Man liest und hört es zurzeit überall: Der Mediziner bangt um seinen Status als „Halbgott in Weiß“. Ärzte sorgen sich um das Ansehen ihrer Profession und sehen sich selbst zunehmend in der Rolle von Dienstleistern, die stetig anspruchsvoller werdenden Patienten sowie einem System, in dem nur noch ökonomisch und profitorientiert argumentiert wird, gegenüberstehen. Wer das zu pauschalisierend findet, dem kann man nicht widersprechen. Sicher, unser Gesundheitssystem ist heterogen und geprägt von ganz unterschiedlichen Menschen. Nicht alles und jeder lässt dich da über einen Kamm scheren. Das gilt gerade auch für die Vielzahl an unterschiedlichen Ärzte-Typen. Es gibt nicht nur große Gegensätze zwischen den zahlreichen Fachrichtungen, sondern ebenso nicht den typischen Internisten, Orthopäden oder eben „den” Chirurgen. Kinderchirurgen etwa arbeiten grundverschieden zu Unfallchirurgen, beide müssen fachlich wie menschlich andere Herausforderungen und Situationen bewältigen.
Ein Artikel, der den Blick „von außen” auf „den Chirurgen” zum Inhalt hat, kommt deshalb nicht daran vorbei, subjektive Seiten, persönliche Erfahrungen und Eindrücke einzubeziehen. Er muss mit Verallgemeinerungen arbeiten, abstrahieren und auch pauschalisieren. Was in diesem Artikel zur Sprache kommt, setzt sich zusammen aus Gesprächen am Abendbrottisch, aus Diskussionen mit Kollegen und Freunden, aus Kommentaren, die auf Stehpartys, Zugfahrten und Spaziergängen gefallen sind. All dies mündet in die erste Einschätzung: Wenn es eine Fachrichtung gibt unter den Medizinern, die es doch geschafft hat, sich in dem wandelnden System und ungeachtet des Zerfallens gesellschaftlicher Gemeinsamkeiten viel von dem Bild des sprichwörtlichen „Halbgotts in Weiß” zu erhalten, dann sind es die Chirurgen.
Dass Mediziner im Allgemeinen entgegen des eingangs benannten Bangens immer noch zu den angesehensten Berufsgruppen in unserer Gesellschaft zählen, belegen Umfragen Jahr für Jahr. Gerade Kinderärzte und Hausärzte sind für viele wichtige Vertrauenspersonen. Doch Chirurgen tragen gegenüber anderen Ärztegruppen einen nochmals anderen Status. Warum ist das so?
Manch einer meiner Gesprächspartner meint: „Das liegt daran, dass dann, wenn der Chirurg zum Einsatz kommt, es wirklich schlimm um den Patienten steht.” Zum Hausarzt, Dermatologen oder Augenarzt gehe man regelmäßig, zum Chirurgen aber nur, wenn etwas „Besonderes” anliege.
Ein operativer Eingriff ist in den Augen vieler Patienten eine Art Ultima Ratio. Kommt es zur Operation, gibt es kaum eine andere ärztliche Behandlung, bei der sich der Patient einem Mediziner so ausgeliefert fühlt wie unter der Narkose. Was zwischen Einleitung und Aufwachraum passiert, kann sich der Patient nur erklären lassen. Er ist gefühlt nicht dabei und muss damit dem Chirurgen ein ganz besonderes Vertrauen entgegenbringen. Für den Patienten bleibt die Zeit im gekachelten Operationssaal etwas Abstraktes, der Operationsvorgang manches Mal gar ein Enigma oder Mysterium – wird er etwas durch den Eingriff von einem schweren Tumor, einem komplizierten Bruch oder einer akuten Entzündung geheilt. Doch unabhängig von dem Grund für den Eingriff: Was dem Patienten nach der Operation bleibt, ist „nur” eine Narbe. Sie ist ein stiller Zeuge von dem, was mit dem eigenen Körper geschah, während der Patient ohnmächtig schlief. Zum Bild des Chirurgen zählt damit etwas Unergründliches.
„Der Chirurg hat von mir mehr gesehen und berührt als ich selbst. Ich weiß nicht, wie meine Schilddrüse aussieht und sich gar anfühlt”, sagte mir ein anderer Bekannter, den ich nach seinem Bild von einem Chirurgen fragte. Auf einer Party schnappte ich die Aussage auf: „Chirurgen überschreiten jeden Tag natürliche Integritätsgrenzen, indem sie andere Körper öffnen.” Manch einen, der mit am Stehtisch stand, erfüllt diese Vorstellung mit Faszination, einen anderen mit Widerwillen gegen die darin liegende Distanzlosigkeit bis hin zu Ekel.
Chirurgen haben Einblicke in den Menschen, die anderen, darunter dem Betroffenen selbst, verwehrt sind. Darm, Milz und Leber in der Hand zu halten, an winzigen Gefäßen zu manipulieren oder zersplitterte Sprunggelenke wieder zusammenzufügen, wird von vielen als etwas fassungslos Staunenswertes, gar Übermenschliches, als ein Stück Schöpfungsakt empfunden – weitere Eindrücke, die das Bild des Chirurgen formen.
Darüber hinaus gilt der Chirurg bei vielen als der Macher unter den Ärzten, als letztmöglicher Problemlöser. In der Wahrnehmung von Laien macht der Chirurg – zumindest derjenige, der in einer Klinik arbeitet – wenig Diagnostik. Da wird nicht wochenlang eine Creme angewendet oder ein Medikament gegeben, das am Ende doch keine Abhilfe leistet, sondern da wird geschnitten, genagelt und genäht – und das mit höchster Präzision und Konzentration.
Das Wissen um und auch die Hochachtung vor dem handwerklichen Geschick des Chirurgen führen zu einer besonderen Erwartungshaltung an sein Tun und addieren sich zu seinem Ansehen als Mediziner. Denn dem Laien ist durchaus bewusst: Über einen operativen Erfolg oder Misserfolg können wenige Millimeter, feste Knoten, schwindende Konzentration oder müde Hände entscheiden. Der Patient weiß, wenn bei dem Eingriff etwas schief läuft, kann das besonders schwerwiegende Folgen für ihn haben. Im Bild des Chirurgen bündeln sich damit auch Nervenstärke, Konzentrationsmeisterschaft, Exaktheit und feinstmotorisches Geschick.
Doch auch „Furcht vor ihm” gehört zum Bild des Chirurgen. Sie reicht in der Spannweite von Ehrfurcht bis Angst. In die Furcht mischt sich bei manch einem beim Blick auf den Chirurgen das Gefühl von Abgebrühtheit. Der Mediziner mit Mundschutz und grüner Haube gilt bei einigen meiner Gesprächspartnern als gefühlskalt, unempathisch, in dessen Berufsauffassung die persönliche Bedeutung einer Operation für den einzelnen Patienten und dessen Leid keinen Platz haben. Operiert der Chirurg tagtäglich, mehrere hundert Mal im Jahr, kann eine Operation nicht selten die Zeitrechnung für den Patienten auf den Kopf stellen. Für den Erkrankten gibt es dann nur noch die Zeit vor der Operation und die danach.
Operationen sind einzigartige Erlebnisse im Leben eines Einzelnen. Mehr Verständnis dafür wünscht sich manch einer von den Chirurgen. Der Chirurgen ist eben der „harte Hund unter den Ärzten” fasst es ein Freund auf einer Zugreise zusammen. Zu dieser Feststellung trägt auch die Wahrnehmung bei, dass die Chirurgie – mehr als andere Fachrichtungen – noch immer von starken Hierarchien geprägt ist. Dass am Operationstisch häufig ein durchaus strenger, manchmal gar rauer Ton zwischen leitenden Ärzten und Assistenten gebräuchlich ist, hat sich bis zu den Laien rumgesprochen.
Was bleibt nun, wenn man all diese Aussagen, Charaktereigenschaften und Wahrnehmungen zu einem Bild des Chirurgen formen will: Den Status eines „Halbgottes” hat er sicher für die meisten wirklich nicht (mehr) inne, viele sehen aber den Chirurgen durchaus an einer Schnittstelle zwischen Realität und Unbegreiflichem arbeiten. In den Augen der Öffentlichkeit ist der Chirurg eine eigene Spezies unter den Medizinern. Sein Image umgreift die Spannweite von Faszination über Bewunderung bis zu Widerwillen und Furcht. Spricht man über „den Chirurgen” entsteht ein vielfältiges Gesamtbild, dessen einzelne Mosaikstück sich nicht ausschließen. Chirurg – vielleicht liegt das Faszinierende an dieser Tätigkeit für viele gerade in den Widersprüchen, die sich integral in einem Berufsbild verbinden.