Leiter Themen-Referat Nachwuchsförderung im BDCThemen-Referat „Digitalisierung und technische Innovation“Klinik für Allgemein- und ViszeralchirurgieKliniken Maria HilfMönchengladbach kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
20.04.2021 Fachübergreifend
BDC-Praxistest: Video-Sprechstunden in der Chirurgie
Wer hat in den letzten Monaten der COVID-Pandemie nicht mit dem Gedanken gespielt, seinen ambulanten Patienten eine Video-Sprechstunde anzubieten – und musste dann nach einer ersten Recherche unter dem Stichwort „Telemedizin“ feststellen, dass alles gar nicht so einfach ist, wie von den Protagonisten dieses Formats immer propagiert wird. Deswegen dieser Beitrag „Video-Sprechstunde“, der für den niedergelassen wie klinisch tätigen Chirurgen die rechtlichen Grundlagen, technische Umsetzung, ökonomische Aspekte sowie Praktikabilität und Akzeptanz im chirurgischen Alltag darstellen und bewerten soll.
20.04.2021 Fachübergreifend
IT-Sicherheits-Richtlinie der KBV
Die Bundesregierung treibt die Digitalisierung im Gesundheitswesen (und nicht nur dort) mit erheblichem Druck voran. Der zwangsweise Anschluss aller Arztpraxen an die Telematik-Infrastruktur (TI) hat bei vielen Vertragsärzten zu großem Verdruss geführt, zumal die Ärzte dabei jahrelang nur als kostenlose Dienstleister für den Stammdatenabgleich der Krankenkassen fungiert haben. Für das Jahr 2021 sind nunmehr weitere Funktionen der TI in der Pipeline, die wenigstens für die Patientinnen und Patienten (Notfalldaten-Management) und hoffentlich im Verlauf des Jahres auch durch die verbesserte innerärztliche Kommunikation (KIM-Dienste) einen gewissen Benefit versprechen.
20.04.2021 Fachübergreifend
Die Digitalisierung im Bereich der Chirurgie hat große Chancen
Die Digitalisierung hat die medizinische Versorgung auf internationaler und nationaler Ebene erreicht und führt zu grundlegenden Prozessveränderungen im Gesundheitssystem. Das Ziel für die medizinische Betreuung ist dabei eine schnelle und effiziente, individualisierte, sichere, sowie eventuell auch kosteneinsparende Behandlung. Auch in der Chirurgie stellt die Digitalisierung eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung dar.
20.04.2021 Fachübergreifend
Die Zukunft des Digitalen im chirurgischen Training – Good Practise Sharing
Nicht erst seit der Coronakrise hat sich der Vormarsch digitaler Technologien auch in der Chirurgie gezeigt. Schon seit einigen Jahren werden für Kongresse, Messen, Tagungen oder Symposien, innovative Web-Applikationen und Tools eingesetzt.Für das Training in der Chirurgie wurden bis dato nur wenige digitale Tools oder Konzepte entwickelt, bzw. gibt es unseres Wissens noch keine Anwendung, welche sich nachhaltig in der Community durchsetzen konnte. Die Herausforderung der Fusion digitaler Möglichkeiten mit dem handwerklichen und kognitiven Training bei der Ausbildung der Chirurgie sind nachvollziehbar, jedoch komplex zu lösen.
Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!
Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.