01.05.2020 Panorama
Cum statt contra – ein Plädoyer für ein Mehr an Miteinander
Die Ärzteschaft ist zerstritten! Es bekämpfen sich aber heute nicht mehr wie so oft unterschiedliche Fachdisziplinen oder Versorgungsstufen in ihren hegemonialen Ansprüchen, sondern ganze Arztgenerationen in tiefgehenden Systemfragen. Jung gegen Alt, Alt gegen Jung: Während die Einen unter dem Schlagwort „aushalten“ Stabilität, Kompetenztraining und Resilienz fordern, schwelgt der Nachwuchs eher in Teilzeitflexibilität, Babypause und der Schonung eigener Gesundheit. Beides wohlgemerkt für Berufsanfänger im Alter von Mitte bis Ende 20, einer Zeit in der man eigentlich mit Vollgas startet, aber auch mal Fehler macht. Ein tragfähiger Kompromiss erscheint unter solchen Prämissen a prima vista nicht vorstellbar.
Neu ist das nicht. Denn der Generationenstreit in der Ärzteschaft geht mittlerweile in das zweite Jahrzehnt. Zum Startpunkt der fortgesetzten Revolte in der Medizin – dem legendären Ärztestreik aus 2006, der seinen Abdruck sogar auf Wikipedia hinterlassen hat – schlug der jüngeren Generation unter dem Motto „endlich“ noch viel Sympathie aus der ärztlichen Seniorenklasse entgegen. Man kämpfte zu den Zeiten ja auch um Gerechtigkeit in Lohn und Arbeitszeit, und die Zeche dafür sollten ganz andere zahlen. Nur vereinzelt konnte man damals schon die ersten Kassandra-Rufe der Seniorität vernehmen, die in dem Aufstand der Jungen gleichzeitig einen ethisch-moralischen Verfall witterten. Ein kleiner Riss zwischen Jung und Alt tat sich bereits auf, auch wenn wohl niemand erwartet hätte, dass daraus in kurzer Zeit eine Gletscherspalte wird. Doch die vermeintlich unstillbaren Begierden der Generation Y (kann man diesen Begriff noch ertragen?) brachen sich weiter Bahn, während die Bollwerke der alten Babyboomer und Xer fast trotzig Jahr um Jahr verstärkt wurden. Und so stolpern die jungen und die alten Ärzte mittlerweile munter von einer Eskalation in die nächste, um sich scharend ein Heer aus selbsternannten Experten, Beratern und Moderatoren des Wandels, deren herausstechende Eigenschaft die wahlweise profitgierige oder geltungssüchtige Lust am Streit zu sein scheint. Und in der ersten Reihe um den Boxring mit den belfernden Parteien amüsieren sich Politik und Kostenträger über die Selbstzerfleischung, dabei nicht müde werdend, die Streithähne wechselseitig mit Munition zu befeuern. Übertrieben? Nein.
Doch was macht die Kluft zwischen den Generationen so unüberwindbar, was verhärtet die Fronten so sehr, was spaltet die eigentlich natürliche Solidarität in der Berufsgruppe hier tatsächlich? Vielleicht ist es nur das immer wiederkehrende Phänomen des Generationenwechsels, das ohne Zweifel unvermeidbar, aber nicht unüberwindbar ist. Denn Konflikte zwischen den Jungen und den Alten sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheitsgeschichte. Während die einen alles ändern wollen, schützen die anderen den Bestand – und beide Seiten beklagen fehlenden Respekt: vor der Würde des Alters wie vor der Kraft der Jugend, vor dem Wert der Tradition wie vor der Wucht der Zukunft. Seit der Erfindung der Schrift ist dieser Streit dokumentiert. Und auch in unserem heutigen Alltag findet sich der Clash of Generations bis in kleinste Details verlässlich wieder. Der Gebrauch von Smartphones ist ein redundantes Beispiel, aber früher wurden ja auch die Bälle von jungen Fußballern viel besser aufgepumpt. Die Diskussion der Generationen ist also nicht nur alt, sondern auch überall und sicher kein Weltuntergang. Aber wie langweilig erscheint es angesichts dieser simplen historischen Betrachtung auch aktuell in diesen Rollenmustern zu verharren? Welche intellektuelle Verschwendung bedeutet das Mantra der ewig gleichen, mittlerweile verhärteten Positionen? Wie können wir so hartnäckig negieren, dass jede Lösung immer im Kompromiss liegt? Machen wir uns doch nicht vor aller Welt lächerlich.
Grundsätzlich sitzen alle Ärzte im gleichen Boot, wir rudern nur alle anders. Diese geschundene Metapher ist so abgeschmackt wie zutreffend. Denn je einfacher die erste gemeinsame Grundannahme gewählt wird, umso leichter fällt der Start. Der nächste Schritt aus diesem Kreiselkurs wäre die gegenseitige Akzeptanz. Es gibt beide – Jung und Alt – und wir können beide ohne den anderen nicht. Das muss man ja nicht gut finden, doch wir müssen ja auch nicht heiraten. Nur scheiden lassen können wir uns auch nicht. Schon die gegenseitige Akzeptanz der puren Existenz führt zu mehr Respekt. Und jede Generation wählt auf der Basis des sich ständig verändernden Lebensumfelds neue Prämissen – nur so ist gesellschaftlicher Wandel möglich. Ist das per se falsch? Nein. Ist das per se richtig? Auch nein. Erstmal ist es nur anders. Danach könnte ein tiefer gehender Blick auf die unterschiedlichen Motive weiterhelfen. Beide Parteien stehen unter hohem gesellschaftlichen Druck, und zwar in ihren sozialen Gruppen oder neudeutsch Peergroups. Die Umgebung der jungen Ärzten erwartet ein hohes Maß an Selbstbestimmung und zwar vor allem im privaten Sektor, während die Peergroup der Älteren Strukturtreue in der Profession zum hohen Maßstab erhebt. Merke: das hat primär auf beiden Seiten zunächst mal nichts mit beruflicher Leistungsbereitschaft zu tun! Und was ist denn daran falsch, sich eng um seine Familie zu kümmern, eine aktive Freizeitgestaltung zu betreiben oder verlässliche Arbeits- und Weiterbildungszeiten zu suchen. Zunächst genau so wenig wie an einer resilienten Haltung zur Arbeitslast, ökonomischem Verantwortungsbewusstsein und gesellschaftlicher Opferbereitschaft. Nur bei verhärteten Diskussionsfronten erscheinen diese Ziele divergent, nämlich genau dann, wenn sie zum Dogma erhoben werden. Denn unter dem Leitspruch „allein so geht’s“ entwickeln sich nur diskursive Filterblasen (im strengen Sinn eigentlich per se ein Oxymoron), die sich wesenstreu intern bestätigen und den Konflikt so weiter triggern. Die Jungen tagen mit den Jungen, die Alten mit den Alten, und beide verabschieden in schöner Regelmäßigkeit das nächste Pamphlet, welches nach der Übergabe vice versa direkt im gedanklichen Schredder landet. In diesem fortgeschrittenen Stadium erzeugen abweichende Sprachmuster ein fortgesetztes, fundamentales Unverständnis – Leistung ist dann nicht mehr gleich Leistung und Freizeit nicht mehr gleich Freizeit. Und eh man sich versieht verbleibt nur noch eine vorwurfsvolle Emotionalisierung. Leistung und Freizeit mutieren von Werten zu Schimpfworten. Das ist das Ende der echten Diskussion. Ehepaare stehen jetzt übrigens kurz vor der Trennung.
Und genau da stehen wir jetzt auch. Im Kampf der flitternden Revolution mit dem verkniffenen Establishment stellen das Projekt „KomMedment“ sowie ein Aufruf junger Ärzte solche Kampfschriften dar. Inhaltlich durchaus nicht falsch und akademisch wohl formuliert bieten sie beide keine Grundlage für eine realitätsnahe Diskussion, sondern erheben den eigenen Standpunkt zur dogmatischen These. Verständnis für die andere Position wird so nicht signalisiert, für die eigene aber auch nicht erreicht. Die Leserbriefe im Deutschen Ärzteblatt als Reaktion auf die Erlanger These aber auch die freien Kommentare in einer BDC-Umfrage unter leitenden Ärzten zu Neueinstellungen in der Chirurgie sprechen hier Bände. Man mag sich nicht mehr, oder plumper: Man hat die Schnauze voll.
Im Sinne aller ist es Zeit für eine deutliche Kurskorrektur. Fangen wir an, uns gegenseitig wieder zu respektieren. Keine Partei hat Unrecht. Denn die alten Ärzte sind die Stammspieler der Gegenwart, doch die jungen Ärzte stellen die Helden der Zukunft. Die einen lenken das System, und die anderen werden es lenken. Hören wir auf idealistische Positionen zu proklamieren, die vor Realitätsferne nur so strotzen. Die ständig neuen Forderungen des Marburger Bunds sind ohne zusätzliche Finanzierung im Alltag nicht durchsetzbar, sondern erhöhen im schlechtesten Fall nur den Druck auf die leitenden Krankenhausärzte. Da wird doch wohl der zweite vor dem ersten Schritt gemacht. Das ist genauso falsch, wie der Aufruf zu alter Stärke, der unter dem Motto „früher war alles besser“ die sinnvolle Modernisierung ärztlicher Arbeit boykottiert. So macht man gar keinen Schritt. Gehen wir, aber gehen wir zusammen. Lasst uns Kontroversen führen, aber dabei immer den Kompromiss suchen. Meiden wir auf beiden Seiten die falschen Propheten und Claqueure, die uns Ärzte oft nur für ihren Eigennutz begleiten. Kein Politiker, Krankenhausvorstand, Gewerkschaftler oder Klinikleiter wird neue Bestimmungen oder Vorschriften in heilbringende Arbeit umsetzen. Das können wir nur selbst. Befreien wir uns doch wieder ein kleines Stück von der Fremdbestimmung, die uns eigentlich doch alle quält. Der Arztberuf war mal frei! Lösen wir die Filterblasen auf – wir müssen uns gegenseitig zuhören, und nicht in den eigenen Zirkeln im Lamento versinken.
Jung und Alt gehören zur Reform an den gleichen Tisch. Erinnern wir uns an unsere gemeinsamen Ziele – wir sind alle Ärzte, denn nur so gewinnen wir unsere interne Solidarität zurück. Echte Gegner wie die überbordende Bürokratie, effektheischende Politpropaganda, patientenferne Sparprogramme, selbstgenügende Pseudo-Innovationen oder unangemessene Erwartungshaltungen gibt es genug, wir müssen uns nicht selbst bekämpfen. Wir sitzen wirklich alle im gleichen Boot, also sollten wir unsere Tempi und Rhythmen aneinander angleichen. Beide!
Krones CJ: Cum statt contra – ein Plädoyer für ein mehr an Miteinander. Passion Chirurgie. 2020 Mai, 10(05): Artikel 09.
Autor des Artikels
Prof. Dr. med. Carsten Johannes Krones
Leiter BDC-Themen-Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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