Alle Artikel von Katrin Kammerer

Ärzte haben gute Freunde

Eine Umfrage unter rund 1.100 Medizinerinnen und Medizinern liefert erstmals Einblicke in ihr Sozialleben und ihre Freundschaften

Ärzte und Ärztinnen sind im Job den ganzen Tag in Kontakt mit Patienten und Kollegen. Aber haben sie auch noch Zeit und den Nerv für Freundschaften? Wie managen sie ihr Sozialleben, damit sie einen guten Ausgleich zum stressigen Job bekommen? Die Medscape-Umfrage, an der rund 1.100 Personen online teilnahmen, bietet zum ersten Mal einen Einblick in diese „private“ Welt von Medizinerinnen und Medizinern.

„Es bleibt neben der Arbeit kaum Zeit, um Freundschaften zu pflegen“, schreibt ein Intensivmediziner zum Beispiel. „Meine Freunde akzeptieren jedoch, dass ich oft keine Zeit habe.“ Und eine Kollegin aus dem Bereich Rehabilitation ergänzt: „Durch Bereitschaftsdienste fehlt die Möglichkeit, sich zu speziellen Events zu treffen.“ Teilweise müsse sie kurzfristig Dienste für Kollegen übernehmen und eigene Interessen hintenanstellen. Trotz der Hürden, die der Job mit sich bringt, schaffen es doch sehr viele, Freundschaften zu schließen und diese auch zu pflegen.

Die folgenden Grafiken stellen die Antworten der Befragten übersichtlich dar.

Ergebnis: Ärzte pflegen viele Freundschaften trotz der knappen Zeit

Die Umfrage hat ergeben, dass Ärzte zahlreiche Freundschaften im realen Leben pflegen; Social-Media-Freunde zählen hier nicht dazu. Die Mehrzahl hat bis zu 5 Freunde (34 %) oder 6 bis 10 Freunde (37 %). Seltener sind 11 bis 15 Freunde (14 %) und 16 oder mehr Freunde (14 %). Die Befragten rechnen meist 1 bis 5 Personen, seltener 6 bis 10 Freunde, zum engeren Freundeskreis. Eine beste Freundin bzw. einen besten Freund hat rund jede/r 3. Medscape-Leserin oder -Leser (Daten nicht grafisch dargestellt).

Abb. 1: Wie viele Freundinnen und Freunde haben Sie?

Doch was sagen die Zahlen wirklich aus? Dazu ein Benchmarking, das auf repräsentativen Befragungen aller Einwohner und Berufsgruppen Deutschlands beruht – allerdings mit anderem Studiendesign. Demnach hatten 9 % der Deutschen keine Freunde, 17 % einen Freund, 26 % 2 Freunde, 21 % 3 Freunde und 27 % 4 oder mehr Freunde. Einer anderen Umfrage zufolge liegt die Zahl an engen Freunden bei 3,7 Menschen – plus 11 Personen als erweiterter Freundeskreis.

Abb. 2: In welche Kategorie würden Sie die meisten engen Freunde einordnen?

Zwar lassen sich die Befragungen aufgrund ihres unterschiedlichen Designs nicht 1:1 vergleichen. Sie liefern aber Hinweise, dass Ärzte tendenziell sogar mehr Freunde haben als die Durchschnittsbevölkerung.

So lernen Ärzte neue Freunde kennen

Wenig überraschend kommt ein Großteil aller engen Freundinnen und Freunde aus der Hochschulzeit (25 %) oder aus dem Kollegenkreis (18 %), seltener aus der Schulzeit (17 %) oder aus der Kindheit (6 %). Auch Hobbys, speziell über den Sport, Kontakte über die Familie, Kinder oder über Nachbarschaften spielen eine Rolle. Die Leser wählten hier eine Kategorie aus, die ihnen am wichtigsten war fürs Kennenlernen von Freunden.

Zum Vergleich wieder ein Blick auf die Allgemeinbevölkerung: Am häufigsten kennengelernt haben Deutsche ihre aktuellen Freunde im Job (45 %), auf weiterführenden Schulen oder während der Ausbildung (jeweils 22 %) und bei Hobbys (21 %).

Nicht drauf angelegt: Gerne Mediziner als Freunde

Überraschend ist, dass Ärztinnen und Ärzte häufig auch im Privatbereich unter sich bleiben: Die meisten Freunde von Medizinern und Medizinerinnen sind selbst Ärzte (76 %), seltener Pflegefachkräfte (8 %). Bei genauerem Nachfragen stellt sich heraus, dass dies nicht Absicht ist: 47 % legen es nicht darauf an, dass Freundschaften im beruflichen Umfeld entstehen – und nur 9 % geben an, dies auch zu mögen. 36 % trennen lieber Beruf und Privatleben. Nur 9 % schätzen es, Freunde am Arbeitsplatz kennenzulernen (Daten der Umfrage nicht grafisch dargestellt).

Abb. 3: Die meisten Ihrer Freundinnen und Freunde sind von Beruf …

Wie häufig Kollegen auch Freunde werden

Immerhin geben 71 % der Umfrageteilnehmenden an, einige Kollegen aus dem Joballtag seien auch Freunde; 27 % der Ärzte gehen aber eher auf Distanz und pflegen unter Kollegen keine Freundschaften. Wer Freunde im Kollegenkreis hat, interagiert ständig bzw. häufig (25 %), gelegentlich (40 %) oder nie (35 %) mit ihnen.

Oft haben Freunde der befragten Medscape-Leser:innen ähnliche Abschlüsse und einen ähnlichen sozialen beziehungsweise finanziellen Status (74 % Zustimmung). Sie sind meist auch im gleichen Alter (73 % Zustimmung; Daten hier nicht grafisch dargestellt). Das Ergebnis erstaunt nicht wirklich, denn viele Freundschaften entstehen während des Studiums oder im Beruf.

Wirkt Vitamin B?

54 % der Befragten werde zwar im Joballtag von Freunden unterstützt (Daten nicht dargestellt). Doch nur 6 % schreiben, dass ihre Karrierechancen sich durch Freundschaften ständig bzw. häufig verbessern. Bei 21 % ist das immerhin ab und zu der Fall. Berufliche Vorteile bei Jobangeboten oder Nebenjobs durch befreundete Kollegen sehen die meisten nicht (73 %).

Abb. 4: Mit Freunden arbeiten

Woran scheitern Ärzte, wenn sie Freundschaften knüpfen?

74 % schreiben, dies liege sehr häufig bzw. häufig am Job – 24 % sehen hier wenige bis keine Probleme. An der Frage, ob auch familiäre Verpflichtungen eine Rolle spielen, scheiden sich die Geister. 43 % sehen hier sehr häufig bzw. häufig Schwierigkeiten durch die fehlende Zeit, während 55 % das dementieren.

Abb. 5: Verbessern sich durch Freunde Ihre Karrierechancen?

Eine Psychiaterin erzählt in den Kommentaren: „Der Tag hat nur 24 Stunden – und wenn ein Großteil die Arbeit einnimmt, dann geht noch ein Teil der übrigen Zeit für familiäre Verpflichtungen drauf und damit bleibt einfach weniger Zeit für die Freundschaftspflege.“ Ihre Strategie: „Ich prüfe, bevor ich neue Freundschaften eingehe, ob ich denen zeitlich gerecht werden kann.“

Abb.6: Beruf und Familie – die wichtigsten „Freundschaftskiller“

Die Herausforderungen: Wenig Zeit, weite Entfernungen, wenig Energie

Woran scheitern Freundschaften mitunter? Die befragten Ärzte nennen (Mehrfachantworten waren möglich) vor allem zwei Gründe: fehlende Zeit (73 %) und große Entfernungen (47 %). Beides mag berufliche oder familiäre Gründe haben.

Und am Abend oder am Wochenende schätzen Kollegen die arbeitsfreie Zeit; 27 % der Medscape-Leser:innen der Studie fehlt einfach Energie, um soziale Bindungen aufrechtzuerhalten.

Abb. 7: Warum fällt es Ihnen schwer, mit Freunden in Verbindung zu bleiben?

Abb. 8: Wie oft streiten Sie mit engen Freunden?

Abb. 9: Freundschaften mit Patienten

Lieber Harmonie

Bei anderen Themen herrscht mehr Einigkeit. Viele der Befragten harmonieren nicht nur bei medizinischen, sondern auch bei politischen Themen mit ihrem Freundeskreis mehr oder minder stark (60 %). Nur 10 % scheinen andere Ansichten zu haben als ihre Freunde. 79 % streiten sich selten oder nie im Freundeskreis; nur bei 19 % kommt es manchmal zum Disput. Harmonie wird groß geschrieben in Freundschaften.

Freunde behandeln – geht das gut?

Dass sich Ärztinnen und Ärzte sich mit ihren Patienten anfreunden, ist anscheinend keine Seltenheit. Fast jeder dritte Teilnehmer und jede Teilnehmerin kennt dies. Aber entsteht daraus ein Gewissenskonflikt, wenn Freunde in die Sprechstunde kommen und behandelt werden möchten? Zumindest die Teilnehmer:innen der Medscape-Umfrage haben damit kaum Probleme (siehe Grafik). Nur 17 % vertraten die Meinung, dies sei generell abzulehnen. 46 % haben nur Bedenken, falls die Objektivität des Behandelnden gefährdet wird. 37 % sind jedoch strikt dagegen.

Abb. 10: Ich hätte mal eine Frage…das nervt so manchen Arzt

Abb. 11: Methodik der Studie

Eine Ärztin oder Arzt im Freundeskreis ist doch praktisch, oder?

Macht man sich als Freund oder Freundin unbeliebt, wenn man einen Arzt oder eine Ärztin zum Beispiel am Stammtisch nach einem medizinischen Rat fragt und sich vielleicht den Gang in die Praxis sparen will? Die Gefahr ist nicht so groß: Fast alle Mediziner:innen halten es für eine gute Sache, Freunden ärztliche Ratschläge zu erteilen (Abb. 10). Und nur 14 % empfinden medizinische Fragen aus dem Freundeskreis als störend (Abb. 11).

Korrespondierende Autorin:

Claudia Gottschling

Chefredakteurin

Medscape

[email protected]

Michael van den Heuvel

Fachjournalist Medizin & Pharmazie & Chemie

Gekürzte Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Medscape.

Erstveröffentlichung in Medscape im April 2023: Klicken Sie HIER für die Originalpublikation.

Panorama

Gottschling C, van den Heuvel M: Ärzte haben gute Freunde. Passion Chirurgie. 2023 Oktober; 13(10): Artikel 09.

Mehr Panorama-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

„Ready Surgeon One?” – Chirurgie im virtuellen OP-Saal

Wer von uns würde angesichts der aktuellen Probleme in der chirurgischen Versorgung, wie Personalmangel, Versorgungslücken und finanzielle Einschränkungen, nicht gerne in eine andere Welt entfliehen und in einem virtuellen OP-Saal unter optimalen Bedingungen Patienten behandeln? So in etwa empfinden die Menschen im Roman „Ready Player One“ von E. Cline, wenn sie aus der dystopen Realität in die OASIS fliehen, eine virtuelle Illusion, die nicht nur Spiel und Unterhaltung bietet, sondern auch Bildung, soziale Interaktion und Handel. Die OASIS ist nicht mehr nur Fiktion, sondern wird als eine der Referenzen gesehen, nach deren Vorbild aktuell das Metaverse erschaffen wird, eine neue Form der Internet-Kommunikation, für die bis 2030 ein Marktwert von 5 Billiarden Euro prognostiziert wird [1]. Ein Element dieser VR-Vision stellt das Taktile Internet dar, welches neueste mobile Datenkommunikationstechnik nutzt (u. a. 5G), die hohe Bandbreite mit minimalen Zeitverlusten und hoher Sicherheit verbindet und haptische Interaktionen mit hohem Immersionsgrad realisieren soll [2].

Wird unsere Zukunft somit eine virtuelle Welt sein, so wie die OASIS? Nun, zumindest der Autor Ray Kurzweil vermutet tatsächlich, dass wir im Jahr 2030 bereits den größten Teil unserer Zeit in virtuellen Welten verbringen werden [3]. Das Gesundheitswesen und seine Teilbereiche stellen hierbei bereits jetzt einen wesentlichen Anwendungsbereich dar: Virtuelle Kliniken und Behandlungsräume sowie Telediagnostik und -therapie sind angestrebte Innovationen. Angesichts der in Krankenhäusern anzutreffenden Realität, die häufig von fast rückschrittlichen, analogen Prozessen und persönlicher Leistungserbringung geprägt ist, dürften diese Ansätze zumindest aktuell noch als technische Spielerei einer fernen Zukunft abgetan werden. Derartige Visionen sind jedoch nicht allzu futuristisch. Simulation und Virtual Reality (VR) werden bereits seit Jahren in der Ausbildung unterschiedlicher Berufe eingesetzt und sind auch in der medizinischen Forschung längst fester Bestandteil – das mit gutem Grund.

Virtuelle Simulationen besitzen den großen Vorteil, dass sie Training unter unkritischen und standardisierten Bedingungen als Vorbereitung auf die Patientenversorgung gewährleisten, beliebig oft wiederholt werden können und die Erfassung von Metriken zur Bewertung der Leistung erlauben. Ein Musterbeispiel und der häufigste Vergleich für die Weiterbildung von Chirurg:innen ist hierfür das Training von Pilot:innen der zivilen und militärischen Luftfahrt, die regelhaft mithilfe von Simulatoren und in virtuellen Welten trainieren [4]. Das Simulatortraining hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass Fliegen heute die sicherste Form des Reisens darstellt und weltweit jährlich weniger als 200 Menschen bei Flugzeugunglücken sterben. Betrachtet man im Vergleich dazu die Anzahl an Komplikationen infolge medizinischer Maßnahmen, wird man zumindest nachdenklich. So schätzt eine Studie aus dem Jahr 2016 medizinische Behandlungsfehler und Fehleinschätzungen als dritthäufigste Todesursache ein, mit alleine in den USA jährlich mehr als 200.000 Todesfällen [5]. Die Schlussfolgerung liegt somit nahe, erfolgreiche Konzepte aus anderen Bereichen, wie eben der Luftfahrt, in die Medizin und insbesondere in die Chirurgie zu translatieren.

VR-Simulation der Chirurgie – eine besondere Herausforderung

Die Anforderungen an virtuelle Simulationen in der Chirurgie sind besonders hoch. So hängt der Erfolg einer Operation nicht nur von definierten chirurgischen Fähigkeiten, wie dem Instrumentenhandling, Nähen, Präparieren und dem spezifischen Fachwissen über die Erkrankung und die zu behandelnden Organe ab, sondern auch von der Einschätzung der prä- und intraoperativen Situation, von Teamführung, Entscheidungsfindung und Kommunikation [6]. Alleine 20 Prozent aller Komplikationen aus medizinischen Behandlungen könnten durch eine bessere Kommunikation und Teaminteraktion verhindert werden [7].

Teamplay wirkt sich aber nicht nur auf die Komplikationsrate, sondern auch unmittelbar auf die OP-Dauer aus [8]. Für die beteiligten Fachdisziplinen, aber insbesondere für Chirurg:Innen im Training stellt dabei ein sogenanntes Education Team Time Out am Anfang der Operation eine Möglichkeit dar, die intraoperative Kommunikation zu verbessern [9]. Darüber hinaus bedingen die zunehmende Integration neuer Technologien, wie der Robotik, steigende Anforderungen an die Mitarbeiter und die Teamkommunikation und verlangen, wie in der Luftfahrt, nach besonderen Formen des Trainings [10]. Der zunehmende Einsatz von Technologie beeinflusst darüber hinaus die etablierte Rollenverteilung im komplexen Gefüge des Operationssaals, wirkt sich signifikant auf den Arbeitsablauf aus und führt zu einer Erhöhung des mentalen Workloads und zu Stress [11]. Das Training von Abläufen und von sogenanntem Trouble-Shooting erhält somit einen neuen Stellenwert.

Chirurgisches Training mit VR

Virtuelle Simulatoren werden bereits seit Jahren in der chirurgischen Ausbildung genutzt, wobei der Fokus klar auf laparoskopischen bzw. robotischen Techniken liegt (Abb. 1). Eine sehr schöne Übersicht über die verfügbaren Simulatoren und die verschiedenen Lösungsansätze findet sich hierzu in der Arbeit von Li, die zudem auf zahlreiche Systeme für andere chirurgischen Disziplinen verweist. [12]. So führt der Übersichtsartikel neben den bekannten laparoskopischen Simulatoren LapSim, LapMentor und MIST VR auch VR-Trainer für die Arthroskopie und die Versorgung von Schenkelhalsfrakturen auf (Procedicus, TraumaVision). Wie in dem Artikel dargestellt, beruht der Vorteil dieser VR-Trainer in der Möglichkeit zur Erhebung objektiver Metriken, die eine sukzessive Verbesserung der operativen Fähigkeiten erlauben, und dem einfachen Zugriff auf immer realistischere operative Übungen. Dem gegenüber stehen die hohen Kosten der Anschaffung und Uniformität der Trainingsszenarien, die zudem gerade hinsichtlich der Haptik noch Verbesserungspotenzial aufweisen.

Der positive Nutzen des VR-Trainings ist unwidersprochen und wurde durch mehrere sehr gute Arbeiten belegt [13]. Eine exemplarisch aufgeführte Arbeit von Grantcharow untersucht etwa den Beitrag der VR für ein präoperatives „Warm-up“ vor einer laparoskopischen Cholezystektomie. Hierzu wurden alle Probanden hinsichtlich ihrer operativen Fähigkeiten anhand einer Baseline-Operation bewertet, bevor sie in die „Warm-up“-Gruppe mit VR-Training oder in eine Gruppe ohne Training randomisiert wurden [14]. Obwohl die Mehrzahl der inkludierten Probanden bereits eine gewisse operative Expertise besaß, zeigte die Auswertung signifikant bessere Ergebnisse in der Bewertung der Warm-up Gruppe. Es profitieren jedoch nicht bereits trainierte Chirurg:Innen, sondern vor allem die Berufsanfänger vom virtuellen Training, wie eine unlängst publizierte Metaanalyse zeigen konnte [15].

Abb. 1: Der Laparoskopie-Simulator Laparoscopy VR (CAE, Montreal, Kanada) simuliert realistisch definierte Skills, aber auch komplexe Operationen, wie hier eine Cholezystektomie. (© CTAC Trainingskurs, AG MITI, TU München)

Fallspezifische Simulation und Teamtraining

Die oben aufgeführten Simulatoren beschränken sich auf den Eingriff selbst bzw. auf Teilaspekte einer Operation oder definierte operative Fähigkeiten. Sie sparen bewusst den OP-Saal und andere Personen aus, was im Hinblick auf operative Fähigkeiten wohl insofern sinnvoll ist, als eine zu umfassende und immersive Simulation auch negative Effekte auf das Training haben kann. Die Entwicklung der hochimmersiven virtuellen Realität durch die Universitätsmedizin Mainz und die Universität Magdeburg (Abb. 2), die einen konventionellen VR-Laparoskopie-Trainer mit einer fotorealistischen VR-basierten OP-Simulation kombiniert, ermöglicht es, das Skills-Training in eine realistische Umgebung zu transferieren. Erste Untersuchungen ergaben, dass diese komplexe Simulation als realistischer angesehen und von den Probanden als anregender eingestuft wurde, das Skills-bezogene Training jedoch hierunter leidet [16]. Dies bestätigt auch eine vergleichbare skandinavische Studie, die zeigte, dass zu viele Details vom eigentlichen Training ablenken können [17]. Somit sollte die realistischere Simulation erst als weitere Stufe und nach dem Training am einfachen VR-Trainer angesehen werden, um Chirurg:Innen auf den Einsatz im Operationssaal vorzubereiten.

Umfängliche OP-Simulationen dienen somit weniger der Verbesserung der manuellen Fähigkeiten, sondern vor allem dem Teamtraining und der Optimierung der interdisziplinären Kooperation. Dies zeigt etwa die Arbeit von Szerbo, der ebenfalls verfügbare Skills-Trainer in eine VR-Umgebung integriert, hierbei aber vor allem auf die Teamkommunikation und Entscheidungsfindung fokussiert. Wie die Studie klar belegt, profitieren diese tatsächlich von dem hoch immersiven VR-Training [18]. Im Gegensatz dazu steht eine Studie zum Trouble-Shooting in der Laparoskopie, die nur auf die Verbesserung der Fähigkeiten einer Person abzielt und eben nicht auf die Interaktion im Team [19]. Auch wenn die Studie erfahrene Chirurg:innen und Trainees unterscheiden mag, so ist der Trainingseffekt der OP-Simulation doch gering. Die Autoren vermuten, dass dies an der wenig anspruchsvollen Aufgabe liegen könnte, aber eben gerade auch an der fehlenden Teaminteraktion. Entsprechend verwundert es nicht, dass die Probanden den hoch immersiven Ansatz als wenig geeignet für ein Training ansehen [19]. Die Studie zeigt hierbei, wie wichtig es ist, dass die angewandte Technologie bzw. VR-Umgebung zur zu trainierenden Fähigkeit passt und der Immersionsgrad und der Anspruch der Übung adäquat ist.

Ein weiterer Grund für die schlechte Bewertung in dieser Studie könnte aber auch die fehlende Benchmark gewesen sein, die der Bewertung der Leistung dient und als Trainingsmotivation fungiert. Dies ist insofern verwunderlich, da dies gerade die Stärke der VR-Simulation darstellt, die aufgrund der digitalen Umsetzung in idealer Weise Metriken ableiten kann. Wie es besser geht, zeigt die Arbeitsgruppe um D. Jones, die einen KI-basierten Algorithmus nutzt, um die Performance in einer VR-OP-Simulation zu erfassen. Auch wenn die gewählte Situation eines Feuers im OP ein seltenes Ereignis darstellen mag, konnten mehrere Studien des Teams die Eignung dieser Simulation belegen. Zudem zeigen die Arbeiten sehr schön, dass sich die VR insbesondere für nicht alltägliche und möglichweise gefährliche Simulationen eignet [20]. Somit stellt die Kombination der herkömmlichen Simulatoren für den Beginn der Lernkurve mit der immersiven VR-Simulation in der Chirurgie eine Möglichkeit dar, auch erfahrene Chirurg:Innen in Extremsituationen und/oder Teamtraining zu trainieren. Die Möglichkeiten der VR sind hierbei nahezu unbegrenzt, wie eine aktuelle Arbeit eindrucksvoll belegt. Sie nutzt nicht nur herkömmliche VR-Trainer und eine virtuelle OP-Simulation, sondern integriert diese in eine umfassende Trainingsumgebung, die u.a. über eine Bibliothek und DICOM-Bilddatenbank verfügt. Das dargestellte Lehrkrankenhaus kommt der Idee eines „Surgical Metaverse“ somit bereits schon sehr nahe [21]. Der virtuelle OP dient nicht nur dem Training von Chirurg:Innen, sondern hilft auch Patient:Innen die Angst vor operativen Eingriffen zu nehmen [20] bzw. Student:innen, die keinen freien Zugang zum OP haben [22].

Telemedizin und intraoperative Guidance

Virtuelle OP-Szenarien dienen aber nicht nur dem patientenunabhängigen Training, sondern können auch fallbegleitend eingesetzt werden. Der Hintergedanke hierbei ist die Unterstützung eines weniger erfahrenen Teams durch externe Expertise im Sinne der Telemedizin. Anstatt einer reinen audiovisuellen Verbindung erlaubt eine derartige Simulation die freie Bewegung im Raum und den Zugriff auf relevante Kontext-Informationen. Dies kann in Verbindung mit einer Videokommunikation erfolgen (Mixed-Reality/Augmented Reality) oder als alleinige VR-Reproduktion. Auch wenn derartige Ansätze noch unter der verfügbaren Datenbandbreite leiden, können durch die Verwendung von Avataren und Punktewolken, bereits akzeptable Simulationen erreicht werden [23]. So nutzte ein Team an der TU München modernste Kompressionstechniken und Algorithmen, um teleassistierte Notfallversorgungen zu ermöglichen, wie etwa bei einer Kraniotomie [24] oder aber für Eingriffe an der Wirbelsäule. Zudem wurde das System in der Behandlung von Intensivszenarien im Rahmen der COVID Versorgung evaluiert, wobei auf alle Geräteparameter (u.a. Beatmung, Monitoring) und KIS-Dokumente zugegriffen werden konnte [25]. Im Gegensatz zur oben aufgeführten Simulation handelt es sich hierbei um ein virtuelles Abbild einer realen Szene, das in Echtzeit realisiert wird.

Abb. 2: „Ready Surgeon One“– Entwicklung der hoch immersiven virtuellen Realität in der laparoskopischen Simulation kombiniert virtuelle Operationsumgebungen mit chirurgischem Skills-Training. (© Universitätsmedizin Mainz, BMBF-Projekt 16SV8057 „AVATAR“, Foto: Dr. Laura Hanke)

Digitaler Zwilling und Model-basierte Ansätze

Jenseits der Simulation von interdisziplinärem Arbeiten und spezifischen Skills, gewinnt die VR-Simulation auch in der Prozessoptimierung und Entwicklung neuer Technologien an Bedeutung. So nutzt die Forschungsgruppe MITI der TU München aktuell OP-Simulationen für die Evaluation und Optimierung mobiler Robotersysteme [26] oder auch, um Workflowprozesse im OP und in der Klinik anzupassen [27] (Abb. 3). Auf Basis zuvor erfasster Daten (Aktivitäten im OP, Patientenworkflow, etc.) können, wie in der Industrie-Logistik, komplexe Prozesse simuliert werden und die Einflüsse von räumlichen Änderungen oder technischen Modifikationen untersucht werden. Neben den oben genannten Indikationen sehen wir aber auch ein hohes Potenzial für chirurgische Prozesse und Operationen. Hierbei können sowohl zuvor aufgenommene Daten als Grundlage dienen oder die Modellierung erfolgt anhand von Realtime-Daten, die in sogenannten Szenengrafen abgebildet werden, und es werden einzelne Objekte (Personen, Geräte) auf Basis von Attributen und Interaktionen in einem simulierten Netzwerk zueinander in Verbindung gebracht [28]. Durch eine nun mögliche multidimensionale Betrachtung der Objektinteraktion und Ableitung von definierten Metriken erwartet man hierdurch zukünftig Verbesserungen des Gesamtworkflows [29].

Abb. 3: Im BFS-Projekt AURORA (BFS AZ-1409-19) entwickeln wir derzeit ein mobiles Roboter-Assistenzsystem, das u. a. in einer virtuellen OP-Umgebung optimiert und validiert wird. Die Abbildung zeigt in diesem Zusammenhang die 2-D-OP-Simulation mit den einzelnen OP-Sälen und Arbeitspunkten und den Arbeitspfaden der als roten Kreis gezeichneten Roboter. (© Lukas Bernhard, AG MITI, TU München)

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Dieser kurze Übersichtsartikel zeigt bereits die Vielzahl an Anwendungsbereichen und den potentiellen Nutzen virtueller OP-Umgebungen, sowohl für Training und Ausbildung, aber auch für die Prozessoptimierung und Technologieentwicklung. Während höher immersive Simulationen bislang an der verfügbaren Rechenleistung und der Komplexität der Szenen scheiterten, dürften derartige Probleme aufgrund technischer Weiterentwicklungen zukünftig weniger bedeutsam sein. Zudem existieren kommerziell verfügbare Modelle für die OP-Simulation, welche die Umsetzung ebenfalls unterstützen. Eine umfassende Simulation chirurgischer Operationen hingegen stellt weiter eine Herausforderung dar, da diese nicht nur die (idealerweise patientenindividuelle) virtuelle Anatomie sowie Gewebe und Objektinteraktionen abbilden muss, sondern auch Komplikationen (wie z. B. Blutungen oder Minderperfusionen) und die biomechanischen Eigenschaften (Elastizität, Reißfestigkeit etc.) realistisch simulieren sollte. Nur so kann ein effektives, virtuelles, chirurgisches Training aller Weiterbildungsstufen in Zukunft möglich sein. Eine deutsche Initiative unter Einbindungen ausgewiesener Experten aus Klinik und Computerwissenschaften ist aktuell bemüht, diesen Ball aufzunehmen und eine neue Form des chirurgischen Trainings auf Basis von VR-Simulation zu realisieren [30].

Auch wenn medizinische Behandlung immer eine direkte Beziehung zwischen Patient:innen und Ärzt:innen sein sollte, ist davon auszugehen, dass die virtuelle Realität und damit der virtuelle OP-Saal zukünftig eine wesentliche Rolle spielen werden.

Literatur

[1]   https://www.mckinsey.com/capabilities/growth-marketing-and-sales/our-insights/value-creation-in-the-metaverse 2022. Zugriff am 29.07.2023.
[2]   BMBF. https://www.forschung-it-sicherheit-kommunikationssysteme.de/forschung/kommunikationssysteme/5g-taktiles-internet. Zugriff am 3.8.2023].
[3]   Kurzweil, R. https://www.thekurzweillibrary.com/foreword-to-virtual-humans Zugriff am 27.07.2023].
[4]   Dymora, P., B. Kowal, M. Mazurek, and S. Romana. The effects of Virtual Reality technology application in the aircraft pilot training process. in IOP conference series: materials science and engineering. 2021. IOP Publishing.
[5]   Makary, M.A. and M. Daniel, Medical error—the third leading cause of death in the US. Bmj, 2016. 353.
[6]   Darzi, A., S. Smith, and N. Taffinder, Assessing operative skill. Needs to become more objective. Bmj, 1999. 318(7188): p. 887-8.
[7]   Griffen, F.D., et al., Violations of Behavioral Practices Revealed in Closed Claims Reviews. Annals of Surgery, 2008. 248(3): p. 468-474.
[8]   Catchpole, K., A. Mishra, A. Handa, and P. McCulloch, Teamwork and error in the operating room: analysis of skills and roles. Annals of surgery, 2008. 247(4): p. 699-706.
[9]   Huber, T., et al., Education Team Time Out in Oncologic Visceral Surgery Optimizes Surgical Resident Training and Team Communication–Results of a Prospective Trial. Journal of Surgical Education, 2023.
[10] Schiff, L., et al., Quality of communication in robotic surgery and surgical outcomes. JSLS: Journal of the Society of Laparoendoscopic Surgeons, 2016. 20(3).
[11] Weber, J., et al., Effects of flow disruptions on mental workload and surgical performance in robotic-assisted surgery. World journal of surgery, 2018. 42: p. 3599-3607.
[12] Li, L., et al., Application of virtual reality technology in clinical medicine. American journal of translational research, 2017. 9(9): p. 3867.
[13] Lehmann, K.S., et al., A prospective randomized study to test the transfer of basic psychomotor skills from virtual reality to physical reality in a comparable training setting. Annals of surgery, 2005. 241(3): p. 442.
[14] Calatayud, D., et al., Warm-up in a virtual reality environment improves performance in the operating room. Annals of surgery, 2010. 251(6): p. 1181-1185.
[15] Humm, G., et al., The impact of virtual reality simulation training on operative performance in laparoscopic cholecystectomy: meta-analysis of randomized clinical trials. BJS open, 2022. 6(4): p. zrac086.
[16] Huber, T., et al., New dimensions in surgical training: immersive virtual reality laparoscopic simulation exhilarates surgical staff. Surgical endoscopy, 2017. 31: p. 4472-4477.
[17] Frederiksen, J.G., et al., Cognitive load and performance in immersive virtual reality versus conventional virtual reality simulation training of laparoscopic surgery: a randomized trial. Surgical endoscopy, 2020. 34: p. 1244-1252.
[18] Scerbo, M.W., et al. A virtual operating room for context-relevant training. in Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society Annual Meeting. 2007. Sage Publications Sage CA: Los Angeles, CA.
[19] Abelson, J.S., et al., Virtual operating room for team training in surgery. The American Journal of Surgery, 2015. 210(3): p. 585-590.
[20] De, S., C.D. Jackson, and D.B. Jones, Intelligent Virtual Operating Room for Enhancing Nontechnical Skills. JAMA surgery, 2023. 158(6): p. 662-663.
[21] Chheang, V., et al. Towards virtual teaching hospitals for advanced surgical training. in 2022 IEEE Conference on Virtual Reality and 3D User Interfaces Abstracts and Workshops (VRW). 2022. IEEE.
[22] Pérez-Escamirosa, F., et al., Immersive virtual operating room simulation for surgical resident education during COVID-19. Surgical Innovation, 2020. 27(5): p. 549-550.
[23] Yu, K., et al., Avatars for teleconsultation: Effects of avatar embodiment techniques on user perception in 3d asymmetric telepresence. IEEE Transactions on Visualization and Computer Graphics, 2021. 27(11): p. 4129-4139.
[24] Yu, K., et al. Magnoramas: Magnifying dioramas for precise annotations in asymmetric 3d teleconsultation. in 2021 IEEE Virtual Reality and 3D User Interfaces (VR). 2021. IEEE.
[25] Roth, D., et al. Real-time mixed reality teleconsultation for intensive care units in pandemic situations. in 2021 IEEE Conference on Virtual Reality and 3D User Interfaces Abstracts and Workshops (VRW). 2021. IEEE.
[26] Bernhard, L., et al., Mobile service robots for the operating room wing: balancing cost and performance by optimizing robotic fleet size and composition. International Journal of Computer Assisted Radiology and Surgery, 2023. 18(2): p. 195-204.
[27] Amato, C., et al., The hospital of the future: rethinking architectural design to enable new patient-centered treatment concepts. International Journal of Computer Assisted Radiology and Surgery, 2022. 17(6): p. 1177-1187.
[28] Hamoud, I., et al. ST (OR) $^ 2$: Spatio-Temporal Object Level Reasoning for Activity Recognition in the Operating Room. in Medical Imaging with Deep Learning. 2023.
[29] Özsoy, E., et al., Multimodal semantic scene graphs for holistic modeling of surgical procedures. arXiv preprint arXiv:2106.15309, 2021.
[30] Benz, S. https://www.surgical-simulation.net/ Zugriff am 4.8.2023].

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. Dirk Wilhelm

Technische Universität München

School of Medicine

Klinikum rechts der Isar, Klinik

Poliklinik für Chirurgie

CTAC, Sektion für Computer- und Telematik assistierte Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH)

 

PD Dr. med. Tobias Huber

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität

Mainz

CTAC, Sektion für Computer- und Telematik assistierte Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH)

Chirurgie

Wilhelm D, Huber T: „Ready Surgeon One?” – Chirurgie im virtuellen OP-Saal. Passion Chirurgie. 2023 Oktober; 13(10): Artikel 03_02.

Weitere Artikel zum Thema „Digitalisierung“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete.

Leserbrief

Betrifft:  Rezension von Dr. med. Peter Kalbe aus Passion Chirurgie 06/QII/2023 zum Buch „Ultraschall des Bewegungsapparates“.

Sie finden den Artikel auf BDC|Online (www.bdc.de) im Bereich WISSEN | Aus-, Weiter- und Fortbildung | Rezensionen, oder klicken HIER.

Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Kalbe, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

die Rezension habe ich mit Interesse gelesen. An diesem Buch stört mich der Begriff „Bewegungsapparat“ im Titel. Der Begriff ist in dieser Verwendung seit ca. 2000 antiquiert, weil er für die absehbaren Irrwege der mechanistischen Betrachtung der Bewegungsorgane und des Bewegungssystems [1] im 20. Jahrhundert steht.

Unter einem Bewegungsapparat versteht man ein technisches Hilfsmittel der Fortbewegung. Vielleicht mit Sensorik (C-Leg etc.), aber ohne Sensibilität und Schmerzempfindung. Die Besprechung selbst macht diesen Fehler nicht.

Der Titel ist ein elementarer Mangel des Buchs.

Mit freundlichen und kollegialen Grüßen

Hans-Friedrich Bär

Antwort des Autors

Sehr geehrter Herr Kollege Bär!

Ihre Irritation zur Wortwahl „Bewegungsapparat“ teile ich. In der wissenschaftlich Fachgesellschaft DGU und DGOU haben wir stets versucht, stattdessen auf den Begriff „Bewegungsorgane“ abzuheben. Dies hat aber leider keinen Eingang in die orthopädische „Umgangssprache“ gefunden. Das werden Sie im Umgang mit den „O und U“-Kollegen auch feststellen.

Daher habe ich mich bei der Buchbesprechung auf den Inhalt konzentriert …

Freundliche kollegiale Grüße

Peter Kalbe

Literatur

[1]   Rudolf Virchow 1858. „Ueber die mechanische Auffassung des Lebens“. Nach einem frei gehaltenen Vortrage aus der dritten allgemeinen Sitzung der 34. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte. (Carlsruhe, am 22. Septbr. 1858) in „Vier Reden über Leben und Kranksein“. S.1–34. Berlin 1862: „Das Leben giebt sich nicht blos dadurch zu erkennen, daß es Körper hervorbringt, welche neben anderen ein Sonderdasein führen, sich als solche erhalten und durch gewisse, ihnen eingepflanzte Kräfte eine Thätigkeit entfalten… [S.6] …Die besondere und beständige Form des Lebens ist die Zelle. Welches lebendige Wesen wir auch untersuchen mögen, immer erweist es sich als hervorgegangen aus einer Zelle und als zusammengesezt oder aufgebaut aus Zellen.“ [S.7]

Dipl.-Ing. (FH) Hans-Friedrich Bär

Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie

Sepzielle Schmerztherapie – Sozialmedizin

Werl – Nürnberg

Chirurgie+

Bär HF: Leserbrief. Passion Chirurgie. 2023 Oktober; 13(10): Artikel 04_06.

Wie die Digitalisierung der Chirurgie den Weg für Künstliche Intelligenz ebnet

Die in Deutschland angestrebte Digitalisierung des Gesundheitswesens verspricht vereinfachte Arbeitsabläufe, effizientere Kommunikation sowie bessere Dokumentation und daraus folgende sicherere Handlungsabläufe [1]. Diverse digitale Gesundheitsanwendungen wie beispielsweise die elektronische Patientenakte (ePA), ermöglichen es, Patienten und medizinischem Personal einen gesammelten Überblick über die dem Patienten zugehörigen Dokumente zu verschaffen. Die Ansammlung von derartig großen Datenmengen birgt jedoch auch die nicht zu unterschätzende Herausforderung, diese zu verwalten und adäquat, sinngerecht und mit Fokus auf klinische Relevanz auszuwerten. Hier kann künstliche Intelligenz (KI) Abhilfe verschaffen [2]. KI ist in der Lage, enorme Datenmengen (Big Data) schnell, statistisch und probabilistisch auszuwerten und daraus Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen bzw. Empfehlungen zu treffen. In der Chirurgie beschäftigt sich ein ganzes wissenschaftliches Feld mit der Aufnahme und Dokumentation, Katalogisierung und digitalen Verwaltung sowie Analyse von multimodalen Daten [2]. Im Mittelpunkt der chirurgischen Datenwissenschaft (Surgical Data Science) stehen dabei Daten aus der präoperativen Diagnostik und Bildgebung sowie intraoperatives, endoskopisches Video- und Bildmaterial und postoperative klinische Daten und Verläufe.

Obwohl KI hinsichtlich repetitiver Datenauswertung, automatisierter Erkennung von wiederkehrenden Mustern innerhalb von Datensätzen und datenbasierten statistischen Analysen dem Menschen überlegen ist, mangelt es ihr an der menschlichen Fähigkeit des kreativen Verknüpfens von Zusammenhängen und kritischem Denken [3, 4]. Im chirurgischen Kontext sind diese Fähigkeiten, insbesondere im Hinblick auf die intraoperative Entscheidungsfindung, aber von großer Bedeutung. Daraus resultiert die Frage, wie KI im chirurgischen Umfeld am effektivsten und sichersten zum Einsatz kommen kann und sollte.

Chirurgische KI

Die praktische Anwendung von KI auf die Chirurgie konzentriert sich derzeit vorrangig auf die Analyse von intraoperativen Video-Daten hinsichtlich der automatisierten Erkennung von chirurgischen Phasen[5], Lokalisierung von Instrumenten und Klassifizierung [6] von Interaktionen zwischen Instrument und Gewebe [7] (siehe Abb. 1).

Aufgrund der hohen Fallzahlen und des standardisierten Ablaufs ist die laparoskopische Cholezystektomie eine der meistadressierten Operationen[8][10]. Kürzlich wurde das Repertoire durch Arbeiten zur KI-basierten Analyse der Chirurgie des oberen Gastrointestinaltrakts und der kolorektalen Chirurgie ergänzt [6], [11][14]. Jedoch ist die chirurgische KI von datenbasierten, sicheren und in Echtzeit abrufbaren autonomen Warn- und Navigationssystemen analog zur Automobilindustrie oder Luftfahrt noch weit entfernt. Grund hierfür sind die begrenzte Quantität, Qualität und Vielfalt der zur Verfügung stehenden Daten, an denen KI-Algorithmen trainiert werden [15], [16].

Abb. 1: Schematische Darstellung des derzeitigen Fokus von chirurgischer KI; insbesondere die zeitliche, räumliche und konzeptionelle Analyse des operativen Arbeitsablaufs anhand von minimalinvasiven Video-Daten steht im Mittelpunkt

Hier könnte die Digitalisierung der Chirurgie den Weg für KI ebnen und eine grundlegende Infrastruktur etablieren, die die translationale Weiterentwicklung von KI begünstigt. Die hochqualitative Aufnahme, adäquate Aufbereitung und effektive Nutzbarkeit von ganzheitlichen Daten aus dem Operationssaal (OP) sind essenzielle Voraussetzungen für die Entwicklung KI-basierter Sicherheitssysteme. Dies bedeutet beispielsweise die Verknüpfung von intraabdominellen Video-Daten mit präoperativer Bildgebung in Echtzeit und die daraus folgende Abbildung anatomischer Strukturen auf dem Operationsfeld durch 3-D-Rekonstruktion. Zudem ermöglicht eine mit dem Operationsvideo zeitlich synchronisierte Abbildung und Analyse von klinischen Patientenparametern, die Analyse von intraoperativen Ereignissen, die im Zusammenhang mit postoperativen Komplikationen stehen. Neue innovative Technologien, wie beispielsweise die Operation Room Black Box von Surgical Safe Technologies (Surgical Safe Technologies, Toronto, Kanada), ermöglichen die umfassende Aufnahme von multimodalen Informationen aus dem Operationssaal [17]. Bild- und Videomaterial von deckenmontierten Kameras sowie dem Laparoskop werden mit anästhesiologisch erhobenen Vitalparametern zeitlich synchronisiert und erlauben somit eine deutlich akkuratere postoperative Auswertung von Komplikationen. Zudem verschafft diese umfassende Datenerhebung entscheidende Einsicht in die Team-Dynamik im Operationssaal und Aspekte, die die Patientensicherheit nachhaltig beeinflussen [18], [19].

Die Symbiose zwischen Digitalisierung und KI ist somit für Wissenschaftler und Kliniker keine weit entfernte Zukunftsfantasie, sondern in vielen OPs in den USA bereits eine sich stetig weiterentwickelnde Realität.

Der digitale Operations Saal der Zukunft

Präoperative systematische Datenanalyse ermöglicht bereits heute genauere Risiko-Stratifizierung des chirurgischen Patienten, digital unterstützte Aufklärung und eine verbesserte chirurgische Ausbildung [8], [20]. Intraoperativ ermöglichen Augmented Reality und Computer Vision die Projektion von digitalen Informationen auf das Operationsfeld [21], anatomische 3-D-Simulationen basierend auf präoperativer Schnittbildgebung[22], intraoperative Markierung oder Annotation von Strukturen und das millimetergenaue Ausmaß von Entfernungen im Situs[23].

Abb. 2: Beispielhafte Übersicht über multimodale Daten, die im Rahmen des prä-, intra- und postoperativen Verlaufs eines chirurgischen Patienten erhoben werden können. Voraussetzungen für die Entwicklung klinisch relevanter KI sind adäquate Infrastrukturen zur Verarbeitung und Bereitstellung dieser Daten.

Postoperativ können Patientenverläufe mit den bis dahin gesammelten Daten integriert und mittels KI genauer ausgewertet werden, um sensitive Vorhersagen hinsichtlich potenzieller Komplikationen oder dem Überleben des Patienten zu treffen. Zudem versprechen Tele-Chirurgie und das taktile Internet eine Demokratisierung von chirurgischen Fähigkeiten und somit eine flächendeckende Verbesserung der chirurgischen Patientenversorgung und Ausbildung zukünftiger Chirurg:innen [24]. Die systematische Verarbeitung und mundgerechte Bereitstellung von multimodalen Daten und Integration in das operative Handlungsgeschehen wird Chirurg:innen verstärkte Übersicht über den Situs und operative Ereignisse sowie ein genaueres Verständnis über die Pathophysiologie chirurgischer Krankheitsbilder verschaffen. Somit werden neue, individualisierte chirurgische Therapieansätze geschaffen und chirurgische Komplikationen reduziert.

Dabei gilt es zu bedenken, dass der Zugang zu solchen Technologien aufgrund der enormen Kosten und der derzeit bestehenden ungleichen Ressourcenstärke unter deutschen Krankenhäusern einigen wenigen Zentren obliegt. Zudem besteht ein nicht unentschiedener Nachholbedarf in der Etablierung von regulatorischen Voraussetzungen, strukturellen und rechtliche Rahmenbedingungen, die die sinnvolle und sichere Nutzung und Kuration der beschriebenen Daten ermöglichen (siehe Abb. 2).

Digitalisierung ermöglicht KI

Chirurgische Datenwissenschaft zielt mittels KI darauf ab, bestehende chirurgische Expertise zu ergänzen und nicht, diese zu ersetzen. Die neue Bewegung hin zur digitalen Medizin und somit digitalen Chirurgie könnte somit einen potenten Katalysator für eine KI-gestützte sichere, effizientere und evidenzbasierte moderne Chirurgie darstellen. Voraussetzung hierfür ist jedoch nicht nur die Digitalisierung bestehender Dokumentationsprozesse anstatt der bislang etablierten Papierform, sondern auch die Einführung systematischer digitaler Datenerfassung im Operationssaal, sowie Interoperabilität zwischen verschiedenen digitalen Systemen[2]. Derzeit besteht keine einheitliche Infrastruktur, die eine ganzheitliche Datenaufnahme im OP sicherstellt. Denn im chirurgischen Alltag sind hauchdünne Abschriften von Narkoseprotokollen und auf USB gespeicherte intraoperative Videodaten und Standbilder noch immer tägliche Realität.

In Zukunft wird die digitale Datenerfassung in der Chirurgie wohl, neben entscheidender Anpassung von regulatorischen und ethischen Rahmenbedingungen, auch eine kulturelle Umstellung verlangen. Denn selbst die Initiierung der Aufnahme des Operationsvideos ist ein manueller, stark fehleranfälliger Prozess. Der unmittelbar bevorstehende Ersatz von Papierdokumenten durch die ePA, um wichtige Patienten-relevante Parameter zuverlässig zu erfassen und nachhaltig zu dokumentieren, zeigen in der Chirurgie ein enormes Potenzial sowie enormen Nachholbedarf auf. Um die nächste Evolutionsstufe des technologisch fortgeschrittenen KI-augmentierten OPs zu realisieren, werden untereinander verknüpfte anwenderfreundliche Aufnahmegeräte benötigt sowie enorme digitale Speicherkapazität, adäquate strukturelle Grundlagen zur Bereitstellung und zum Teilen von chirurgischen Daten und einen interdisziplinären Diskurs zwischen Computerwissenschaftlern und Klinikern [16].

Letztlich wird KI nur Einzug in den chirurgischen Alltag erhalten, wenn die Digitalisierungsbewegung der deutschen Medizin eine flächendeckende Datenerfassung und umfangreiche Nutzung der verfügbaren Technologien ermöglicht sowie die Übersetzung von theoretischen Ansätzen des maschinellen Lernens in klinische Studien unterstützt.

Literatur

[1]   “Digitalisierung im Gesundheitswesen,” Bundesministerium für Gesundheit, 30-Aug-2023. [Online]. Available: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/digitalisierung/digitalisierung-im-gesundheitswesen.html. [Accessed: 06-Sep-2023].
[2]   L. Maier-Hein et al., “Surgical data science – from concepts toward clinical translation,” Med. Image Anal., vol. 76, p. 102306, Feb. 2022.
[3]   J. Fjeld and A. Nagy, “Principled Artificial Intelligence,” Berkman Klein Center, Jan. 2020.
[4]   S. J. Russell, S. Russell, and P. Norvig, Artificial Intelligence: A Modern Approach. Pearson, 2020.
[5]   K. C. Demir, H. Schieber, D. Roth, A. Maier, and S. H. Yang, “Surgical Phase Recognition: A Review and Evaluation of Current Approaches,” TechRxiv, 02-May-2022.
[6]   P. De Backer et al., “Multicentric exploration of tool annotation in robotic surgery: lessons learned when starting a surgical artificial intelligence project,” Surg. Endosc., Aug. 2022.
[7]   C. I. Nwoye et al., “Recognition of Instrument-Tissue Interactions in Endoscopic Videos via Action Triplets,” in Medical Image Computing and Computer Assisted Intervention – MICCAI 2020, 2020, pp. 364–374.
[8]   T. M. Ward, D. A. Hashimoto, Y. Ban, G. Rosman, and O. R. Meireles, “Artificial intelligence prediction of cholecystectomy operative course from automated identification of gallbladder inflammation,” Surg. Endosc., vol. 36, no. 9, pp. 6832–6840, Sep. 2022.
[9]   J. J. Jung et al., “Development and Evaluation of a Novel Instrument to Measure Severity of Intraoperative Events Using Video Data,” Ann. Surg., vol. 272, no. 2, pp. 220–226, Aug. 2020.
[10] P. Mascagni et al., “Surgical data science for safe cholecystectomy: a protocol for segmentation of hepatocystic anatomy and assessment of the critical view of safety,” arXiv [eess.IV], 21-Jun-2021.
[11] S.-E. Kudo et al., “Artificial Intelligence System to Determine Risk of T1 Colorectal Cancer Metastasis to Lymph Node,” Gastroenterology, vol. 160, no. 4, pp. 1075-1084.e2, Mar. 2021.
[12] D. Kitaguchi et al., “Automated laparoscopic colorectal surgery workflow recognition using artificial intelligence: Experimental research,” Int. J. Surg., vol. 79, pp. 88–94, Jul. 2020.
[13] M. Takeuchi et al., “Automated Surgical-Phase Recognition for Robot-Assisted Minimally Invasive Esophagectomy Using Artificial Intelligence,” Ann. Surg. Oncol., vol. 29, no. 11, pp. 6847–6855, Oct. 2022.
[14] J. A. Eckhoff et al., “TEsoNet: knowledge transfer in surgical phase recognition from laparoscopic sleeve gastrectomy to the laparoscopic part of Ivor-Lewis esophagectomy,” Surg. Endosc., vol. 37, no. 5, pp. 4040–4053, May 2023.
[15] J. Balch, G. R. Upchurch Jr, A. Bihorac, and T. J. Loftus, “Bridging the artificial intelligence valley of death in surgical decision-making,” Surgery, vol. 169, no. 4, pp. 746–748, Apr. 2021.
[16] J. A. Eckhoff et al., “SAGES consensus recommendations on surgical video data use, structure, and exploration (for research in artificial intelligence, clinical quality improvement, and surgical education),” Surg. Endosc., Jul. 2023.
[17] A. I. Al Abbas et al., “The Operating Room Black Box: Understanding Adherence to Surgical Checklists,” Ann. Surg., vol. 276, no. 6, pp. 995–1001, Dec. 2022.
[18] J. J. Jung, P. Jüni, G. Lebovic, and T. Grantcharov, “First-year Analysis of the Operating Room Black Box Study,” Ann. Surg., vol. 271, no. 1, pp. 122–127, Jan. 2020.
[19] J.-N. Gallant, K. Brelsford, S. Sharma, T. Grantcharov, and A. Langerman, “Patient Perceptions of Audio and Video Recording in the Operating Room,” Ann. Surg., vol. 276, no. 6, pp. e1057–e1063, Dec. 2022.
[20] D. A. Hashimoto, G. Rosman, and O. R. Meireles, Artificial Intelligence in Surgery: Understanding the Role of AI in Surgical Practice. McGraw-Hill Education, 2021.
[21] C. Dennler et al., “Augmented reality in the operating room: a clinical feasibility study,” BMC Musculoskelet. Disord., vol. 22, no. 1, p. 451, May 2021.
[22] J. J. Rassweiler et al., “Future of robotic surgery in urology,” BJU Int., vol. 120, no. 6, pp. 822–841, Dec. 2017.
[23] F. Marchegiani et al., “New Robotic Platforms in General Surgery: What’s the Current Clinical Scenario?,” Medicina , vol. 59, no. 7, Jul. 2023.
[24] F. H. P. Fitzek, S.-C. Li, S. Speidel, T. Strufe, M. Simsek, and M. Reisslein, Tactile Internet: with Human-in-the-Loop. Academic Press, 2021.

Eckhoff JA: Wie die Digitalisierung der Chirurgie den Weg für Künstliche Intelligenz ebnet. Passion Chirurgie. 2023 Oktober; 13(10): Artikel 03_03.

BDC-Praxistest: Wo sind unsere Ärzte und Pflegekräfte hin?

Vorwort

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

im deutschen Gesundheitswesen spitzt sich der Fachkräftemangel Jahr für Jahr zu. So wird prognostiziert, dass 2035 ca. 1,8 Millionen Stellen nicht mehr besetzt werden können, was einem Engpass von 35 % entsprechen würde. Darüber hinaus können sich nur 30 % der Ärzt:innen und Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern vorstellen, ihren Beruf bis zu Rente auszuüben. Diese besorgniserregenden Prognosen lassen zukünftig eine bundesweite Gefährdung unserer Gesundheitsversorgung vermuten.

Zwei Hauptursachen sollen für den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen verantwortlich sein: zum einen der demografischen Wandel und zum anderen die harten Arbeitsbedingungen in der Pflege bzw. Ärzteschaft.

Was sollen also Krankenhäuser tun, um diesen Problemen entgegenzuwirken? Sind sie überhaupt in der aktuellen Zeit von „Lauterbach und Laumann“ in der Lage dazu, wenn man bedenkt, dass im Jahr 2023 ca. 20 % der Krankenhäuser Insolvenzgefährdet sind? Oder wird doch die Rechnung von „Bundes-Karl“ aufgehen und durch den Wegfall von ca. ein Fünftel der Krankenhäuser so viel Personal verfügbar, sodass wir gar keinen Mangel mehr haben?

Der vorliegende Artikel soll Ihnen einen Überblick geben, wie die Stellenbesetzungsprobleme in der Pflege und im Ärztlichen Dienst aussehen und welche Handlungsoptionen sich anbieten.

Spannende Lektüre

Prof. Dr. med. C. J. Krones und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Stellenbesetzungsprobleme in Krankenhäusern

Der Fachkräftemangel bzw. Stellenbesetzungsprobleme bilden eine zentrale Herausforderung für die aktuelle und künftige Krankenhausversorgung in Deutschland. Der folgende Beitrag zeigt auf, dass sich die Stellenbesetzungsprobleme in den letzten Jahren berufsgruppenübergreifend massiv verschärft haben. Grundlage der Analysen bildet das Krankenhaus Barometer des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI).

Beim Krankenhaus Barometer handelt es sich um eine jährlich durchgeführte Repräsentativbefragung deutscher Krankenhäuser zu aktuellen gesundheits- und krankenhauspolitischen Themen. Die Ergebnisse des Barometers beruhen auf einer schriftlichen Befragung einer repräsentativen Stichprobe von zugelassenen Allgemeinkrankenhäusern ab 100 Betten in Deutschland.

Der Fachkräftemangel wird im Krankenhaus Barometer darüber gemessen, dass offene Stellen (wieder) besetzt werden sollen, aber mangels (geeigneter) Bewerber kurzfristig nicht besetzt werden können bzw. längere Zeit vakant bleiben. Aussagen dazu, inwieweit die aktuellen Stellenpläne bedarfsgerecht sind, werden – auch mangels objektiver und weitestgehend konsensfähiger Maßstäbe – somit ausdrücklich nicht getroffen. Nachfolgend werden Zeitreihen für die Ärzte, die Pflege und das OP-Personal präsentiert, der Beobachtungszeitraum beträgt jeweils 12 Jahre (2011–2022).

Stellenbesetzungsprobleme im Ärztlichen Dienst

Im Frühjahr 2022 hatten 72 % der Krankenhäuser Probleme, offene Stellen im ärztlichen Dienst zu besetzen. Im Vergleich zum Jahr 2019, als die Stellenbesetzungsprobleme bei Ärzten letztmalig erhoben wurden, ist die Entwicklung leicht rückläufig (Abb. 1). Jedoch hat sich m Zeitvergleich mit 2019 die Zahl der offenen Arztstellen je betroffenes Krankenhaus auf durchschnittlich fast sieben Vollkraftstellen nahezu verdoppelt (Abb. 1).

Abb. 1: Stellenbesetzungsprobleme im Ärztlichen Dienst

Rechnet man die Ergebnisse auf die Grundgesamtheit der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten hoch, konnten bundesweit rund 5.200 Vollkraftstellen im Ärztlichen Dienst nicht besetzt werden. Das entspricht einem Anteilswert von rund 3 % der ärztlichen Vollkraftstellen in der genannten Grundgesamtheit.

Stellenbesetzungsprobleme im Pflegedienst auf Allgemeinstationen

89 % der Krankenhäuser hatten im Frühjahr 2022 Probleme, offene Pflegestellen auf Allgemeinstationen zu besetzen. Die Stellenbesetzungsprobleme im Pflegedienst der Allgemeinstationen haben seit 2011 kontinuierlich zugenommen (Abb. 2). In den letzten Jahren sind sie auf ohnehin hohem Niveau noch weiter gestiegen.

Abb. 2: Stellenbesetzungsprobleme im Pflegedienst auf Allgemeinstationen

Die von Stellenbesetzungsproblemen betroffenen Krankenhäuser konnten im Mittel rund 21 Vollkraftstellen nicht besetzen (Abb. 2). Hochgerechnet auf die Grundgesamtheit der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten blieben bundesweit rund 20.600 Vollkraftstellen im Pflegedienst der Allgemeinstationen unbesetzt. Bezogen auf die Vollkraftstellen im Pflegedienst auf den Allgemeinstationen der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten insgesamt sind knapp 8 % der Pflegestellen derzeit vakant.

Stellenbesetzungsprobleme in der Intensivpflege

Im Frühjahr 2022 hatten drei von vier Krankenhäusern mit Intensivstationen Probleme, offene Intensivpflegestellen zu besetzen. Der Anteil der vom entsprechendem Fachkräftemangel betroffenen Krankenhäuser hat sich in den letzten Jahren auf hohem Niveau stabilisiert (Abb. 3).

Abb. 3: Stellenbesetzungsprobleme in der Intensivpflege

Die von Stellenbesetzungsproblemen betroffenen Krankenhäuser konnten im Mittel fast elf Vollkraftstellen in der Intensivpflege nicht besetzen (Abb. 3). Hochgerechnet auf die Grundgesamtheit der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten mit Intensivstationen blieben bundesweit rund 9.500 Vollkraftstellen in der Intensivpflege unbesetzt. Bezogen auf die Vollkraftstellen in der Intensivpflege der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten insgesamt sind rund 14 % der Pflegestellen derzeit vakant.

Stellenbesetzungsprobleme im OP- und Anästhesiedienst

Das nicht-ärztliche Personal im Operationsdienst umfasst Operationstechnische Assistenten (OTA), weitergebildete OP-Pflegefachkräfte sowie nicht entsprechend aus- oder weitergebildetes OP-Personal. Das nicht-ärztliche Personal in der Anästhesie umfasst Anästhesietechnische Assistenten (ATA), weitergebildete Anästhesie- und Intensivfachpflegekräfte sowie Anästhesiepersonal ohne Aus- oder Weiterbildung.

62 % der Krankenhäuser hatten im Frühjahr 2022 Probleme, offene Stellen beim nicht-ärztlichen Personal im Operationsdienst zu besetzen (Abb. 4). Beim nicht-ärztlichen Personal im Anästhesiedienst waren 58 % der Krankenhäuser von Stellenbesetzungsproblemen betroffen. Die Krankenhäuser mit Stellenbesetzungsproblemen konnten im Mittel 4,5 Vollkraftstellen im Operationsdienst nicht besetzen. Für das nicht-ärztliche Personal in der Anästhesie lag der Durchschnittswert bei 3,3 Stellen (Abb. 4).

Abb. 4: Stellenbesetzungsprobleme im OP- und Anästhesiedienst

Rechnet man die Stichprobenergebnisse auf die Grundgesamtheit der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten hoch, blieben bundesweit rund 2.500 Vollkraftstellen im Operationsdienst unbesetzt. Beim nicht-ärztlichen Personal in der Anästhesie konnten hochgerechnet rund 1.700 Vollkraftstellen nicht besetzt werden. Bezogen auf die Vollkraftstellen im OP- und Anästhesiedienst insgesamt sind jeweils knapp 8 % der Stellen derzeit vakant.

Diskussion

In allen betrachteten Berufsgruppen hat der Fachkräftemangel, gemessen an der Anzahl und dem Anteil vakanter Vollkraftstellen, zwischen 2011 und 2022 deutlich zugenommen. Im Beobachtungszeitraum fällt die Zunahme vakanter Stellen im Pflegedienst auf den Allgemein- und Intensivstationen im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen besonders stark aus.

Gemessen am Anteil der von Stellenbesetzungsproblemen betroffenen Häuser ist in den letzten Jahren im Ärztlichen Dienst ein leichter Rückgang, in der Pflege auf den Allgemeinstationen ein moderater Anstieg und in der Intensivpflege eine weitgehend stabile Entwicklung zu beobachten. Der steigende Fachkräftemangel bei Ärzten und in der Pflege ist daher maßgeblich auf die deutliche Zunahme vakanter Stellen pro Krankenhaus pro Berufsgruppe zurückzuführen.

Im Unterschied zum Pflege- und Ärztlichen Dienst hat der Fachkräftemangel bei den nicht-ärztlichen OP- und Anästhesieberufen erst in den letzten Jahren des Beobachtungszeitraums merklich zugenommen. Hier sind sowohl der Anteil der betroffenen Häuser als auch die Anzahl der offenen Stellen deutlich angestiegen.

Angesichts von massiven Stellenbesetzungsproblemen und des signifikanten Personalmehrbedarfs im Krankenhaus, insbesondere bei wünschenswert verbesserten Personalschlüsseln, stellt sich die Frage, welche grundsätzlichen Handlungsoptionen für eine verbesserte Personalausstattung bestehen. Hier bieten sich im Wesentlichen die folgenden Handlungsoptionen an:

  • Die Aus- und Weiterbildungskapazitäten in den Gesundheitsberufen sind kontinuierlich auszubauen. Für die Bekämpfung des Fachkräftemangels und perspektivisch verbesserte Personalschlüssel ist dieser Kapazitätsausbau erforderlich.
  • Durch einen längeren Berufsverbleib und einen verzögerten Renteneintritt können beim vorhandenen Personal zusätzliche Vollzeitäquivalente gewonnen werden. Für diese Zwecke bieten sich vor allem Maßnahmen des altersgerechten Arbeitens, der Personalentwicklung und ein betriebliches Gesundheitsmanagement an.
  • Durch Arbeitszeitverlängerungen bei Teilzeitkräften bzw. reduzierte Teilzeitquoten in den Gesundheitsberufen können zusätzliche Vollzeitäquivalente generiert werden. Zu diesem Zweck sind Arbeitszeitmodelle und Arbeitsbedingungen zu entwickeln, die es Teilzeitkräften erleichtern, länger und flexibler zu arbeiten.
  • Viele Beschäftigte, vor allem in den nicht-ärztlichen Berufen, steigen vorzeitig oder längerfristig aus dem Beruf aus, etwa während der Phase der Elternzeit und Kindererziehung. Durch entsprechende Akquiseaktivitäten, wie Kontakthalte-, Wiedereinstiegs- und Qualifizierungsprogramme sowie familienorientierte Angebote, kann diese „stille Reserve“ gezielt angesprochen werden.
  • Durch einen gezielten Abbau von Dokumentation und Administration in den Gesundheitsberufen und eine weitreichende Digitalisierung der Dokumentation und anderen Prozessen im Krankenhaus haben die Mitarbeiter mehr Zeit für patientennahe Tätigkeiten. Damit verbessert sich Versorgungsqualität für die Patienten sowie die Berufszufriedenheit der Mitarbeiter und ihre Bindung an das Krankenhaus.

Politik und Selbstverwaltung sind gefordert, die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für eine angemessene Personalsituation im Krankenhaus zu schaffen, etwa über die Kalkulation der Leistungsentgelte, die Erhöhung der Ausbildungsbudgets, Bürokratieabbau und bedarfsorientierte Personalregelungen. Die Krankenhäuser können ihrerseits durch eine erhöhte Arbeitgeberattraktivität zusätzliche Fachkräfte generieren bzw. einen längeren Verbleib in den Gesundheitsberufen begünstigen.

Literatur

[1]   Deutsches Krankenhausinstitut (2011 ff.): Krankenhaus Barometer. https://www.dki.de/barometer/krankenhaus-barometer (27.03.2023)

Dr. Karl Blum

Vorstand

Deutsches Krankenhausinstitut e. V.

Hansaallee 201, Haus 1

40549 Düsseldorf

[email protected]

www.dki.de

Gesundheitspolitik

Blum K: BDC-Praxistest: Wo sind unsere Ärzte und Pflegekräfte hin? Passion Chirurgie. 2023 September; 13(09): Artikel 05_01.

Mehr Artikel zum Thema „Ärztemangel“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Karriere | Arbeitsmarkt.

Passion Chirurgie im September

Das „D-Arzt-System“ steht im Fokus der aktuellen Ausgabe, passend zum Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU), der vom 24. bis 27. Oktober 2023 in Berlin stattfindet. Der BDC ist an allen vier Kongresstagen mit einem Stand vertreten in Halle 2.2b. Wir freuen uns auf Gespräche mit Ihnen!

Kennen Sie schon unseren Chirurgie-Podcast „Surgeon Talk“? Im September 2023 diskutierte der Leiter der BDC|Akademie Professor Dr. Wolfgang Schröder mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt zum Thema „Wie gewinnen wir genug Ärztinnen und Ärzte in Deutschland, um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten?“. Sie sind herzlich eingeladen, den kostenlosen Podcast im Archiv anzuhören: www.surgeontalk.de.

Hier gehts zur neuen Ausgabe.

Wir wünschen eine spannende Lektüre!
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Über 100 Jahre D-Arzt – der Schnellzug in der medizinischen Versorgung

Am 1. Mai 1892 ist es soweit: Der D 31/32 rollt vom heutigen Potsdamer Platz, dem damaligen Berlin-Potsdamer Bahnhof vom Gleis. Das Ziel: der Kölner Hauptbahnhof.

Neben den Fahrgästen versammeln sich auf dem Gleis auch zahlreiche Schaulustige. Denn die Möglichkeit des Durchschreitens der Waggons während der Fahrt ist eine kleine Sensation. In den Vorläufermodellen des D-Zugs müssen die Reisenden nämlich noch jedes einzelne Abteil von außen durch Türen betreten. Längs aller Wagen sind Laufbretter mit Haltestangen angebracht, über die der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle balancieren und die Türen in akrobatischen Aktionen öffnen muss. Selbst als die früher gemächlich vor sich hin tuckernden Züge Geschwindigkeiten von 100 Stundenkilometern erreichen, ist das noch so. Entsprechend hoch sind die Unfallzahlen: vor allem auch, weil sich in überfüllten Zügen immer wieder Reisende auf die Trittbretter stellen. Es gibt nicht nur Verletzte, sondern auch Tote. [2]

Und nun, der D-Zug! So wurden ausschließlich Züge bezeichnet, deren Wagen durch mit Faltenbälgen geschützte Übergänge untereinander verbunden waren, die sogenannten Durchgangswagen. [3] Zudem sollte der D-Zug besonders pünktlich und bequem sein. Und nicht mehr an jeder „Milchkanne“, sondern nur noch an den wichtigsten Stationen halten.

Leider wissen wir nicht, ob der Begriff „Durchgangsarzt (D-Arzt)“ [1] in Anlehnung an den Durchgangszug gewählt wurde. Vorstellbar ist es aber durchaus: der D-Arzt als Ansprechpartner für die wichtigsten Stationen für gesetzliche Unfallversicherte und Berufserkrankte. Der D-Arzt, der die Behandlungsübergänge überwacht, der dafür sorgt, dass die Behandlungen für die Versicherten bequem und pünktlich durchgeführt werden.

Benutzt wurde der Begriff „Durchgangsarzt“ zum ersten Mal in § 3 der Reichsversichertenordnung (RVO) am 29. November 1921, also fast 30 Jahre, nachdem der erste D-Zug durch Deutschland rollte. Danach hatte die Krankenkasse auf Wunsch der Berufsgenossenschaft deren Unfallverletzte anzuhalten, sofort nach der Krankmeldung und vor der ersten Inanspruchnahme des Kassenarztes einen von der Berufsgenossenschaft bezeichneten Facharzt (Durchgangsarzt) zurate zu ziehen.

Es ist leider nicht nur unbekannt, vor welchem Hintergrund der Begriff „D-Arzt“ gewählt wurde. Auch der Anlass für die Überlegungen zur Einführung eines Durchgangsarztes in der gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht genau überliefert. Vielleicht aber steht die Einführung des Durchgangsarztes im Zusammenhang mit dem bislang schwersten Unglück in der Geschichte der deutschen chemischen Industrie und der größten zivilen Explosionskatastrophe in Deutschland: „Am Morgen des 21. Septembers 1921 ereigneten sich im Oppauer Werk der Badischen Anilin- und Sodafabrik im Laboratorium 53 zwei schwere Explosionen. Das ganze Gebäude wurde durch den Luftdruck emporgehoben und stürzte in sich zusammen. In dem Gebäude waren etwa 800 Mitarbeiter beschäftigt, von denen keiner mit dem Leben davongekommen ist. Durch den Luftdruck sind in der weiteren Umgebung von Mannheim bis Heidelberg zahlreiche Fensterscheiben zertrümmert worden. In Mannheim, das vom Explosionsherd weit entfernt ist, sind bis jetzt ein Toter, 36 Schwer- und 20 Leichtverletzte festgestellt worden. Sämtliche Lazarette und Mannheim und Ludwigshafen sind von Verwundeten überfüllt.[4]

Dieses schwere Unglück in der chemischen Industrie könnte tatsächlich der Auslöser für die Implementierung des D-Arzt-Systems gewesen sein – denn die speziellen schweren (Brand-)Verletzungen erforderten eine spezielle medizinische Versorgung.

Abb. 1: D-Arztverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung

Und der D-Arzt beurteilte seinerzeit bereits, ob die Fürsorge der Krankenkasse ausreicht oder ob besondere Heilmaßnahmen notwendig sind – Kriterien, die man in ähnlicher Weise noch immer im Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger wiederfindet. Schon damals musste der Durchgangsarzt in der Beurteilung und Behandlung von Unfallverletzten besonders erfahren, fachärztlich ausgebildet (Chirurg oder Orthopäde) und ausschließlich fachärztlich tätig sein. [5]

Hohe Anforderungen an D-Ärzte gerechtfertigt

Auch heute noch ist es im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen die Aufgabe der Unfallversicherung, für den Verletzten durch geeignete Behandlungsmaßnahmen sowie durch Geld- oder Sachleistungen die schnellstmögliche Rückführung zur Leistungsfähigkeit sicherzustellen (§§ 26 ff. SGB VII). Hierzu werden in erster Linie Durchgangsärzte (D-Ärzte) bestellt, die nach Diagnosestellung über den weiteren Therapieverlauf entscheiden und den weiterbehandelnden Arzt bestimmen. Nach § 26 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger hält der Arzt „den Unfallverletzten an, sich unverzüglich einem Durchgangsarzt vorzustellen, wenn die Unfallverletzung über den Unfalltag hinaus zur Arbeitsunfähigkeit führt oder die Behandlungsbedürftigkeit voraussichtlich mehr als eine Woche beträgt … Eine Vorstellung beim Durchgangsarzt hat auch dann zu erfolgen, wenn nach Auffassung des behandelnden Arztes die Verordnung von Heil- oder Hilfsmitteln oder außerhalb der Berechtigung nach § 12 die Hinzuziehung eines anderen Facharztes erforderlich ist. Bei Wiedererkrankung ist in jedem Fall eine Vorstellung erforderlich. Der Unfallverletzte hat grundsätzlich die freie Wahl unter den Durchgangsärzten.

Bundesweit sind über 3.700 niedergelassene
sowie an Krankenhäusern und
Kliniken tätige Ärzte in dieses Verfahren
vertraglich eingebunden. Jährlich werden
ca. 2,8 Millionen Versicherte der gesetzlichen
Unfallversicherungsträger im
Durchgangsarztverfahren versorgt.

Auch wenn sich das D-Arzt-System in den vergangenen 100 Jahren mit leichten Modifikationen bewährt hat: Die hohen fachlichen und persönlichen Anforderungen an die Durchgangsärzte sind immer wieder Diskussionspunkt in der Ärzteschaft.

Denn der Durchgangsarzt muss zum Führen der deutschen Facharztbezeichnung „Orthopädie und Unfallchirurgie“ berechtigt und als solcher fachlich und fachlich-organisatorisch weisungsfrei tätig sein. Der Durchgangsarzt muss zudem nach der Facharztanerkennung mindestens ein Jahr in einer Abteilung zur Behandlung Schwer-Unfallverletzter eines zum Verletzungsartenverfahren zugelassenen Krankenhauses vollschichtig unfallchirurgisch tätig gewesen sein. Dies ist durch ein qualifiziertes Zeugnis des für diese Abteilung verantwortlichen Durchgangsarztes nachzuweisen. Ist der Durchgangsarzt an einem Krankenhaus oder einer Klinik tätig, muss er darüber hinaus über die Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“ verfügen. [6] Der Durchgangsarzt ist grundsätzlich verpflichtet, seine Tätigkeiten persönlich zu erbringen. Ferner müssen Durchgangsärzte zusätzlich personelle, apparative und einrichtungsmäßige Voraussetzungen erfüllen und zur Übernahme weiterer Pflichten (insbesondere im Bereich der Berichtserstattung, des Reha-Managements und auf dem Gutachtensektor) bereit sein. [7]

Die Landesverbände der DGUV beteiligen demnach ausschließlich fachlich geeignete Ärzte mit entsprechender Ausstattung der Praxis/Klinik am Durchgangsarztverfahren. Die hohen Anforderungen an den D-Arzt sind aber gewollt und gerechtfertigt, weil die Unfallversicherungsträger nach § 34 Abs. 1, 2 SGB VII alle Maßnahmen zu treffen haben, um eine möglichst frühzeitige und sachgemäße Heilbehandlung Versicherter zu gewährleisten. Diese Anforderungen sind gesetzeskonkretisierende Berufsausübungsregelungen zur Sicherung der Gleichbehandlung, die zur Qualitätssicherung gerechtfertigt sind, wie auch das Bundessozialgericht 2006 entschied. [8]

In einem späteren Urteil hat der Bundesgerichtshof zudem entschieden, dass „wegen des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs der Diagnosestellung und der sie vorbereitenden Maßnahmen mit der Entscheidung über die richtige Heilbehandlung … jene Maßnahmen ebenfalls der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des Durchgangsarztes zuzuordnen [ist] mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften“. [9] Was nichts anderes heißt, als dass sich die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung das Handeln der Durchgangsärzte als eigenes Handeln zurechnen lassen müssen.

Die Anforderungen an den Durchgangsarzt sind aber auch deshalb so hoch, weil er als „Lotse“ durch den gesamten Behandlungsablauf als Generalist fungieren muss, gleichzeitig aber einen hohen Spezialisierungsgrad im Bereich der in der gesetzlichen Unfallversicherung vorkommenden Verletzungsarten haben muss.

Eine Übernahme dieses Konzeptes zur Versorgung von Unfallverletzten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung würde sich anbieten. Im Bundesministerium für Gesundheit wird allerdings das D-Arzt-System nicht in den Blick genommen –auch heute nicht. Somit sind nicht nur die Versorgungsbrüche über Sektorengrenzen hinweg im Deutschen Gesundheitssystem ein Problem – sondern auch die unterschiedliche Zuständigkeit der Ministerien (BMG = SGB V/BMAS = SGB VII). Dies führt dazu, dass die Best-Practice-Beispiele zwar quasi vor der Haustür liegen, aber keine Beachtung finden.

Zukunft des D-Arztes

Die Gemeinsame BG-Kommission der unfallchirurgisch-orthopädischen Berufsverbände hat gemeinsam mit der DGUV eine weitgehende Reform der ambulanten D-Arzt-Versorgung auf den Weg gebracht. Ausgangspunkt war die Sorge um die weitere Akzeptanz der derzeitigen, in den Anforderungen der gesetzlichen Unfallversicherungen mit Geltung vom 01. Januar 2011 festgelegten Pflichten und die damit verbundene zukünftige flächendeckende Versorgung mit D-Ärzten. Auch die Altersstruktur der D-Ärzte spielt bei den Überlegungen eine Rolle, wobei dazu gesagt werden muss, dass die fachliche Befähigung zum D-Arzt eine jahrelange Ausbildung mit sich bringt. Zudem ist die Altersstruktur ähnlich der von Ärzten in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Für die DGUV war bei den weiteren Diskussionen aber auch von Bedeutung, dass sich nicht nur die Medizinerwelt, sondern die Arbeitswelt insgesamt verändert:

Klassische Arbeits- und Beschäftigungsformen werden zunehmend verändert oder gar abgelöst werden. Und nicht erst seit Corona besteht der Wunsch der jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach alternativen Arbeits- und Beschäftigungsformen. Die Möglichkeiten des Nutzens des technologischen Fortschritts für den eigenen Arbeitsplatz, die Vereinbarkeit von Beruflichem und Privatem sowie Aspekte der Nachhaltigkeit führen ebenso wie verstärkte Aktivitäten im Bereich von Arbeitsschutz und Prävention zu einem gewünschten Rückgang der Arbeitsunfälle.

Abb. 2: Alterstruktur beteiligter D-Ärztinnen und D-Ärzte – Stand April 2021

Bei allen Diskussionspunkten muss gemeinsames Ziel der Berufsverbände und der DGUV sein: Es gilt, in allen Teilen Deutschlands das seit über 100 Jahren bewährte D-Arzt-System zu erhalten oder dort, wo dies nicht immer möglich ist, neue Wege zu suchen, damit die Unfallversicherung weiterhin durch ein flächendeckendes Netzwerk von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten, Therapeutinnen und Therapeuten sowie Unfall- und Rehabilitationskliniken die medizinische Versorgung sicherstellen kann!

Vielleicht ist die Bahn ja auch bei der Weiterentwicklung des D-Arzt-Verfahrens Impulsgeber: Ab 2023 sollen neue Züge mit dem Arbeitstitel „ECx“ die DB-Fahrzeugflotte erweitern. Das Innovative an diesen Zügen: Sie sind sehr flexibel einsetzbar, bieten WLAN sowie Fahrgastinformation mit Echtzeitdaten und sind barrierefrei. Im übertragenen Sinne: Mit Flexibilität, dem Einsatz von digitalen Hilfsmitteln und dem Blick auf die Versicherten wird der D-Arzt noch weitere 100 Jahre das System der gesetzlichen Unfallversicherung bereichern!

Literatur

[1]   Offiziell heißt es Durchgangsarzt-Verfahren. Natürlich sind aber auch alle Ärztinnen gemeint, die diesen Beruf ausüben. Die DGUV setzt sich dafür ein, dass sich auch Frauen diese spezielle Facharztrichtung ausüben. Deshalb sind mit dem Begriff D-Arzt alle Geschlechter einbezogen.

[2]   https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-d-zug-100.html

[3]   https://de.wikipedia.org/wiki/Schnellzug

[4]   https://dfg-viewer.de/show/?set
%5Bmets%5D=https://content.staatsbibliothek-berlin.de/zefys/SNP27112366-19210921-1-0-0-0.xml

[5]   K.-H. Andro, Trauma und Berufskrankheit 9 aus 2007, Seite S339–S345

[6]   Vgl. https://www.dguv.de/medien/landesverbaende/de/med_reha/documents/d_arzt3.pdf

[7]   Arzt und BG, 6. Auflage, S. 112.

[8]   BSG vom 05.09.2006 – B 2 U 8/05 R

[9]   BGH Urteil v. 29.11.2016 – VI ZR 208/15

Melanie Wendling

Geschäftsführerin
Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e.V.
Friedrichstraße 200
10117 Berlin
[email protected]

Panorama

Wendling M: Über 100 Jahre D-Arzt – der Schnellzug in der medizinischen Versorgung. Passion Chirurgie. 2023 September; 13(09): Artikel 09_01.

Mehr Artikel zum D-Arzt finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.

In eigener Sache: Impact-Faktoren für Innovative Surgical Sciences

Sehr geehrte Mitglieder der Deutsche Gesellschaft für Chirurgie,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

wie Sie sich vielleicht erinnern werden, hat die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) im Jahr 2016 das Gold Open Access Journal „Innovativ Surgical Sciences“ inauguriert (Innovative Surgical Sciences (degruyter.com)).

Nach nunmehr siebenjähriger Publikationstätigkeit hat dieses Journal von Clarivate Analytics erstmals einen Impact-Faktor von 1,3 zugewiesen bekommen. Für ein so junges Journal ist dies ein sehr gutes Ergebnis. Es unterstreicht, dass Open Access die Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens darstellt. Zugleich ist es eine Herausforderung und wesentliche Motivation für die Zukunft, die Zeitschrift weitergehend im Feld der chirurgischen Zeitschriften international zu platzieren und den Impact-Faktor schrittweise zu erhöhen.

In den letzten Jahren hat das Journal, dessen Rechte komplett bei der DGCH liegen, einige Veränderungen durchlaufen. So wurde das Layout an die neue Farbgebung der DGCH und des deutschen Chirurgiekongresses (DCK) angepasst. Darüber hinaus werden die Abstracts des DCK als Sonderheft der Zeitschrift ebenfalls Open Access publiziert und sind somit einem großen Leserkreis zugänglich. Darüber hinaus wurde in diesem Jahr ein National Editorial Board etabliert, in dem von den Fachgesellschaften benannte Repräsentant:innen tätig sind. Es liegt im Interesse der DGCH, die in ihr vertretenen Fachgesellschaften umfassend, transparent und in gegenseitiger Wertschätzung umfänglich in die Belange und zukünftigen Aufgaben zur weiteren Entwicklung des Journals einzubinden.

Innovativ Surgical Sciences ist seit der Gründung im Jahr 2016 in allen großen Datenbanken und Repositorien hinterlegt. Seit mehreren Jahren ist die Zeitschrift zudem bei PubMed gelistet und weithin sichtbar. Dies ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch der Grund für den jetzt zugewiesenen Impact-Faktor. Darüber hinaus ist die Zeitschrift natürlich auch bei Scopus gelistet. In Abbildung 1 zeigen sich aktuell ebenfalls sehr vielversprechende Ergebnisse.

Abb. 1: Innovativ Surgical Sciences auf Scopus (Quelle: Scopus preview – Scopus – Sources, abgerufen am 29.06.2023)

Neben Leitthemen publiziert die Zeitschrift eine Fülle von frei eingereichten, mehrheitlich internationalen Originalbeiträgen, wobei die sog. Rejection-Rate in den Jahren 2021 und 2022 bei 52 % lag. Dies ist auf einen stringenten Double-Blind-Peer-Review-Prozess zurückzuführen, und die DGCH ist allen Gutachter:innen für ihre Tätigkeit sehr dankbar. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass alle Reviews als Supplement zu den publizierten Beiträgen ebenfalls veröffentlicht werden. Dies ist bei den meisten Zeitschriften in dieser Form nicht der Fall, für Innovative Surgical Sciences allerdings Teil der Philosophie des Journals, die eine größtmögliche Transparenz im Hinblick auf die Publikationen gewährleisten möchte.

Im Namen der DGCH möchte ich alle Mitglieder der DGCH und der assoziierten Fachgesellschaften herzlich einladen, für Publikationen Innovative Surgical Sciences zu erwägen. Als Gold Open Access Journal sind die Inhalte im Internet für jeden zu jedem Zeitpunkt und kostenfrei abrufbar, so dass eine maximale Sichtbarkeit der jeweiligen Beiträge gegeben ist. Unverändert übernimmt die DGCH die so genannten Article Processing Charges, so dass für die Autor:innen keine zusätzlichen Kosten entstehen. Im Interesse unseres Fachgebietes würde ich mich daher sehr freuen, möglichst zahlreiche Beiträge in der Zukunft zu erhalten.

Mit den besten kollegialen Grüßen
Joachim Jähne (Editor-in-Chief)

Prof. Dr. med. Joachim Jähne, FACS, MBA

Senator der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie

Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie

Diakovere Friederikenstift und Henriettenstift

Marienstrasse 72-90

30171 Hannover

[email protected]

Intern | DGCH

Jähne J: In eigener Sache: Impact-Faktoren für Innovative Surgical Sciences. Passion Chirurgie. 2023 September; 14(09): Artikel 06_02.

Weiterentwicklung der UV-GOÄ

Ungefähr 3.700 Durchgangsärztinnen und Durchgangsärzte sind Stand Anfang 2023 für die gesetzliche Unfallversicherung tätig. Sie versorgen Unfallverletzungen und Berufskrankheiten in Kliniken oder in ambulanter Praxis und rechnen nach einer einheitlichen Gebührenordnung ab. Damit ist schon eine Besonderheit genannt, die das Durchgangsarztsystem von der Versorgung gesetzlich Krankenversicherter unterscheidet. Während im ambulanten Bereich nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) abgerechnet wird, gilt im stationären Bereich das Prinzip der Fallpauschalen. Die Partner des Vertrages Ärzte/Unfallversicherung haben sich dagegen bei der Vergütung in Anlehnung an die GOÄ 1996 für eine Einzelleistungsvergütung entschieden, was seinerzeit einen erheblichen Fortschritt darstellte.

I. Die Grundlagen der Abrechnung in der Unfallversicherung

Jeder Arzt oder Ärztin rechnet seit 2002 auf der Grundlage des zwischen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dem Spitzenverband der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (SVLFG) vereinbarten Vergütungsverzeichnis gemäß § 51 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger ab. Die UV-GOÄ als Anlage 1 zum Vertrag bildet alle Leistungen ab, die in der Unfallversicherung erbracht und abgerechnet werden können. Anders als die GOÄ gibt es bei der UV-GOÄ keine Steigerungsfaktoren, auch die Unterscheidung von Besonderer und Allgemeiner Heilbehandlung sowie die Ausweisung von Kosten (Besondere Kosten, Allgemeine Kosten und Sachkosten), die dem Unfallversicherungsträger in Rechnung gestellt werden können, unterscheiden die UV-GOÄ von der GOÄ, die im privatärztlichen Bereich gilt (Einzelheiten im Handbuch UV-GOÄ –Abrechnung und Kommentierung der Heilbehandlung in der Gesetzlichen Unfallversicherung, Deutscher Ärzteverlag 2022).

II. Weiterentwicklung von Gebühren in der Ständigen Gebührenkommission

Schon früh waren sich die Vertragspartner darüber einig, dass die UV-GOÄ zwar in Anlehnung an die GOÄ konzipiert wurde, gleichwohl ein eigenständiges Gebührenverzeichnis darstellt. Dies ermöglicht den Vertragspartnern, gebührenmäßig das abzubilden, wonach die Unfallversicherungsträger nach SGB VII verpflichtet ist, nämlich eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung mit allen Maßnahmen sicherzustellen. Mit dieser besonderen Aufgabe der Unfallversicherungsträger geht auch eine Verantwortung der für die Unfallversicherung tätigen Ärzte und Ärztinnen einher. Dies betrifft in besonderem Maße die Durchgangsärzte und Durchgangsärztinnen, die durch den Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger und ihre Beteiligung am Durchgangsarztverfahren verpflichtet sind, Unfallverletzte optimal zu versorgen und durch das System der Unfallversicherung zu steuern. Aber eine zeitnahe und zeitintensive Versorgung bedarf einer guten Vergütung, angepasst an die Aufgaben und Herausforderungen, die sich bei der täglichen Durchgangsarzttätigkeit stellen. Hierfür setzen sich die ärztlichen Mitglieder in der Ständigen Gebührenkommission nach § 52 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger bei den Beratungen mit den Vertretern und Vertreterinnen der gesetzlichen Unfallversicherung ein.

III. Deutliche Gebührenanpassungen seit 2017

Nach wichtigen Anpassungen einzelner Gebühren, beispielsweise bei den Gutachten, gelang es, in der Sitzung der Gebührenkommission am 22. August 2017 eine stufenweise Gebührenanpassung um 18 Prozent bis zum Jahr 2020 zu vereinbaren. Eine weitere Verbesserung ist zum 1. Januar 2023 durch die Höhervergütung für Durchgangsarztberichte erfolgt. Damit sollten in einem ersten Schritt die in den letzten Jahren gestiegenen Kosten ausgeglichen und die Wertschätzung der durchgangsärztlichen Tätigkeit für die Unfallversicherungsträger ausgedrückt werden.

Auch die Zuschläge für ambulante Operationen (Nr. 442 und 442a bis 445 UV-GOÄ) sind um rund zehn Prozent angehoben worden. Darüber hinaus sind neue Leistungen in die UV-GOÄ aufgenommen worden, damit Unfallverletzte auch weiterhin telemedizinisch beraten werden können. Eine wichtige Weiterentwicklung der UV-GOÄ konnte dann in diesem Frühjahr erreicht werden.

Um einen Ausgleich der gestiegenen Energie- Lohn- und Hygienekosten zu erreichen, ist im April 2023 eine lineare Gebührenerhöhung über fünf Jahre ausgehandelt worden. Die Gebührensätze der UV-GOÄ erhöhen sich zum 1. Juli dieses Jahres um fünf Prozent.

In den folgenden vier Jahren werden die Gebühren für ärztliche Leistungen entsprechend der Grundlohnsummenentwicklung angehoben werden – maximal um 5 Prozent jährlich. Die Erhöhung aller Gebühren wird immer zum 1. Juli eines Jahres erfolgen. Dies garantiert Ärztinnen und Ärzten Honorarsicherheit im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung.

IV. Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts

Wichtig ist auch die am 5. April 2023 in der Ständigen Gebührenkommission getroffene Vereinbarung, dass die UV-GOÄ an die aktuellen medizinischen Weiterentwicklungen angepasst werden soll. Dafür werden einzelne Bereiche der UV-GOÄ an die Strukturen der vorliegenden Reform-GOÄ der Bundesärztekammer angepasst werden, um eine moderne und aktuelle Gebührenordnung im Bereich der Unfallversicherung zu erreichen. Kurzfristig beraten werden sollen relevante Bereiche wie die Arthroskopie oder ambulantes Operieren, mittelfristig die Kapitel Beratungen und Untersuchungen sowie Verbände und Wundversorgungen. Damit wird sichergestellt, dass es bei der Weiterentwicklung der UV-GOÄ keinen Stillstand gibt, sondern dass es sich um ein dynamisches Werk handelt. KBV und Unfallversicherung haben großes Interesse daran, die Tätigkeit für Durchgangsärzte und Durchgangsärztinnen attraktiv zu gestalten und für junge Ärztinnen und Ärzte Anreize zu setzen, sich in diesem Fachgebiet weiterzubilden. Dazu gehört neben der Reform der Durchgangsarztbedingungen durch Flexibilisierungen auch ein modernes zeitgemäßes Vergütungssystem, das den medizinischen Fortschritt abbildet. Ein guter Seismograph ist dabei die Tätigkeit der Clearingstelle nach § 66 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger. Hier erreichen die KBV Beschwerden von Ärztinnen und Ärzten, die mit einer Rechnungskürzung durch einen Unfallversicherungsträger unzufrieden sind. Der Antrag an die Clearingstelle mit den notwendigen Unterlagen wie Schriftwechsel, Berichte und Rechnungskürzungen, D-Arztbericht wird in der Geschäftsstelle bei der KBV erfasst und an einen ärztlichen Sachverständigen zur Prüfung übergeben. Dieser entscheidet, ob der Sachverhalt im Rahmen einer Sitzung der Clearingstelle diskutiert werden muss. Hierbei zeigt sich dann, ob es erforderlich ist, Gebühren anzupassen oder Unklarheiten in den Leistungslegenden zu korrigieren. Von der Clearingstelle profitieren somit alle im System der Unfallversicherung, denn es dient neben der Befriedung eines Streitfalles auch der kontinuierlichen Weiterentwicklung der UV-GOÄ.

Barbara Berner

Rechtsanwältin (Syndikusrechtsanwältin)

Kassenärztliche Bundesvereinigung

Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin

[email protected]

Gesundheitspolitik

Berner B: Weiterentwicklung der UV-GOÄ. Passion Chirurgie. 2023 September; 13(09): Artikel 05_04.

Mehr zum D-Arzt auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.

Gesundheitsstadt Berlin und Ecclesia Gruppe rufen HRO-Award ins Leben

Die Gesundheitsstadt Berlin e. V. und die Ecclesia Gruppe zeichnen in diesem Jahr zum ersten Mal Gesundheitsprojekte aus, die maximale Sicherheit in Diagnostik, Therapie und Pflege bieten. Der HRO-Award (High Reliability Organizations) richtet sich an Teams in Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen, die in ihren täglichen Routineprozessen beispielsweise bei der Geburtshilfe, der Behandlung von Schlaganfällen oder im Operationssaal nachweislich nicht nur ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit sicherstellen, sondern zusätzlich dazu kontinuierlich ihre Prozesse verbessern. Der Preis wird am 9. November 2023 auf dem 17. Nationalen Qualitätskongress Gesundheit in Berlin verliehen.

High Reliability Organizations, „Hochzuverlässigkeitsorganisationen“, zeichnen sich durch eine extrem niedrige Fehler- und Komplikationsrate in ihren Prozessen aus, die kontinuierlich weiter gesenkt wird, obwohl ein hohes Risiko besteht. Dabei spielt nicht nur die Qualifikation der Mitarbeitenden eine entscheidende Rolle, sondern auch eine maximale Prozessorientierung, das permanente Identifizieren von Fehlerpotenzialen sowie ein kontinuierliches Training von kritischen Situationen. Mit diesen Maßnahmen kann die Behandlungs- und Pflegequalität sowie die Sicherheit für die Patientinnen und Patienten nachweislich gesteigert werden.

„Als Ecclesia helfen wir Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen dabei, den für sie passenden Versicherungsschutz zu finden – für den Fall der Fälle, dass es zu Fehlern kommt. Die Dienstleistung der Ecclesia-Tochter GRB Gesellschaft für Risikoberatung setzt aber schon viel früher an, nämlich bereits bei der Sicherheits- und Risikoanalyse mit dem Ziel, Fehler gar nicht erst entstehen zu lassen. Fakt ist, dass schon kleine kritische Ereignisse und Fehler die Patientensicherheit gefährden können“, erklärt Dr. Peter Gausmann, Geschäftsführer der GRB. „Fehlerprävention und sichere Prozesse sind daher für uns von großer Bedeutung und korrelieren direkt mit hoher Zuverlässigkeit. Deshalb unterstützen wir die HRO-Initiative und freuen uns, den Award mit der Gesundheitsstadt Berlin ausrichten zu können.“

„Die Siegerprojekte werden einen hohen Standard in Gesundheit und Pflege setzen und sind für andere Einrichtung sicherlich vorbildhaft“, erläutert Dr. Daniel Dettling, Geschäftsführer Gesundheitsstadt Berlin e.V. „Sie können zu einer spürbaren Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen, indem sie die Dreh- und Angelpunkte einer Hochzuverlässigkeit in Medizin und Pflege plakativ aufzeigen.“ Das zahlt auch auf den Globalen Aktionsplan für Patientensicherheit 2021-2030 ein, mit dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vermeidbare Schäden durch unsichere und unzuverlässige Prozesse in Medizin und Pflege minimieren und die sichere Versorgung von Patientinnen und Patienten sicherstellen will.

HRO-Award

Teilnehmer: alle Einrichtungen der Gesundheitswirtschaft und ihre interprofessionellen Teams, die in der unmittelbaren Versorgung von Patientinnen und Patienten tätig sind: Akut- und Fachkrankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Rehabilitation. Die Teilnahme ist kostenlos.
Bewerbung: aussagekräftige Beschreibung der definierten Kriterien sind bis 30. September 2023. Einzureichen und Bewerbungsunterlagen via [email protected]
Auszeichnung: 9. November 2023 auf dem 17. Nationalen Qualitätskongresses Gesundheit der Gesundheitsstadt Berlin (www.qualitaetskongress-gesundheit.de)
Preis: Mitgliedschaft in der Gesundheitsstadt Berlin e.V. mit kostenfreiem Zugang zu allen Veranstaltungen des Vereins im Wert von mehr als 5.000 € (für das folgende Kalenderjahr) sowie Reichweite in den Kanälen unserer Medienpartner

Ecclesia med GmbH

+49 5231 603-6363

[email protected]

Chirurgie+

Ecclesia med: Gesundheitsstadt Berlin und Ecclesia Gruppe rufen HRO-Award ins Leben. 2023 September; 13(09): Artikel 04_03.

Mehr zum Thema „Patientensicherheit“ auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Qualität&Patientensicherheit.