04.12.2018 Panorama
Der ungewöhnliche Weg zum Herzchirurgen
Ich bin als ein kleines Bäumchen mit kleinen Wurzeln aus Sri Lanka nach Deutschland gebracht worden. Jetzt bin ich ein ausgewachsener Baum, doch für viele bin ich immer noch ein Mangobaum, obwohl meine Wurzeln in Deutschland entstanden sind. Nur wer mich kennenlernt, findet heraus, dass ich deutsch bin, denn meine Wurzeln lernt man nur kennen, wenn man auch mit mir spricht.
Es war der Donnerstag, 16. März 1978, an dem ich als zweites von fünf Kindern im Norden von Sri Lanka in eine tamilische Familie geboren wurde. Meine Eltern, die Großeltern und wir Kinder lebten alle gemeinsam in einem Haus. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer noch die Bilder von den Feldern, auf denen meine Großmutter und ich arbeiteten, meinen Schulweg und nicht zu vergessen: die Tempelfeste.
Als ich fünf Jahre alt wurde, begann der Bürgerkrieg auf Sri Lanka. Ein Krieg, der ständig unseren Schlaf zerstörte, uns ständig zum Wegrennen zwang und letztendlich unser Familienglück zerstörte.
Meine ältere Schwester wurde immer kränker und kränker und nicht selten fuhr ich mit Mutter ins Krankenhaus und wir warteten stundenlang, manchmal vergeblich, um einem Arzt zu begegnen. Meine Schwester erkrankte an ihrer Niere und am Ende war sie dialysepflichtig, doch im Bürgerkrieg auf Sri Lanka gab es für sie keine Medizin, sie verstarb mit 12 Jahren. Ein Verlust für die ganze Familie, eine Niederlage für all die Jahre Kampf meiner Eltern, sie retten zu wollen.
Ich beendete die sechste Klasse und es gab für mich keine Möglichkeit, weiter zur Schule zu gehen. Ich stand am Straßenrand und verkaufte Benzin, Gemüse und Obst, um das Geld für die Familie zu verdienen.
Als ich 12 Jahre alt wurde, hatten meine Eltern Angst, dass ich von Soldaten getötet werden könnte. Sie wollten nach dem Tod meiner Schwester nicht noch ein Kind verlieren. Meine Mutter hatte die Idee, mich mit einer Schlepperorganisation zu meinem Onkel nach Deutschland zu schicken. Nach dreitägiger Reise vom Norden Sri Lankas nach Süden zur Hauptstadt Colombo organisierte Mutter für mich einen Schlepper. Sie verkaufte ein Grundstück und das restliche Geld bekam sie von meinem Onkel, um einen Schlepper zu bezahlen, der mich binnen einer Woche nach Deutschland bringen sollte.
Am 6. Januar 1991 stand ich vor meiner Mutter, ich weinte und weinte, denn ich wusste bis dahin nicht, dass ich ab dem Zeitpunkt allein mit dem Schlepper reisen musste. Es war mir nicht gestattet zu weinen, weil es am Flughafen auffällig sein konnte, wenn ein Kind weint. Meine Mutter ging auf die Knie und hielt meine beiden Hände und nahm mir drei Versprechen ab:
- trinke keinen Alkohol,
- rauche nicht und
- komm als Mediziner wieder zurück nach Sri Lanka.
Ich flog mit einer Gruppe von Tamilen von Sri Lanka nach Singapur, von dort aus nach Dubai, dann kam ich in Togo in Lomé an. Nach sechs Monaten Warten mit über 200 Tamilen aus dem Bürgerkrieg überquerte ich zu Fuß die Grenze von Togo nach Ghana; die Reise nach Europa ging nicht weiter. Ich kam wieder zurück nach Togo, letztendlich ging es weiter über Benin nach Nigeria und ich nahm meinen Flug über Spanien nach Deutschland. In der Nacht vom 9. auf den 10. September 1991, genau nach acht Monaten Odyssee, kam ich endlich in Deutschland an.
Ich durfte bei meinem Onkel in Hamburg wohnen und zur Schule gehen. Ich lernte die deutsche Sprache und als ich in der neunten Klasse war, wurde ich Klassensprecher und Schulsprecher meiner Schule. Wenige Wochen später wurde mein Asylantrag abgelehnt, ich sollte binnen drei Wochen Deutschland verlassen. Ein schwerer Stein fiel mir auf den Kopf. Ich verlor meinen Verstand, all das, von dem ich träumte, wurde mir gestohlen. Ich stand im elften Stock unseres Hauses, meine Gedanken waren mit dem Springen beschäftigt. Ich hatte plötzlich Bilder aus Sri Lanka, Bilder von meiner Kindheit im Kopf; ich sah meine Mutter in Gedanken. Ich bin nicht gesprungen.
Meine Schule kämpfte mit vollem Einsatz dafür, dass ich in Deutschland bleiben durfte. Ich klopfte an jede Tür, auch die der Kirche, um Hilfe zu bekommen. Alle Menschen unterstützen mich, die Lehrer zahlten die Anwaltskosten, ich durfte weiter zu Schule gehen. Mein Klassenlehrer übernahm die Bürgschaft, ich machte ein gutes Abitur und trotz meiner drohenden Abschiebung durfte ich in Deutschland Medizin studieren.
Ich arbeitete als Tellerwäscher, Reinigungspersonal, sechs Monate in einem Schnellrestaurant und zuletzt in der Pflege als Aushilfe. Ich habe mein Studium selbst gezahlt und unterstütze gleichzeitig meine Familie im Krieg.
2006 schrieb ich das Buch „Allein auf der Flucht“, machte über 100 Lesungen in Deutschland und kämpfte für Verständnis gegenüber Flüchtlingen. Ich widmete das Buch meinem deutschen Ziehvater Lorenz Köhler, der mein Klassenlehrer war.
2008 ging mein Traum in Erfüllung: Ich habe das Studium beendet. Ein Traum, der von meiner Mutter geprägt war. Das Flüstern meiner Mutter beim Arztbesuch mit meiner Schwester, wie schön es wäre, wenn wir in der Familie einen Arzt hätten. In dem gleichen Jahr bekam ich nach jahrelangem Kampf die Anerkennung, ein Teil der deutschen Gesellschaft zu sein: Ich wurde deutscher Staatsbürger.
Meine Eltern schafften es, alle meine Geschwister aus dem Bürgerkrieg ins Ausland zu bringen. Unsere Familie besteht aus fünf Nationalitäten. Meine Eltern sind Sri Lankaner, meine Schwester Vani Kanadierin, meine Schwester Nala Engländerin, mein kleiner Bruder Amerikaner und ich bin Deutscher.
2014 kam die Nachricht, dass nach langem Krankheitsverlauf mein Vater auf Sri Lanka verstorben war. Ich kämpfte mit mir, da ich nie dort sein wollte, wo unschuldige Menschen getötet wurden. Aber als ältester Sohn war es meine Pflicht, bei der Beerdigung meines Vaters dabei zu sein. Nach hinduistischem Glauben sollte ich bei der Verbrennung des Leichnams meines Vaters das Feuer anzünden. Schrecklich war mir die Vorstellung, doch es war meine Pflicht als Sohn.
Umeswaran Arunagirinathan |
23 Jahre nach meiner Flucht aus dem Bürgerkrieg in Sri Lanka war ich zum ersten Mal wieder in meiner früheren Heimat. Auf dem Rückflug nach Europa waren meine Kriegsängste endlich verschwunden. Ich wusste jetzt, dass ich jederzeit nach Sri Lanka zurückkommen konnte. Beim Landeanflug auf Hamburg atmete ich tief durch und sagte mir: „Hier bist du zu Hause, Umes.“ |
„Der fremde Deutsche“ ist die Geschichte der gelungenen Integration eines tamilischen Kriegsflüchtlings, der als unbegleiteter zwölfjähriger Junge nach Deutschland kam. Die Odyssee seiner achtmonatigen Flucht beschrieb Umeswaran Arunagirinathan in seinem 2006 erschienenen Buch „Allein auf der Flucht“. Jetzt berichtet er über sein Leben in der neuen Heimat. Anschaulich schildert er seinen Weg vom geduldeten Kinderflüchtling zum Arzt und deutschen Staatsbürger. Dabei lotet er auch die Möglichkeiten, Erwartungen und Probleme einer Integration aus und setzt sich kritisch mit den Lebensformen und der Kultur seines Herkunftslandes auseinander. Der Autor will mit seinem Buch bei Deutschen um mehr Verständnis für Flüchtlinge werben und zugleich Flüchtlinge ermutigen, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen. |
Nach 24 Jahren flog ich nach Sri Lanka, zum ersten Mal waren alle Geschwister bei den Eltern, ein trauriger Anlass zum Tod meines Vaters. Ich erlebte meine Mutter nicht lächelnd, eine starke Frau, die mir eine Zukunft schenkte und mein Leben rettete. Nach der Beerdigung meines Vaters stand ich im Hinterhof unseres Hauses, unter dem Mangobaum, den meine verstorbene Schwester und mein Vater mit mir gemeinsam vor 28 Jahren gepflanzt hatten. Ich fragte meine Mutter, ob sie sich an den 6. Januar 1991 erinnert, an die drei Versprechen, die ich ihr abgegeben habe. Sie sah mich an und erinnerte sich nicht mehr. Ich sagte ihr: „Mama ich habe noch nie einen Schluck Alkohol getrunken, nie geraucht und nun stehe ich als Mediziner vor dir.“ Ich sah sie zum ersten Mal lächeln nach dem Tod meines Vaters.
Wenn im Leben Ziele erreicht sind, kommen neue Träume, so lernte ich das Fach Herzchirurgie während meines Studentenjobs kennen. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, auch so „cool“ zu werden, wie die Herzchirurgen aus Lübeck. Ich arbeitete über sieben Jahre in Hamburg am Universitätsklinikum, wurde Assistentensprecher und war Vertreter im Ärzteparlament. Ich wurde nicht ausgebildet, andere Kollegen (Bio-Deutsche) wurden vorgezogen, ich bekam zu hören: „Für Sie ist es schon ausreichend, wo Sie sich gerade befinden.“
Jeder Mensch sollte sich auf dem Weg zu seinen Zielen und Träumen biegen können, aber niemand darf sich dabei brechen lassen. Ich wollte mich selbst nicht verlieren, also verließ ich mein Zuhause Hamburg und ging nach Bayern. Dort bin ich auf dem besten Weg, Herzchirurg zu werden. Auch dieser Traum wird mir erfüllt werden.
Im Jahr 2017 schrieb ich das Buch „Der fremde Deutsche“. Wenn mich jemand in Deutschland nach meiner Hautfarbe fragt, woher ich komme, akzeptiert er meine Antwort „Deutschland“ nicht. Wenn aber einer mit meiner Hautfarbe in den USA sagt, dass er Amerikaner ist, wird dies nicht hinterfragt. Wir brauchen in Deutschland Zeit, die Menschen müssen lernen zu akzeptieren, dass auch dunkelhäutige Menschen Deutsche sein können.
Als ehemaliger Flüchtling und deutscher Staatsbürger möchte ich den Dialog zwischen den Ankommenden und hier Lebenden fördern. Ich möchte mit meinem Buch erreichen, dass Fremde sich in unsere Gesellschaft integrieren und eines Tages nicht mehr fremd fühlen. Ich möchte in Zukunft als ehemaliger Flüchtling nicht nur ein Teil der Gesellschaft sein, sondern auch ein Gestalter unserer Gesellschaft.
Autor des Artikels
Dr. med. Umeswaran Arunagirinathan
Klinik für KardiochirurgieHerz- und Gefäß-Klinik Bad NeustadtSalzburger Leite 197616Bad Neustadt a. d. Saale kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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