01.05.2014 Qualitätssicherung
Der „Worst Case“ in der Chirurgie
Heute ist die Chirurgie mit ihren Subdisziplinen durch ein sehr hohes Maß an Sicherheitsstandards gekennzeichnet. Medizinisches Risikomanagement gehört zum klinischen Alltag. Aber auch in einem sicherheitsorientierten System ereignen sich tiefgreifende Komplikationen, die zu einem schwerwiegenden Schadenereignis führen können.
Der Begriff „Worst Case“ bezeichnet den schlechtesten und ungünstigsten Verlauf eines Prozesses. Solche Ereignisse sind in den chirurgischen Fächern selten, nicht immer vermeidbar und in der Regel sehr tragisch.
Der folgende Beitrag stellt einige ausgewählte Kasuistiken der Fachdisziplin Chirurgie vor, bei denen eine Kausalität zwischen einem Fehler und einem Schaden gutachterlich bestätigt wurde. Es handelt sich um Schadenereignisse aus der Datenbank der Ecclesia Versicherungsdienst GmbH, die auf die Absicherung von klinischen Risiken spezialisiert ist. Skizziert werden die Fälle allerdings weniger aus einer juristischen, sondern vielmehr aus einer klinisch-organisatorischen Perspektive.
Das Kriterium für die Selektion der vorgestellten Fälle war die Höhe des Regulierungsaufwandes. Außerdem wurden Fälle ausgewählt, die sich in den vergangenen acht Jahren ereigneten. Diese Kasuistiken wurden anonymisiert, und aus diesem Grund wird auch die konkrete Entschädigungssumme nicht genannt. Der finanzielle Aufwand des jeweiligen Versicherers lag aber in jedem Fall über 250.000 €.
Die vorgestellten Fälle sollen zur kritischen Reflexion des chirurgischen Handelns anregen. Immer dann, wenn in einer chirurgischen Abteilung ein Fehler passiert, der gravierende Folgen hat, werden dort selbstverständlich Maßnahmen zur Prävention eingeleitet. Gleichwohl kann auch aus den Fehlern anderer gelernt werden.
Fall 1, Schaden lt. Akte
Patient wird mit einer akuten Lumbalgie in der chirurgischen Abteilung aufgenommen. Im Rahmen der konservativen Behandlung verschlechtert sich der Allgemeinzustand und führt zur Verlegung auf die Intensivstation. Im weiteren Verlauf wird eine Reanimation nötig. Als Folge eines septischen Schocks und der Ausbildung von ausgeprägten Gangränen wird die Amputation der unteren Extremitäten nötig. Laut Gutachter liegt ein Behandlungsfehler vor, da eine nicht diagnostizierte Pneumokokkenpneumonie zu den fatalen Folgen führte. Auf dem Röntgenbild sei zweifelsfrei ein pneumonisches Infiltrat in der rechten Lunge erkennbar gewesen und eine rechtzeitig eingeleitete Antibiose hätte höchstwahrscheinlich den derzeitigen Zustand des Patienten verhindern können.
Ursachenkategorie: Diagnosefehler
Fall 2, Schaden lt. Akte
Durchführung einer Cholezystektomie und Verletzung im Bereich des Gallenblasenbettes der Leber. In der Folge entwickelte sich eine massive Peritonitis. Laut Gutachter erfolgte die Entfernung der Gallenblase fachgerecht. Ein zunächst perioperatives Nichterkennen der Gallenwegsverletzung kann dem Operateur nicht als Fehler angelastet werden, da nur sehr wenig Gallenflüssigkeit austrat. Die allerdings nach der Entdeckung der Läsion eingeleiteten Maßnahmen waren nicht geeignet, die bereits bestehende Peritonitis zu beherrschen. Diese sei durch eine rechtzeitige Revisionsoperation oder durch eine CT-gesteuerte Drainage beherrschbar gewesen. Durch die zeitliche Verzögerung der Sanierung der ursprünglich lokalen Peritonitis konnte sich eine diffuse Bauchfellentzündung mit Multiorganversagen, Hirnödem und intracerebraler Blutung entwickeln.
Ursachenkategorie: Therapiefehler, Diagnosefehler
Fall 3, Schaden lt. Akte
Laparotomie nach Perforation eines Ulcus ventriculi. Sowohl die Aufklärung über den operativen Eingriff als auch die Aufklärung über die Anlage des Peridualkatheters zur Schmerzausschaltung erfolgte sach- und zeitgerecht. Am vierten postoperativen Tag wurde der Katheter auf Wunsch des Patienten entfernt, wobei sich keine Auffälligkeiten der Punktionsstelle darstellten. Am Folgetag stellte sich eine Bewegungsunfähigkeit der unteren Extremitäten ein und ein lumbales MRT ergab den Nachweis eines spinalen Hämatoms mit Kaudakompression. Lt. Gutachter ist die Ursache des in der Folge entstandenen Querschnitts ein rückenmarksnaher Bluterguss mit Kompression. Diese Komplikation hätte eher erkannt werden können. Die endgültige Behandlung nach dem Auftreten der Lähmungserscheinungen beider Beine sei gemessen an den Leitlinien der Anästhesie und Neurologie zu spät erfolgt.
Ursachenkategorie: Diagnosefehler, unzureichende interprofessionelle und -disziplinäre Abstimmung Chirurgie und Anästhesie
Fall 4, Schaden lt. Akte
Patient wurde beidseits herniotomiert. Als Folge einer nicht rechtzeitig erkannten Infektion ist der Patienten inkomplett querschnittsgelähmt. Lt. Gutachter hätte bei der auftretenden, ungewöhnlichen Wundinfektion und den ansteigenden Entzündungsparametern ein Abstrich und die Durchführung einer Blutkultur erfolgen müssen. Als grob fehlerhaft wird die unvollständige antibiotische Behandlung mit einem nach Antibiogramm resistenten Antibiotikum sowie die Entlassung des Patienten bei weiterhin positiven Blutkulturen bewertet.
Ursachenkategorie: Behandlungsfehler
Fall 5, Schaden lt. Akte
Patientin wird appendektomiert. In der Folge wird ein Zweiteingriff wegen partieller Darmischämie des Colon ascendens nötig. Während lt. Gutachter die Entscheidung zur Appendektomie nicht angezweifelt wird, wird bezüglich der Nachbehandlung der Vorwurf erhoben, dass die Colonläsion um drei Tage zu spät erkannt und behandelt wurde. Die erforderlichen diagnostischen Schritte bei eindeutiger Symptomatik, insbesondere die Computertomographie, seien zu spät veranlasst worden. Bei rechtzeitiger Intervention sei die Peritonitis mit Lungenversagen und Langzeitbeatmung zu verhindern gewesen.
Ursachenkategorie: Diagnosefehler, nicht oder zu spät eingeleitete Therapie
Fall 6, Schaden lt. Akte
Behandlung eines Darmkarzinoms im Anfangsstadium. Eine insuffiziente OP-Naht führte zur Peritonitis, die für den Tod des Patienten verantwortlich gemacht wird. Der Gutachter sieht einen Behandlungsfehler darin, dass auf die bestehende Sepsis eine Revision erst mit dreitägiger Verspätung erfolgte und sich die Überlebenschancen des Patienten dadurch erheblich verschlechtert hätten. Spätestens in Kenntnis eines CT-Befundes hätte eine operative Revision erfolgen müssen.
Ursachenkategorie: Behandlungsfehler, Diagnosefehler
Fall 7, Schaden lt. Akte
Bei einer laparoskopisch durchgeführten Appendektomie kam es zu einer Verletzung der rechten Beinarterie dicht unter der Aufteilung der Hauptschlagader. Unter Hinzuziehung der Gefäßchirurgen aus einem anderen Betriebsteil konnte die durch die Trokarspitze verursachte Blutung gestillt werden. Eine indizierte Kompartmentspaltung erfolgte mit einer Verzögerung von sechs Stunden, sodass das Bein in der Folge amputiert werden musste.
Ursachenkategorie: Behandlungsfehler, Diagnosefehler
Fazit
Die vorgestellten Kasuistiken zeigen ein Phänomen auf, das auch in anderen Fachdisziplinen zu beobachten ist: Es ist nicht die „große“ Chirurgie, in der etwas schief geht, es sind oft Routineeingriffe, die häufig durchgeführt werden und kein hochspezifisches Know-how erfordern. Es sind auch nicht Aufklärungs- und Dokumentationsfehler, die, wie häufig behauptet, die Entscheidungen beeinflussen. Vielmehr sind bei über 30 % der Behandlungsschäden Diagnosefehler von entscheidender Bedeutung. Durch entsprechende Wachsamkeit und die rechtzeitige Einleitung von Kontrolluntersuchungen sowie eine interdisziplinär und -professionell abgestimmte Beobachtung des Patienten lassen sich viele Schadenfälle (aber sicher nicht alle) vermeiden.
Schadenfälle in der Chirurgie haben einen Anteil von 37,9 % der insgesamt gestellten Ansprüche und einen Anteil von 42 % am Regulierungsaufwand. In der Inneren Medizin ist das Verhältnis 12,4 % zu 11,9 % und die Geburtshilfe kommt auf 3,4 % am Anteil der Anspruchstellungen, aber auf einen Regulierungsaufwand von 16,6 % (Ecclesia Versicherungsdienst 2009).
Die Chirurgie gehört zweifelsohne zu den High-Risk-Disziplinen in der Gesundheitsversorgung, gleichwohl handelt es sich um einen Bereich mit einem schon heute sehr hohen Risiko- und Sicherheitsbewusstsein. Das muss so bleiben – dieser Standard darf nicht durch ökonomische Einschränkungen begrenzt werden. Chirurgie ist heute so sicher wie nie, aber sie kann noch sicherer werden.
Gausmann P. Der „Worst Case“ in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2014 Mai, 4(05): Artikel 02_04.
Autor des Artikels
Dr. Peter Gausmann
GeschäftsführerGRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbHEcclesiastraße 1-432758Detmold kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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