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Nachwuchs: Ist für angehende Chirurgen und Chirurginnen die Weiterbildung in der fachspezifischen Intensivmedizin noch leistbar? Ergebnisse einer Umfrage

In den 1930er-Jahren wurde durch die Chirurgen Sauerbruch und Kirschner der Grundstein für eine Überwachung und Pflege von Frischoperierten auf sogenannten Wachstationen gelegt. In den nachfolgenden Jahren, vor allen Dingen nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde verstärktes Augenmerk auf speziell geschulte Pflegekräfte gelegt. Die organisatorische Leitung oblag damals grundsätzlich der Chirurgischen Klinik, oft wurden Anästhesisten als ärztliche Leitung mit der Betreuung der Schwerkranken beauftragt. Sie standen dann in Lohn und Brot der Chirurgie. In den frühen 60er-Jahren entwickelte sich hieraus, auch unter Zutun der Chirurgie in Deutschland, die Betreuung der sogenannten Aufwachräume durch die Anästhesie – die Wachstation verblieb weiterhin in der bekannten Struktur. Ende der 60er erwuchs schließlich auf der Nürnberger Tagung die Grundlage der jetzigen fachübergreifenden Intensivmedizin, mit der medizinischen Leitung durch einen in der Intensivmedizin erfahrenen Arzt oder einer Ärztin. In den nächsten Jahren entstand daraus das Konstrukt der interdisziplinären Intensivstation unter fachspezifischer Betreuung des Grundleidens.

Nicht erst seit der Corona-Krise wird verstärktes Augenmerk auf diese spezialisierten Einheiten und deren Bettenanzahl gelegt: So waren im Jahre 2004 22.961 Betten bei 1.798 Krankenhäusern mit Intensivstationen vorhanden, im Jahre 2020 nun 27.612 Betten verteilt auf 1.106 Krankenhäuser (7.470 Intermediate-Care-Betten wurden separat erfasst). Die gesamte Chirurgie gab 2004 8.938 aufgestellte Intensivbetten mit einem Nutzungsgrad von 75,8 % an. 16 Jahre später waren es 6.506 Betten bei rund 66 % Nutzungsgrad. Allerdings wurde 2020 die Fachabteilung Intensivmedizin mit 7.006 Betten und einem Nutzungsgrad von 71,1 % zusätzlich aufgeführt. Eine Abwanderung der Intensivbetten unter chirurgischer Ägide liegt auf der Hand bei eigentlicher Zunahme der Intensivbehandlungskapazitäten.

Die Situation in der Weiterbildung

Nach Abschaffung des Common-Trunks im Rahmen der Basisweiterbildung Chirurgie wurde 2021 mit der jüngsten Weiterbildungsordnung nur noch der Zeitraum definiert, welcher in der Intensivmedizin abgeleistet werden muss: Zur Anwendung kann hier die Chirurgie oder ein anderes passendes Gebiet kommen. Eine fachfremde Ableistung ist dadurch möglich geworden. Ein weiterer Unterschied ist die nun nicht mehr vorgegebene zeitliche Abfolge im Rahmen der Ausbildung. Zudem können in fast allen der Spezialisierungen mehr als sechs Monate Intensivmedizin (bis zu 12 Monate) für die Zeit der unmittelbaren Patientenversorgung wie Notfallaufnahme oder anderer Tätigkeit angerechnet werden. Die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten unterscheiden sich auch in den weiteren chirurgischen Spezialisierungen nicht.

Material und Methoden

Zwischen dem 27.02.23 und 08.05.23 (71 Tage) wurde eine online ausfüllbare anonyme Umfrage auf den deutschen Webservern der Lamano GmbH und Co. KG aus Berlin (www.lamapoll.de, zertifiziert nach ISO 27001, BS-7799 TÜV) durchgeführt. 42 Fragen waren unterteilt in die Überbegriffe Demographie, eigene Intensivstation, Interdisziplinäre Intensivstation, Intermediate-Care Station und Feedback. Die prospektiven Teilnehmer (Chefarzt/-ärztin, ltd. Oberarzt oder -ärztin der Intensivstation) wurden durch fünf zeitlich verzögerte Mailings der chirurgischen Fachgesellschaften, der Dachgesellschaft und des Berufsverbandes auf die Umfrage hingewiesen.

Die Fragen in unterschiedlichen Arten waren auf vier Seiten verteilt und unabhängig voneinander zu beantworten. Dem Konzept des Onlinetools geschuldet war es nicht möglich, Bedingungen zu definieren, um Themenblöcke nicht auszulassen oder konditional zu bearbeiten.

Ergebnisse

Von 1.106 Teilnehmenden füllten 181 die Umfrage aus, 170 davon komplett. Die mittlere Bearbeitungszeit betrug 5:42 Minuten.

Die teilnehmenden Kliniken verteilten sich über alle Versorgungsstufen und Fachrichtungen der Chirurgie.

31 (entspricht 17 %) der teilnehmenden Kliniken betrieben eine eigene chirurgische Intensivstation, davon 26 an Universitätskliniken. 74 % konnten einen leitenden Arzt bzw. eine Ärztin der eigenen Fachdisziplin vorweisen. Die Größe der Stationen variierte um den Mittelwert von 14 Betten. Mit der Quote eines zu 90 % zugeordneten Oberarztes/-ärztin der Kernarbeitszeit bzw. 13 % zusätzlich im Schichtdienst gegenüber einem anwesenden Facharzt/-ärztin in 42 % im Schichtdienst sind die klinikeigenen Stationen gut besetzt.

Abb. 1: Teilnahmestatistik

Abb. 2: Verteilung nach Versorgungstufen und Fachrichtungen

Besonders Weiterbildung und Struktur der Stationen nahmen einen großen Teil der Umfrage ein: Im Hinblick auf die jüngst veröffentlichten Strukturempfehlungen der DIVI sind Ärzte unter drei Monaten Einarbeitungszeit nicht in die Personalausstattung einzurechnen – in 3 % fand sich hier eine Zuordnung unter drei Monaten.

In 97 % besaß die ärztliche Leitung der klinikeigenen chirurgischen Intensivstation die entsprechende Zusatzweiterbildung (ZWB) (Strukturmerkmal der Basisprozedur OPS 8-980 „Intensivmedizinische Komplexbehandlung“, Bedingung für Stufe 1 [Intensivmedizinische Basisversorgung] der obengenannten Strukturempfehlungen der DIVI). Zwei Fragen zielten neben dem Strukturmerkmal der erweiterten Basisprozedur „Aufwendige Intensivmedizinische Komplexbehandlung“ (OPS 8-98f) weiterhin auf die Vorgaben der DIVI ab: einerseits hielten 87 % dieser Kliniken einen Facharzt mit der ZWB vor (entsprechend Stufe 2 der Strukturempfehlungen, „erweiterte Versorgung“), jedoch wurde in 3 % keine Visite am Wochenende durch einen spezialisierten Facharzt oder eine Fachärztin durchgeführt.

Anzumerken gilt, dass von den 31 chirurgischen Intensivstationen in den letzten 18 Monaten zu 75 % tatsächlich (mindestens) einen Facharzt oder eine Fachärztin zur ZWB Intensivmedizin weitergebildet hatten. Nachwuchs in der Führungsebene scheint also da zu sein.

Es ist davon auszugehen, dass die in der chirurgischen Weiterbildung geforderte Intensivrotation von sechs Monaten das Mindestmaß darstellt: Die Hälfte der Teilnehmenden attestierte den Weiterbildungsassistent:innen auf der eigenen Station mindestens 6 Monate Tätigkeit, 42 % ließen die Ärzt:innen mehr als 12 Monate rotieren.

Rotieren jedoch die Weiterbildungsassistent:innen (WBA) auf eine interdisziplinäre Intensivstation (IOI), so ist diese mit über 90 % unter anästhesiologischer Führung. Die Rotation findet in 75 % mit einem Assistenten statt – teilweise auch mit drei oder mehr, welche zu knapp 60 % auch Schichtdienste auf den fachfremden, interdisziplinären Intensivstationen übernehmen.

Einige Teilnehmende der Umfrage sahen jedoch den Einsatz der Rotanden eher skeptisch: In 7 % der Fälle wurden negative Aspekte genannt, der überwiegende Anteil jedoch konnte über den vollwertigen Einsatz ihrer entsendeten Assistent:innen berichten.

Diskussion

Aufgrund der Funktionalität und Struktur des Web-basierten Fragebogens ließ sich nicht ausschließen, in einem Datensatz einzelne Felder nicht zu beantworten oder Hyperlinks eben nicht zu folgen. Dies schlägt sich vor allen Dingen in der oft missverstandenen Frage 7 („Welcher Klinik ist die Intensivstation zugehörig“) nieder: Die IOI als eigenständige Fachabteilung wurde hier anscheinend oft dennoch als der eigenen Klinik zugehört beurteilt.

Tabelle 1: Einsatzspektrum WBA in der Rotation

Positive Rückmeldung

Negative Rückmeldung

sämtliche Tätigkeiten eines intensivmedizinisch tätigen Arztes

Visite, Verbände

Visite, Verbandswechsel, ZVK-Anlage, Sonographie, Punktionen

Vak-Verbände zusätzlich zu normaler Intensivversorgung (wie Anästhesisten)

VW, niedere Tätigkeiten der ANA

Zugänge, Visiten, Beatmung, Therapiekonzepte entwickeln, Dokumentation, Reanimation, Leichenschau, Angehörigengespräche, Substratgewinnung…halt alles, was Intensivmedizin ausmacht…

Begleitung der täglichen oberärztlichen Visiten, Verbandwechsel

Patienten aufnehmen und verlegen, Visiten, Therapiepläne erstellen, arterielle und venöse Zugänge sowie Drainagen legen, Angehörigen-Gespräche führen

Visite Verbandswechsel

Visite, Teil des Schichtdienstes, Nachtdienst allein

Visite, Verbandswechsel, Intubation, Katheter legen, Pläne schreiben, Aufklärungsgespräche, Angehörigengespräche, Operationen auf Station, Tracheotomien

Zuständigkeit der chirurgischen Rotanden, für die Anästhesisten den Brötchendienst zu übernehmen

Im Rahmen der 18-monatigen Rotation werden die Assistenten so weit ausgebildet, dass sie am Ende alle Tätigkeiten auf der Intensivstation bewältigen können (Bronchoskopie, Intubation, Thoraxdrainagenanlage, Hämodynamik Messung, IABP, ECMO Anlage, differenzierte Katecholamintherapie, parenterale Ernährung, Nierenersatzverfahren)

So gut wie keine! Sind überwiegend Beobachter und kostenfreie Arbeitskräfte für Dokumentationsaufgaben und sonstige niedere Tätigkeiten. Ist nur eine einseitige Rotation! Chirurgische Rotationsassistenten werden wie das fünfte Rad am Wagen behandelt! Eine katastrophale und unbefriedigende Situation

Visite, Behandlung einschließlich Beatmung, Intubation, Katheteranlagen, Bürokratie

Visite, Verbandswechsel, TSD-Anlagen, Sonographien, Bürokratie etc.

Verbandswechsel, Katheter Anlagen, diff. Medikamententherapie, Erfassung, Darstellen und Übergeben von komplexen Krankheitsbildern, Briefe schreiben, Grundzüge der Beatmungstherapie und Nierenersatz- und Herzunterstützungssysteme

Der Rotationsassistent rotiert für den Einsatz auf der INT für 6 Monate in die Anästhesie. Visite, Verbandswechsel, ZVK, Arterieller Zugang, Verlegungsbriefe, Therapiepläne, Beatmung, Bülaudrainagen, Sonographie, ggf Pleurapunktion, ggf. Intubation, Begleitung zur Diagnostik (CT/ MRT). Er nimmt weiter an den chirurgischen Diensten teil. Die Assistenten auf INT der Anästhesie arbeiten nicht im Schichtdienst.

Volles Spektrum und gleiche Tätigkeiten wie anästhesiologische Kollegen (inkl. Intubationen, Katheter usw.)

Visiten, Beatmung, Notfallversorgung, Notfalloperationen, multimodales Monitoring, EVS, ICP und Mikrodialysesonden etc.

Zudem konnte die Umfrage auch ohne Beantwortung aller notwendigen Fragen abgesandt, also vorzeitig abgebrochen werden. Eine Überprüfung auf inhaltliche Korrektheit oder unlogische Eingabe war simultan beziehungsweise während der Beantwortung nicht möglich. So kam es auch zu mehrfach unklaren Bettenangaben bei Frage 10: Es ist anzunehmen, dass die Teilnehmenden hier mit Frage 28 verglichen („Feste Zuordnung von Betten auf der IOI“).

Dennoch lassen sich durch die 181 verwertbaren Fragebögen sehr gut der aktuelle Stand und bestimmte Tendenzen erkennen. Angesichts der vom G-BA im Oktober 2023 beschlossenen Bildung von intensivmedizinischen Zentren und durch die DIVI im Jahr 2022 empfohlene Stufeneinteilung würde man erwarten, nur noch große interdisziplinäre Stationen ohne chirurgische Intensivexpertise in Deutschland zu finden. Es ist jedoch teilweise anders: Oberärzt:innen oder Fachärzt:innen mit vorhandener ZWB finden sich auch in den Häusern der Regelversorgung in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Saarland. Diese betreiben dann häufig eine chirurgische IMC. Ob sich hier allerdings eine mindestens kostendeckende Erlösabrechnung ohne (weiterhin) spezifische Prozedur durchführen lässt, bleibt offen. Bei zunehmender Versorgungsstufe schwindet der Anteil von Fachärzt:innen mit ZWB und die Existenz einer chirurgischen IMC. Überhaupt finden sich in 24 % an Häusern der Regelversorgung eine IMC.

Jedoch findet man in dem einzigen Freitextfeld der Umfrage auch Inhalte, welche grübeln lassen. Man muss vorausschicken, dass eine Rotation eines WBA auf eine grundsätzlich fachfremde Station von vornherein auf beiderseitige Ressentiments treffen kann. Sind doch manche Krankheitsbilder komplett fremd oder Arbeitsstrukturen unterschiedlich, ärztliche und pflegerische Kolleg:innen unbekannt. Da scheint es nachvollziehbar, den chirurgischen Kollegen oder die Kollegin nebenher laufen zu lassen. Ob das suffizient gemäß den Lehrinhalten des Weiterbildungskataloges gelten mag, bleibt der Leserschaft selbst überlassen. Die Unterteilung in Methodenkompetenz (wie pathophysiologische und pharmakologische Grundlagen) und Handlungskompetenz (Sepsistherapie, Punktionstechniken, Atemwegsmanagement oder lebensrettende Maßnahmen) scheinen die Ausbildung einfacher zu machen, eigenes Handeln (Fertigkeiten) werden jedoch weiterhin gefordert.

Zumindest auf Ebene der Maximalversorgung klagen die Teilnehmer über dieses System, waren doch die Rotanten entweder als „Brötchenholer für die Anästhesisten“ oder nur für Verbände beziehungsweise Visitenassistenz eingesetzt. Im Gegensatz dazu war das Feedback im universitären Bereich oder in der Regelversorgung grundsätzlich entgegengesetzt.

Auffällig war auch die Qualität der Ausbildung gemäß Rückmeldungen in Abhängigkeit der Anzahl der Rotationsassistent:innen: Je mehr Assistent:innen rotierten, umso besser die Rückmeldung – statistisch kamen jedoch 3 oder mehr WBA nur in 7 % zur Rotation.

Bei einer Gesamtquote von 54 % dieser (freien) Rückmeldungen ist also manchmal anzunehmen, dass in einigen Fällen wertvolles Personal nicht oder falsch eingesetzt wird, zum Leidwesen der entsendenden chirurgischen Kliniken. Nicht zuletzt wird doch von Fachärzt:innen erwartet, auch in intensivmedizinischen Belangen zumindest Kenntnisse und Entscheidungskompetenz zu haben. Zu guter Letzt stellt sich die Kernfrage: Ist denn überhaupt unter diesen Umständen von einer suffizienten Ausbildung des anstrebenden Facharztes im intensivmedizinischen Kontext auszugehen? Die Intensivmedizin überschneidet sich verständlicherweise in einigen Inhalten mit der präklinischen und innerklinischen Notfallmedizin, dürfte also für jeden Arzt und jede Ärztin notwendig und sogar interessant sein. Seit einigen Jahren bildet die Besetzung von Intensivstationen sogenannte schnelle Einsatzteams für innerklinische Notfälle (RRT, MET), welche bei Notfällen auf peripheren Stationen angefordert werden können. Nicht selten bedient dieses Personal auch den Schockraum – eine für alle chirurgischen Fachdisziplinen kritische Einheit. Diese Aufgabe wurde in knapp 13 % von Ärzten einer IOI und knapp 8 % von der chirurgischen Intensivstation wahrgenommen.

Verglichen mit der letzten Umfrage aus unserer Arbeitsgemeinschaft im Jahr 2005 findet sich ein bemerkenswerter Trend hinsichtlich chirurgisch geführter Intensivstationen an Universitätskliniken: Außer in der Herz-­Thorax-Chirurgie ist eine Zunahme dieser fachspezifischen Einheiten festzustellen.

IOIs finden sich hauptsächlich an den nachgeordneten Versorgungsstrukturen. Dadurch wird ein Großteil der zukünftigen Chirurg:innen eben nicht an universitären Einheiten ausgebildet – falls kein Stellenplatzwechsel nach dem Common Trunk stattfindet. An insgesamt 107 Kliniken findet sich eine IOI, in welche zu 90 % WBA rotieren und zu 54 % auch am Schichtdienst teilnehmen.

Was mag die Lösung sein? Es wäre zu begrüßen, dass für den Rotanden auf einer IOI ein strukturiertes Einarbeitungskonzept und Weiterbildungscurriculum vorhanden ist – dadurch kann diese wertvolle personelle Ressource auch zum vollwertigen Mitglied werden und profitiert in der eigenen Weiterbildungskompetenz davon. Ein Großteil der Antworten spiegelt die Integration des Rotanten in die klinikfremden Strukturen wieder, auch die lange Rotationszeit ist ein Indiz dafür. Mit einer Bettenzahl von durchschnittlich 16 Betten auf den großen Einheiten sind wahrscheinlich die chirurgischen WBA eine wertvolle personelle Ressource, welche nach Einarbeitung die gleichen Aufgaben wie die anästhesiologischen oder internistischen WBA übernehmen können.

Tabelle 2: Anteil chirurgisch geführter Intensivstationen an Universitätsklinika

Viszeralchirurgie

Unfallchirurgie

Herz-Thorax-Chirurgie

Neurochirurgie

Teilnehmer

19

14

19

5

Eigene Intensivstation

10

4

10

2

Prozentualer Anteil 2023

52 %

28 %

52 %

40 %

Anteil Umfrage 2005

12 %

23 %

61 %

nicht erhoben

Trend

Ein „Nebenherlaufen“ oder „Verbandsdienst“, wie er teilweise noch berichtet wird, ist obsolet.

Außerhalb universitärer Strukturen chirurgische Intensivstationen, abgesehen von Spezialdisziplinen wie Verbrennungsmedizin zum Beispiel – zu fordern, ist überholt und personell nicht zu leisten. Die in 30 % in diesen Versorgungssektoren vorhandene chirurgisch geführte IMC kann eine individuelle Weiterentwicklungsmöglichkeit für intensivmedizinisch interessierte Chirurg:innen sein.

Literatur

[1]   Statistisches Bundesamt, www.destatis.de

[2]   Empfehlung zur Struktur und Ausstattung von Intensivstationen 2022, DIVI

[3]   Die geschichtliche Entwicklung der Intensivmedizin in Deutschland, Anästhesist 1999

[4]   OPS-Version 2023 (Komplexbehandlungen), www.dimdi.de

Dr. med. René Wildenauer

Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für Intensiv- und Notfallmedizin der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (CAIN)

Im Tännig 2a

97320 Mainstockheim

[email protected]

Chirurgie+

Wildenauer R: Ist für angehende Chirurgen und Chirurginnen die Weiterbildung in der fachspezifischen Intensivmedizin noch leistbar? – Ergebnisse einer Umfrage. Passion Chirurgie. 2024 Mai; 14(05): Artikel 04_02.

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Operation Fruchtwasser

Die künstliche Gebärmutter soll Frühgeborene retten und könnte
verändern, wie wir auf die Welt kommen.

Dieser Artikel stammt aus dem NZZ-Folio zum Thema „Wunschkinder“ (erschienen am 2. Mai 2023). Er galt unter den Einsendungen für den BDC-Journalistenpreis 2023 als einer der Favoriten.

Der Silikonfötus kommt im Sitzungszimmer 6.113 zur Welt. Dort, im 6. Stock des Atlasgebäudes der Technischen Universität Eindhoven, liegt auf einem Operationstisch der Prompt-Flex-Geburtssimulator von Laerdal Medical mit dem Kaiserschnittmodul. Der Prompt Flex ist eine Dame nur aus Unterleib, an der Medizinstudenten ihre Eingriffe üben. Was Juliette van Haren daran vorführt, ist die Trockenübung eines Kaiserschnitts, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat. Mittels einer einfallsreichen Kombination aus einem Zwei-Ring-Wundspreizer und einem Plastictunnel zur Gebärmutter befördert sie den Fötus in den durchsichtigen Transferbeutel. Dabei greift sie in den darin eingearbeiteten Handschuh und holt die verblüffend echt aussehende Silikonnachbildung aus dem Kunststoffuterus. Auf diese Weise würde ein zu früh geborener Säugling kein einziges Mal aus dem Fruchtwasser auftauchen (Abb. 1).

Abb. 1: Der «nasse» Kaiserschnitt: Damit der Fötus nicht zu atmen beginnt, muss er während der Geburt ständig unter Wasser bleiben.

Juliette van Haren ist Doktorandin an der Abteilung für Industriedesign. Wenn sie ihren Freunden erzählt, dass sie Föten aus Silikon baut und einen Ablaufplan für den neuartigen Kaiserschnitt entwickelt, finden sie das seltsam. „Was ich mache, ist nicht stereotypes Industriedesign“, sagt van Haren und zeigt auf die Entwürfe von Küchengeräten, die auf einem Tisch an der Wand stehen. Für ihre Doktorarbeit suchte sie nach einer Kombination aus Biomedizin und Industriedesign. Dabei landete sie bei ihrem Doktorvater Frank Delbressine, der sich mit Simulationen in der Medizin beschäftigt. Er entwickelte zum Beispiel Puppen von Frühgeborenen, an deren fragilen Körpern Geburtshelfer Wiederbelebungsmaßnahmen trainieren können. Diese Expertise führte ihn 2019 zum EU-Projekt „Perinatal Life Support“ aus dem Horizon-2020-Programm, an dem Hochschulen in Eindhoven, Aachen und Mailand beteiligt sind. Für viele der Ingenieure, Wissenschaftler und Designerinnen dort dürfte es das kühnste Vorhaben sein, an dem sie je gearbeitet haben: die künstliche Gebärmutter.

Unter diesem Namen wurde das Projekt jedenfalls 2019 angekündigt, und so steht es immer noch auf der Website der Universität Eindhoven. Doch inzwischen hat man sich in der Forschergemeinschaft auf einen neuen Namen geeinigt. Wie der heißt, kann der Projektkoordinator, der Physiker Frans van de Vosse, allerdings erst nach einer kleinen Diskussion mit seinen Mitarbeitern ermitteln: Artificial Amnion and Placenta Technology (AAPT). Normalerweise gibt es keinen Anlass, eine griffige Bezeichnung durch fünfzehn Silben zu ersetzen, an die sich niemand erinnern kann. Doch der Begriff „künstliche Gebärmutter“ wecke einfach zu viele falsche Vorstellungen, sagt van de Vosse.

Das hat unter anderem mit einem berühmten Buch aus dem Jahr 1932 zu tun. In „Schöne neue Welt“ erzählt der englische Schriftsteller Aldous Huxley von einer Gesellschaft im Jahr 2540, die sich von der „Ekelhaftigkeit und Verwerflichkeit“ des Kindergebärens losgesagt hat und ihren Nachwuchs in Brutöfen züchtet.

Die Befreiung von der Tyrannei der Fortpflanzungsbiologie

Das vollständige Heranwachsen eines Organismus außerhalb des Körpers, in dem er normalerweise reift, wird komplette Ektogenese genannt. Sie tauchte in den vergangenen hundert Jahren immer wieder in verwegenen Zukunftsvorstellungen und ethischen Gedankenexperimenten auf. Schon der britische Wissenschaftler J. B. S. Haldane, der die Bezeichnung erfunden hat, sinnierte in den 1920er Jahren über eine Zukunft im Jahr 2074, in der weniger als 30 Prozent der Kinder von einer Frau geboren würden.

In den 1970er Jahren schrieb die Feministin Shulamith Firestone, eine künstliche Gebärmutter würde „die Frauen von der Tyrannei ihrer Fortpflanzungsbiologie“ befreien. Und die Philosophin Anna Smajdor vertrat kürzlich die Meinung, es gebe „eine moralische Verpflichtung zur Ektogenese“. 2020 zitierte sie der „Guardian“: „Eine Schwangerschaft ist barbarisch. Wenn es irgendeine Krankheit gäbe, die die gleichen Probleme verursachte, würden wir sie als sehr schlimm einstufen.“

Dass das Thema einen Nerv trifft, wurde einmal mehr im Dezember 2022 klar. Da veröffentlichte der Produzent Hashem Al-Ghaili auf seinem populären Wissenschafts-Youtube-Kanal einen Clip über die Firma EctoLife, „die weltweit erste Einrichtung für künstliche Gebärmütter“. Der neun Minuten lange Videoclip stellt EctoLife als Möglichkeit für unfruchtbare Paare vor, Kinder zu bekommen und „Ländern zu helfen, die unter einem starken Bevölkerungsrückgang leiden“. In 75 hervorragend ausgestatteten Labors stünden je bis zu 400 künstliche Gebärmütter. Darin könne EctoLife „bis zu 30000 im Labor gezeugte Babys pro Jahr ausbrüten“. Obwohl das Video vor allem aus computeranimierten Bildern besteht, glaubten einige von Al-Ghailis 33 Millionen Facebook-Followern, das Unternehmen gebe es wirklich. Die Schlagzeile „Firma entwickelt die erste künstliche Gebärmutter der Welt“ schaffte es sogar auf die Website des „Blicks“. Doch sie existiert nur im Kopf von Al-Ghaili.


Der Begriff „künstliche Gebärmutter“ weckt viele falsche Vorstellungen.

Auch die Forscher in Eindhoven wurden um einen Kommentar zu EctoLife gebeten und stellten einmal mehr klar, dass ihre Arbeit nichts mit der Science-Fiction-Idee zu tun habe, Kinder von der Zeugung bis zur Geburt im Labor wachsen zu lassen. Frans van de Vosse seufzt, als das Video von Hashem Al-Ghaili zur Sprache kommt. Es ist ihm unangenehm, mit der kompletten Ektogenese in Verbindung gebracht zu werden. Das Ziel des EU-Projekts bestehe viel mehr darin, ein ernstes Problem der Frühgeborenenmedizin zu lösen.

Normalerweise kommt ein Kind nach etwa 40 Schwangerschaftswochen zur Welt. Erfolgt eine Geburt vor der 37. Woche, spricht man von einer Frühgeburt. Für die meisten Kinder, die zwischen Woche 28 und Woche 37 geboren werden, bleibt ihre vorzeitige Ankunft folgenlos.

Vor Woche 28 sind die Organe für das Leben außerhalb der Gebärmutter oft noch nicht reif. Vor allem die Lunge kann schwere Schäden davontragen, wenn sie zu früh mit Luft in Kontakt kommt. Selbst ein traditioneller Brutkasten, der das Baby warmhält und vor Keimen schützt, ist in dieser Situation eine feindliche Umgebung. Laut der Weltgesundheitsorganisation kommen 0,4 Prozent der Kinder vor Woche 28 zur Welt. Viele dieser extremen Frühchen sterben oder überleben mit schweren Behinderungen.

Abb. 2: Prototyp der flüssigkeitsgefüllten Kammer („künstliche Gebärmutter“) an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule: Ein Frühchen soll maximal vier Wochen darin verbringen. Eine künstliche Plazenta versorgt es mit Sauerstoff und Nahrung.

Abb. 3: Unterwasser-Brutkasten: In der weissen Wanne mit Fruchtwasser käme das frühgeborene Kind in einer dehnbaren Silikonhülle zu liegen. Das umgebende Wasser hält die Temperatur stabil..

Vor Woche 21 hat noch kein Fötus überlebt

Das „Tiniest Babies“-Register der University of Iowa führt eine Liste mit den kleinsten Säuglingen der Welt, die ihre zu frühe Geburt überlebt haben. Vor Woche 21 gibt es keine Einträge, und auch in der Woche 21 sind es bloß drei, keines schwerer als eine Aubergine. Eine Frühgeburt zwischen Woche 21 und Woche 28 verlangt schwere Entscheidungen. Messbare Größen wie die Dauer der Schwangerschaft oder das Gewicht des Fötus geben zwar Hinweise auf die Überlebenschancen eines Kindes, können aber nie genau voraussagen, ob es dereinst ein normales Leben wird führen können.

Medizinisches Personal und Eltern müssen damit leben, dass sie möglicherweise ein lebensfähiges Baby sterben lassen oder ein Baby mit belastenden Maßnahmen zu retten versuchen, das später dann doch stirbt. Die genauen Regeln, was zwischen Woche 22 und 28 zu tun ist, unterscheiden sich von Land zu Land. Doch überall gibt es dieses Zeitfenster, in dem ein großer Teil der Kinder stirbt oder bleibende Schäden davonträgt. Die bisherigen Maßnahmen wie der Aufenthalt in einem Brutkasten und geeignete Medikamente haben zwar erstaunliche Erfolge gebracht, doch in den vergangenen zehn Jahren gab es kaum noch Fortschritte. Es war Zeit für eine neue Idee, die eigentlich schon ziemlich alt ist. Das erste Patent für einen „künstlichen Uterus […] zur Unterstützung eines zu früh geborenen Fötus“ wurde am 22. Juli 1954 beim Patentamt der Vereinigten Staaten eingereicht. Schon damals war klar, dass es für extrem früh Geborene günstig wäre, noch einige Zeit im Fruchtwasser zu verbringen und über die Nabelschnur mit Sauerstoff und Nahrung versorgt zu werden. Dass das Patent gerade zu jener Zeit beantragt wurde, war kein Zufall.

In den frühen 1950er Jahren führten Chirurgen die ersten Operationen unter Zuhilfenahme von Herz-Lungen-Maschinen durch: Geräte außerhalb des Körpers, die bei schwierigen Eingriffen Herz und Lunge ersetzen, indem sie Blut pumpen und es mit Sauerstoff anreichern. Ein ähnlicher Apparat tauchte im Patent zur Versorgung des Fötus auf. Doch obwohl die Idee bestechend war, blieb der Erfolg aus. Die Umsetzung war technisch zu anspruchsvoll. Zudem gelang es, Frühgeborenen mit weniger exotischen Maßnahmen zu helfen. Erst in den 1980er Jahren wurde wieder intensiver daran geforscht. 1992 gab der japanische Gynäkologe Yoshinori Kuwabara an einem Kongress in Montréal bekannt, er habe einen Ziegenfötus 17 Tage in einer künstlichen Gebärmutter am Leben erhalten.

Abb. 4: So entwickelt sich der Fötus Woche für Woche

Lammföten im Plastiksack

Im Publikum saß damals auch ein junger Gynäkologe aus Holland. „Ich kann mich erinnern, wie es still wurde im Saal“, sagt Guid Oei, der das EU-Projekt in Eindhoven 2019 – 27 Jahre später – anstieß und es heute gemeinsam mit Frans van de Vosse koordiniert. Oei arbeitet seit 1996 am Máxima Medical Center in Eindhoven, das spezialisiert ist auf extreme Frühgeburten. „Diese Arbeit konfrontierte mich mit den Grenzen der gegenwärtigen Methoden“, sagt Oei. 2017 hielt er schließlich die Zeit für gekommen und initiierte das EU-Projekt.

Im gleichen Jahr gingen Bilder von Lammföten in einem Plasticsack um die Welt. Die Lämmer im sogenannten Biobag kamen aus dem Children’s Hospital in Philadelphia. Dem Kinderchirurgen Alan Flake war es dort gelungen, die frühgeborenen Tiere über vier Wochen in einem mit Flüssigkeit gefüllten Biobag zu versorgen. Als er sie danach untersuchte, unterschied sich ihre Entwicklung kaum von Lämmern, die diese Zeit im Uterus ihrer Mutter verbracht hatten.

Seit Alan Flake gezeigt hat, dass die künstliche Gebärmutter für ein Lamm funktionieren kann, sind fast sechs Jahre vergangen. Es gibt Gerüchte, wonach er bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde eine Zulassung für den ersten Versuch an Menschen beantragt oder sie sogar schon erhalten habe. Eine diesbezügliche Anfrage lässt Flake unbeantwortet.

„Wir wollen nicht die ersten sein, aber wir wollen die besten sein“, sagt Frans van de Vosse. Das Ziel des EU-Projekts sei nicht, den ersten Versuch am Menschen durchzuführen, sondern dereinst das beste praxistaugliche System anzubieten – samt realistischem Training für die Mediziner. „Die größte Herausforderung wird die Umsetzung in die klinische Praxis sein“, sagt auch Guid Oei. Das Ziel bleibt, Kindern, die zwischen Woche 24 und Woche 28 geboren werden, Zeit zu verschaffen. Und das beginnt mit dem nassen Kaiserschnitt im Sitzungszimmer 6.113.

Das elaborierte Verfahren hat ein Hauptziel: Beim Baby darf auf keinen Fall der Atemreflex einsetzen, wenn es den Uterus der Mutter verlässt. Alan Flake hat seinen Lämmern zu diesem Zweck Medikamente verabreicht. „Dieses Vorgehen fanden wir für Säuglinge kaum akzeptabel“, sagt van de Vosse.

Die zwei wichtigsten Faktoren, die den Atemreflex auslösen, sind der Kontakt der Lunge mit Luft und die Temperaturveränderung bei der Geburt. Beides wird beim Kaiserschnitt mit dem Plastictunnel, bei dem das Baby sozusagen aus der Gebärmutter in den Transferbeutel schwimmt, unter Kontrolle gehalten. Um diese Technik zu entwickeln, hat Juliette van Haren Silikonföten mit Sensoren entwickelt, die Alarm schlagen, wenn während einer simulierten Geburt Wasser in die Atemwege dringt.

Dieses Vorgehen nennt sich „Research by Design“: entwerfen, testen, verbessern. Immer wieder, bis das Verfahren perfekt ist. Im Sitzungszimmer liegen Föten in verschiedenen Größen und Ausführungen auf dem Tisch. Ein Baby hat den Feuchtigkeitssensor eingebaut, ein anderes verfärbt sich blau, wenn es zu wenig Sauerstoff bekommt, das dritte kann sich bewegen. Die Geburtshelfer sollen bei den Tests eine möglichst realistische Simulation erleben. Nur dann können sie zurückmelden, was verbessert werden muss.

Ein Problem zeigte sich schon bald: Wenn der Prompt-Flex-Geburtssimulator, wie bei einem herkömmlichen Kaiserschnitt üblich, auf dem Rücken lag und der Transferbeutel über den Plastictunnel angeschlossen wurde, kippte das ganze künstliche Fruchtwasser im Transferbeutel in die Gebärmutter. Einer Frau würde so der Bauch mit Wasser gefüllt. Die Lösung des Problems war bestechend einfach: Nachdem die Gebärmutter geöffnet und der Plastictunnel gelegt ist, wird der Operationstisch mit der Mutter geneigt, damit Plastictunnel und Transferbeutel einigermaßen waagrecht zu liegen kommen.

Der Anschluss an die künstliche Plazenta ist ein heikler Moment

Ob das bei einer Frau wirklich funktioniert, muss sich allerdings noch weisen. Eine andere Korrektur wird eben vorgenommen: Bisher hatte der Transferbeutel einen eingearbeiteten Handschuh, in den eine Ärztin greifen konnte, um den Fötus aus der Gebärmutter zu holen. In einer neuen Version werden es zwei Handschuhe sein, damit sie mit beiden Händen arbeiten kann. Der heikelste Moment des Transfers ist, den Säugling an die künstliche Plazenta anzuschließen. An diesem Problem arbeiten Wissenschaftler von der Uniklinik der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Dort wird auch die künstliche Plazenta entwickelt und die flüssigkeitsgefüllte Kammer, in der das Baby die Zeit bis Woche 28 verbringen soll.

Normalerweise wird ein Kind in der Gebärmutter von seiner Mutter mit Sauerstoff und Nahrung versorgt. Zwei Arterien in der Nabelschnur leiten das Blut in die Plazenta, eine Vene bringt es zurück. Die Plazenta tauscht das Kohlendioxid im Blut des Fötus gegen Sauerstoff aus – übernimmt also die Funktion der Lunge – und versorgt es mit Nährstoffen. Diese Aufgabe soll nun die künstliche Plazenta übernehmen.

Der Plan ist, die Nabelschnur nach dem Übergang des Säuglings in den Transferbeutel nicht sofort zu durchtrennen, sondern zügig zu kanülieren. Das heißt, wie bei einer Infusion dünne Schläuche in die drei Adern der Nabelschnur zu legen, die dann zur künstlichen Plazenta führen. Erst dann würde die Nabelschnur abgetrennt und das Baby in die künstliche Gebärmutter befördert.

Für den Säugling sollte sich durch diese Prozedur, bei der später sechs Spezialisten am OP-Tisch stehen, nur wenig ändern. Er würde immer noch in Fruchtwasser schweben und über die Nabelschnur mit Sauerstoff und Nahrung versorgt. Dass der Sauerstoff aus einem Zweikammeroxygenator stammt und das Fruchtwasser Amnion Flush Solution für 309 Euro 99 pro Liter im Internet bestellt wurde, spürt der Säugling im besten Fall gar nicht. Alles sollte sich anfühlen wie im Bauch der Mutter. Für ein paar Wochen zumindest, bis das Baby mit 28 Wochen zum zweiten Mal geboren wird – oder ist es das erste Mal?

Ein nasser Kaiserschnitt hat eine überraschende Konsequenz: Obwohl der Säugling nun getrennt von der Mutter in einem mit künstlichem Fruchtwasser gefüllten Inkubator weiterlebt, wurde er in einem gewissen Sinn gar nicht geboren. Der sagenumwobene erste Atemzug, mit dem schon Gott den Menschen zum Leben erweckte, findet bei diesem Transfer nicht statt. Eine Ethikerin hat bereits einen Namen für diesen neuen Aggregatzustand der Entwicklung vorgeschlagen: Ein Gestateling ist ein Fötus, der sich nicht mehr im Mutterleib befindet, aber immer noch über die Nabelschnur versorgt wird.

Abb. 5: Die künstliche Gebärmutter

Eine Unterwasserwiege soll dem Fötus Zeit verschaffen

Im Inkubator, der die Rolle der Gebärmutter übernimmt, herrschen 37 Grad. Er sieht aus wie ein Aquarium, in dem eine Wanne liegt. Dem Neonatologen Mark Schoberer ist es fast ein wenig unangenehm, den Prototyp zu zeigen. „Es ist uns schon bewusst, dass das Design von außen einen ziemlichen Horror erzeugt und den Ansprüchen der Eltern nicht gerecht wird.“ Doch diesen Apparat werden die Eltern nie zu Gesicht bekommen. In Eindhoven gibt es schon Entwürfe für ein freundliches Design: eine Art Unterwasserwiege aus einer ovalen Kunststoffwanne, die beweglich auf einem geschwungenen Fuß gelagert ist. Alles in heiteren Blautönen.

Die Schale im Prototyp ist mit Fruchtwasser gefüllt. Darin würde der Fötus in einer Silikonhülle schwimmen. Sie ist dehnbar, weil das Kind Widerstand braucht, um seine Muskeln zu trainieren, und weil die Hülle mit ihm wachsen muss: Zwischen Woche 24 und Woche 28 verdoppelt es sein Gewicht fast. Auch die Menge des Sauerstoffs und der Nährstoffe muss in dieser Zeit entsprechend angepasst werden können.

Beim Versuch, den Gesundheitszustand des Fötus zu überwachen, gibt es ein offensichtliches Problem: Er schwimmt im Fruchtwasser und kann weder berührt werden, noch ist er sonst direkt zugänglich. Einzig sein Blut, das durch die externe Plazenta fließt, verlässt über die Nabelschnur die Hülle mit dem Fruchtwasser. Deshalb wird versucht, die Verfassung des Säuglings, aus Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung und anderen Blutwerten zu lesen.

Dabei soll auch der digitale Zwilling Arielle helfen. Arielle ist eine mathematische Nachbildung bestimmter Körperfunktionen des Fötus. Sie erlaubt Computersimulationen des Systems und soll später bei der Überwachung der Körperfunktionen zum Einsatz kommen. Um mehr über den Blutkreislauf von Föten zu erfahren, hat Noëlle Gerards, eine Studentin von Frans van de Vosse, ihn vereinfacht nachgebaut.

Man braucht viel Phantasie, um sich unter dem Aufbau aus einer Pumpe, einem Schlauch, zwei Ventilen und einigen Klemmen einen Säugling vorzustellen. Doch wichtig ist bloß, dass er die Physiologie korrekt simuliert „aus einer Ingenieursperspektive“, wie van de Vosse es nennt. „Die Attrappe erlaubt uns, Experimente zu machen, was mit einem Baby nicht möglich wäre“, sagt Noëlle Gerards, bevor sie das Herz einschaltet. Die Pumpe klingt wie eine kleine Dampfmaschine, doch wer der Maschine den Puls tastet, fühlt einen irritierend lebensnahen Herzschlag am Schlauch – 140 Mal pro Minute.

Bei 37 Grad fühlen sich nicht nur die Föten am wohlsten, sondern auch die Keime im Fruchtwasser. Kinderchirurg Alan Flake hat seine Lämmer deshalb kontinuierlich mit frischem Fruchtwasser umspült. Das kann sich Schoberer im klinischen Alltag schlecht vorstellen. „Es wären Hunderte Liter nötig, die da während einer Behandlung durch den Inkubator gepumpt werden müssten.“ Er hofft, dass sich das Fruchtwasser regenerieren und desinfizieren lässt. Die Gefahr von Infektionen und Blutgerinnseln, die Verbindung mit der künstlichen Plazenta und der Transfer des Säuglings in den Inkubator, die Anpassung an einen wachsenden Organismus und die Überwachung seiner Körperfunktionen: „In diesem Projekt kann man neue Fragestellungen in großer Zahl identifizieren“, sagt Schoderer nüchtern.

Abb. 6: Silikonföten: Mittels Puppen wird die Geburt unter Wasser und der Aufenthalt im Fruchtwasser getestet und verfeinert.

Eine Direktleitung in den künstlichen Uterus

Eine der Ungewissheiten betrifft die Psychologie: Wie wirken sich die Wochen in einer künstlichen Gebärmutter auf die Bindung des Kindes zur Mutter aus oder überhaupt auf die psychische Entwicklung? Denn selbst wenn alles getan wird, um eine natürliche Gebärmutter zu simulieren, das Erleben im Körper der Mutter kann in seiner Vielfalt kaum überzeugend vorgetäuscht werden.

Das Aufstehen am Morgen, die Bewegungen beim Gehen, die Nährstoffe im Blut nach einem Teller Pasta, der Klang der Stimme, das Licht, das durch die Bauchdecke schimmert: Das Leben eines Fötus besteht aus mehr als der richtigen Menge Sauerstoff im Blut und der korrekten chemischen Zusammensetzung des Fruchtwassers. Smartphone und virtuelle Realität bieten Möglichkeiten, wie Mutter oder andere Angehörige mit dem Gestateling in Verbindung bleiben könnten. In Eindhoven haben zwei Studenten bereits ein Womb-Phone entwickelt, das Geräusche in die künstliche Gebärmutter schickt. Damit könnten die Mutter und der Vater zu ihrem Kind sprechen oder ihm vorsingen.

Der Zeitplan des EU-Projekts sieht vor, dass der Prototyp im nächsten Jahr fertiggestellt ist. 2026 wird die Technik überprüft, und die präklinischen Tests beginnen. 2028 müssen die ethischen Richtlinien ausgehandelt sein, und 2030 soll der Inkubator 2.0 – noch ein neuer Name – erstmals im Krankenhaus zum Einsatz kommen. Ob das so tatsächlich klappt, hängt von vielen Unwägbarkeiten ab. „Alles, was man im ersten Moment für einfach hält, entpuppt sich als komplex. Niemals andersherum“, sagt Industriedesigner Frank Delbressine. Andererseits scheint es im Moment keine technisch unüberwindbaren Schwierigkeiten zu geben. Auch wenn es noch etwas länger dauern sollte als bis 2030, der nasse Brutkasten werde kommen. „Wenn nicht hier, dann woanders“, sagt Frans van de Vosse voraus.

Abb. 7a,b: Um mehr über den Blutkreislauf von Frühgeborenen zu erfahren, simuliert man ihn mit einer Pumpe und Schläuchen

Was bedeutet die künstliche Gebärmutter für die Abtreibung?

„Unser Ziel mit der künstlichen Gebärmutter ist es, extrem früh geborenen Babys zu helfen, die kritische Zeit von Woche 24 bis Woche 28 zu überstehen“, sagte Guid Oei im Oktober 2019, als die EU 2,9 Millionen Euro für die folgenden fünf Jahre sprach. Er glaubt, die künstliche Gebärmutter könne die Sterblichkeit durch Frühgeburten in dieser Phase „möglicherweise vollständig verhindern“.

Zurzeit sterben etwa die Hälfte aller Säuglinge, die in Woche 24 geboren werden. Eine künstliche Gebärmutter würde etwas von der Last der Entscheidung von den Schultern der Eltern und des medizinischen Personals nehmen. Das Projekt soll unnötiges Sterben und ein Leben mit schweren Behinderungen vermeiden helfen. Laut Joanne Verweij, die das Projekt ethisch begleitet, begrüßen auch heute erwachsene Frühgeborene, die an Spätfolgen leiden, diese Entwicklung. Die Forscher betonen immer wieder, ihr Ziel sei nicht, die Altersgrenze der Lebensfähigkeit zu senken. Doch so wie die Krebsforschung die Lebenserwartung steigert, wird die Forschung an der künstlichen Gebärmutter für Frühgeborene das Alter der Lebensfähigkeit senken, selbst, wenn das nicht ihr Ziel ist.

Wenn die Tests an „gerade noch lebensfähigen“ menschlichen Frühgeburten erfolgreich seien, werde die Technologie wahrscheinlich auch jenseits der derzeitigen Schwelle der Lebensfähigkeit eingesetzt werden, schreibt die Ethikerin Elizabeth Chloe Romanis: „Klinikpersonal und Eltern haben ein Interesse daran, die Technik zu nutzen, um die Frühgeburten nur knapp unter dem Schwellenwert am Leben zu erhalten.“ So wird die Zeit der schwierigen Entscheidungen und damit wohl auch der Fokus der Forschung weiter vorverlegt werden, wie das früher mit den Brutkästen und Medikamenten für Frühgeborene geschah. Es liegt im Wesen der Medizin, dass sie dort aktiv wird, wo Menschen leiden oder sterben. Nachdem Infektionskrankheiten in westlichen Industrienationen weitgehend besiegt worden sind, wird heute gegen Krebs und Herzkrankheiten gekämpft. Dass sich dieser typische Vorgang im Fall der künstlichen Gebärmutter am Anfang des Lebens abspielt, hat allerdings weitreichende Folgen.

Eine davon betrifft die Abtreibung. Es ist kein Zufall, dass das EU-Projekt die untere Altersgrenze ihrer Zielgruppe bei 24 Wochen ansetzte. Denn in Holland kann ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden, bis „der Fötus außerhalb des Körpers der Mutter lebensfähig ist“. Und damit sei in der Regel die 24. Schwangerschaftswoche gemeint, heißt es auf der Website der Regierung.

Doch was geschieht, wenn eine künstliche Gebärmutter das Alter der Lebensfähigkeit deutlich senkt? Muss dann auch die Frist für den Schwangerschaftsabbruch angepasst werden, weil der Fötus jetzt viel früher außerhalb der Mutter überlebt? Bereits wird in Fachzeitschriften die makabre Diskussion geführt, ob das Recht auf Abtreibung auch das Recht auf den Tod des Fötus einschließe. Es wäre ja möglich, dass der Fötus, der aus dem Körper einer Frau entfernt wird, in einer künstlichen Gebärmutter weiterlebt.

Die Feministinnen sind sich uneinig

Falls das Alter der Lebensfähigkeit weiter sinkt, könnte das in einer fernen Zukunft noch eine andere Folge haben: die komplette Ektogenese, von der die Forscher so ungern sprechen; die Entwicklung außerhalb des Körpers der Mutter von der Zeugung bis zur Geburt. Der Beginn der Entwicklung eines Menschen geschieht heute schon bei jeder In-vitro-Befruchtung im Labor. Wie viele Tage ein menschlicher Embryo danach im Reagenzglas am Leben erhalten werden kann, ist unbekannt. In den meisten Ländern muss er nach 14 Tagen eingepflanzt oder vernichtet werden. Doch dem israelischen Entwicklungsbiologen Jacob Hanna gelang es 2021, einen Mausembryo 11 Tage in einer künstlichen Gebärmutter wachsen zu lassen – das ist etwa die Hälfte der Tragzeit einer Maus.

Wie das EU-Projekt verfolgt auch Jacob Hanna in Israel nicht das Ziel, eine komplette künstliche Gebärmutter für Menschen zu entwickeln. Seine Forschung soll vielmehr zeigen, wie sich aus einem befruchteten Ei ein Körper samt Organen bildet. Eine Anwendung könnte sein, dereinst passende Organe für Menschen zu züchten, die heute auf eine Spende angewiesen sind. Einerseits gibt es immer jüngere Frühgeburten, die überleben, andererseits immer ältere Embryonen, die sich außerhalb des Körpers aus befruchteten Eiern entwickelten. Wenn der älteste Embryo auf die jüngste Frühgeburt trifft, ist die künstliche Gebärmutter erfunden, ohne dass jemand explizit dieses Ziel verfolgt hätte. Der Philosoph Peter Singer prophezeite schon 2006, dass die komplette künstliche Gebärmutter „per Zufall“ geschaffen werden würde.

In naher Zukunft wird das nicht geschehen. Viele Probleme sind noch nicht einmal im Ansatz gelöst. Trotzdem fasziniert die Menschen der Gedanke an eine vollständige Entwicklung außerhalb einer Mutter. Hashem Al-Ghailis Video über die künstliche Gebärmutter seiner erfundenen Firma EctoLife wurde 2,3 Millionen Mal angeschaut und von über 14000 Benutzern kommentiert – meistens negativ. Doch auch der Zeugung im Reagenzglas standen die Menschen anfangs kritisch gegenüber. Die Boulevardpresse nannte das erste Retortenbaby 1978 in Anlehnung an Frankenstein „Frankenbaby“, die katholische Kirche hielt seine Zeugung für das „Werk des Teufels“. Heute ist jedes vierzigste Kind, das in der Schweiz zur Welt kommt, im Labor gezeugt worden.

Auch gegen das EU-Projekt regte sich Widerstand. Eine Unterschriftensammlung auf der Website openPetition verlief zwar im Sand, aber die Bedenken, die dabei aus feministischer Sicht geäußert wurden, sind typisch. Es sei ein Menschenrecht, „von einer Mutter ausgetragen und geboren zu werden“, und wir sollten uns gegen „die Technisierung der Geburt entscheiden“. Allerdings herrscht keine Einigkeit unter Feministinnen. Die englische Schriftstellerin Helen Sedgwick, die den feministischen Science-Fiction-Roman „The Growing Season“ über eine portable künstliche Gebärmutter geschrieben hat, sagte kürzlich auf BBC, sie würde die Erfindung begrüßen: „Tragen Sie mich in die Warteliste ein.“

Die Erfahrung zeigt: Ob sich ein Verfahren durchsetzt, hängt oft nicht von unserem ersten Bauchgefühl ab, sondern davon, ob es eine Nachfrage befriedigt. Und woher diese Nachfrage bei der kompletten künstlichen Gebärmutter käme, ist leicht auszumachen: von jenen Menschen, die heute eine Leihmutter engagieren, weil sie ihr Kind nicht selber austragen können oder wollen. Auch daran haben wir uns gewöhnt. Wenn uns die Geschichte der Fortpflanzungsmedizin etwas lehrt, dann dies: Ihr Fortschritt wird nicht von verrückten Diktatoren oder größenwahnsinnigen Wissenschaftlern angetrieben, sondern von Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein eigenes Kind.

Reto U. Schneider

Journalist

Stellvertretender Redaktionsleiter

NZZ Folio

Neue Züricher Zeitung

Ani Kehayova

Fotografin, Rotterdam

Anja Lemcke

Visuelle Journalistin

Ressort Visuals der NZZ

Schneider RU: Operation Fruchtwasser. Passion Chirurgie. 2024 Mai; 14(05): Artikel 09.

Weitere Panorama-Artikel finden Sie auf BDC|Onlin

Passion Chirurgie im April 2024

Zur Ausgabe 04/2024: Ambulantes Operieren im Zeitalter der Krankenhausreform

Die Entwicklung im Bereich des ambulanten Operierens scheint in Zeiten der Krankenhausreform eine „Never Ending Story“ zu werden, der wir uns in diesem Heft mit einigen vertiefenden Artikeln widmen. Lesen Sie selbst…

Auch auf dem DCK 2024 in Leipzig wird sie eines der viel diskutierten Themen sein. Lassen Sie uns gern am BDC-Stand in der Lounge der Fachgesellschaften ins Gespräch kommen, oder nehmen Sie an einer der BDC-Vortragssitzungen teil. Am Freitag, 26. April, 13.00 Uhr bis 14.00 Uhr findet die BDC-Mitgliederversammlung in Saal 2 statt. Sie sind herzlich dazu eingeladen!

Das exklusive Robotik Curriculum der BDC|Akademie wurde um ein Robotik-Webinar bereichert. Es findet am 22. Mai 2024 18.00 Uhr zum Thema „Ökonomie in der Robotik“ statt. Zur Anmeldung geht es hier entlang

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen
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Akademie aktuell: Die Hernienschule – Rück- und Ausblick 2024

Inzwischen ist die Hernienschule erwachsen geworden. Vor 14 Jahren wurde die Idee geboren, einen standardisierten hernienspezifischen Weiterbildungskurs zu entwickeln. Der erste Hernie-kompakt Kurs fand direkt vor den Hernientagen im Januar 2011 in Berlin statt. Insgesamt 50 Teilnehmende konnten in drei Tagen einen Überblick über die Vielfalt der Hernienchirurgie bekommen. Besonders wichtig waren den drei Begründern Dr. Bernd Stechemesser aus Köln, Dr. Wolfgang Reinpold aus Hamburg und Dr. Ralph Lorenz aus Berlin die vor allem praktische Ausrichtung des dreitägigen Weiterbildungskurses. In diesem Jahr findet der inzwischen 20. Hernie kompakt Kurs im März in Wien statt.

Die Deutsche Herniengesellschaft führte im Jahre 2014 in Kooperation mit dem Berufsverband der Deutschen Chirurgie eine breit angelegte Online-Umfrage unter den Chirurg:innen zur Zukunft der hernienchirurgischen Weiterbildung durch. Insgesamt 1.296 Chirurg:innen in Deutschland haben damals an der Befragung teilgenommen. Die überwiegende Mehrheit (mehr als 80 %) der Befragten sprach sich damals für die Etablierung eines stufenweisen und standardisierten Weiterbildungskonzepts aus.

Aufgrund dieser Analyse des Weiterbildungsbedarfs entwickelte die Deutsche Herniengesellschaft (DHG) in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Deutschen Chirurgie (BDC) die Hernienschule. Diese beinhaltet inzwischen vier stufenartig aufgebaute Module: Hernie Kompakt, Hernie konkret, Hernie komplex und Hernie kontakt.

Hernie kompakt

Der dreitägige Basiskurs Hernie kompakt beinhaltet dabei die folgenden Bausteine:

Tag

Inhalte

Ort

1

Anatomie Grundlagen

Simulationsübungen

Dynamische Sonografie der Hernien

Kadaver-Operationen in Kleingruppen

Anatomisches Institut/ Universität

2

Hands-on-Kurs im OP in Kleingruppen

ca. 10 regionale Hospitationszentren

3

Theorie: State-of-the-Art-Lectures durch international renommierte Hernienexperten

Kongresszentrum

Hernie kompakt richtet sich vor allem an chirurgische Weiterbildungsassistent:innen. Der Kurs ist jedoch auch für erfahrene Chirurg:innen geeignet, die ein grundlegendes Update auf dem Gebiet der Hernienchirurgie erhalten möchten. Die deutschsprachigen Basiskurse fanden bisher jährlich wechselnd in Berlin, Hamburg, Köln/Bonn und München sowie seit 2014 in Salzburg und neuerdings auch in Wien in Österreich statt. 2017 fand der erste englischsprachige Hernia Compact Kurs im Rahmen des Europäischen Hernienkongress in Wien statt, der zweite 2019 in Hamburg. Das Hernie kompakt Konzept ist inzwischen auch ein wichtiger Baustein der European Hernia School der Europäischen Herniengesellschaft (EHS). Mehrere Europäische Länder haben mittlerweile ähnliche Hernien-Basiskurse entwickelt. Somit ist Hernie kompakt inzwischen ein hernienchirurgischer Weiterbildungskurs mit internationalem Modellcharakter.

In diesem Jahr kehrt dieser Kurs erneut an den Ausgangspunkt nach Berlin zurück und wird vom 18. bis 20.September 2024 zum nunmehr 21. Mal stattfinden.

Hernie konkret

Das zweite Modul Hernie konkret gibt es seit 2016, es richtet sich vor allem an Fachärzte für Chirurgie und soll in speziellen Operationstechniken weitergehende vor allem praktische Kenntnisse und Standards vermitteln. Das Modul Hernie konkret beinhaltet 1,5-tägige Hospitationen in renommierten Hernienzentren in den drei Themengebieten:

offene Leistenhernienchirurgie (SHOULDICE, DESARDA, LICHTENSTEIN , TIPP)

endoskopische Leistenhernienchirurgie (TAPP, TEP, eTEP)

offene und endoskopische Ventralhernienchirurgie (PMP, Sublay, IPOM, MILOS, eMILOS, TAR)

Hiatushernien

Hernie komplex

Hernie komplex findet seit Juni 2018 jährlich einmal statt und richtet sich an erfahrene Hernienchirurg:innen, die sich einen Überblick über komplexe hernienchirurgische Fragestellungen verschaffen wollen. Themen des eintägigen Kurses sind dabei:

Rezidivhernien und Mehrfachrezidive

Chronische Schmerzen

Komplexe und Loss-of-Domain-Hernien inkl. Komponentenseparation

Parastomale Hernien

Infekt- und Komplikationsmanagement

In diesem Jahr wird dieses Kursmodul Hernie komplex erstmals im Mai 2024 als zweitägiger Online-Kurs stattfinden.

Hernie komplex versteht sich gleichzeitig auch als Vorbereitung für das UEMS-Examen als Fellow of the European Board of Surgery für Abdominal Wall Surgery (FEBS-AWS). Diese Europäische Spezialisierung gibt es inzwischen seit 2020. Die Prüfungen finden in englischer Sprache im Rahmen des Europäischen Hernienkongresses statt. Alle Informationen finden Sie auf der Homepage der UEMS Abdominal Wall Surgery – UEMS Section of Surgery (uemssurg.org).

Im November 2024 wird dieses Examen im Rahmen der seit 2023 fusionierten DHG-Hernientage in Leipzig erstmalig auch in deutscher Sprache angeboten.

Hernie kontakt

Hernie kontakt entstand 2020 infolge der Corona Pandemie als zusätzliches Online-Angebot der Hernienschule. Dabei werden vor allem aktuelle und kontroverse Themen aus dem Bereich der Hernienchirurgie interaktiv diskutiert. Diese Hernie kontakt Veranstaltungen finden regelmäßig zweimal im Jahr im Frühjahr und Herbst statt, dabei sind alle Interessierten sehr herzlich eingeladen.

Komplettiert wird die Hernienschule auch durch das 2018 im De Gruyter Verlag erschienene Buch.

Abb. 1: „Hernienschule“, De Gruyter Verlag (Bestellung beim Verlag…)

Evaluation der bisherigen Kurse

Die kontinuierliche Evaluation der Kursmodule ist ein wesentlicher Aspekt auch für die Weiterentwicklung dieser Kursmodule. Die Evaluation der bisherigen Kurse zeigte, dass sowohl theoretische Kenntnisse aber auch praktische Fähigkeiten der Kursteilnehmer durch diese Weiterbildungskurse deutlich verbessert werden konnten.

Soeben haben wir auch eine Langzeitevaluation aller Kursteilnehmer des Kurses Hernie kompakt seit 2011 vorgenommen und konnten auch hier eine überaus positive Bilanz ziehen. Die Mehrheit der ehemaligen Teilnehmenden haben inzwischen ein besonderes fachliches Interesse an der Hernienchirurgie entwickelt und die Hernienchirugie ist ein wesentlicher Teil ihrer täglichen Praxis.

Die hernienchirurgische Weiterbildung könnte zukünftig um weitere Aspekte erweitert werden: Bislang sind beispielsweise Methoden wissenschaftlichen Arbeitens noch nicht Teil dieses Weiterbildungsangebots. Mit dem Ziel die Hernienchirurgie in Deutschland auch gezielt universitär anzubinden sollten auch diese Inhalte vermittelt werden („Good clinical practice“; Wie designe ich eine randomisierte Studie?).

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage bei den Autoren.

Dr. med. Lorenz, Ralph, FEBS-AWS

Hernienzentrum 3+CHIRURGEN

Klosterstrasse 34/35

13581 Berlin

Havelklinik Spandau

Medizinische Universität Brandenburg

[email protected]

PD Dr. med. Christoph Paasch

Klinik für Allgemein- und Abdominalchirurgie

Medizinische Universität Brandenburg

Hochstrasse 29

14770 Brandenburg an der Havel

[email protected]

Chirurgie+

Lorenz R, Paasch C: Die Hernienschule – Rück- und Ausblick 2024. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 04_01.

Weitere Artikel zum Thema Hernien finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Viszeralchirurgie.

Der Fachkräftemangel in der Gefäßchirurgie – eine gemeinsame Aufgabe

Zweitdruck (mit Erlaubnis des Verlags) von Barth U, Meyer F, Halloul Z.
Der Fachkräftemangel in der Gefäßchirurgie – eine gemeinsame Aufgabe. Die Chirurgie 2023;94(9):780-788. (DOI 10.1007/s00104-023-01900-2)

Auch in der Gefäßchirurgie wird ein zunehmender Mangel an Fachärzten und Ausbildungsassistenten trotz einer kontinuierlich steigenden Anzahl an Ärzt:innen und Medizinstudierenden in Deutschland beklagt. Durch die bestehenden Lücken ist die Arbeitsbelastung der in der Klinik tätigen Kolleg:innen bei ungebrochenem Anstieg der Patient:innen mit Gefäßerkrankungen als angespannt zu bezeichnen. Die Corona-Pandemie scheint die Lage noch weiter verschärft zu haben, da die Gefäßpatient:innenklientel auf den Stationen zurzeit aus überwiegend Patient:innen mit einer kritischen Extremitätenischämie besteht, die ein hohes Maß an ärztlicher Diagnostik, Therapie und Zuwendung bedürfen. Im Folgenden soll nun eine Bestandsaufnahme der und über die ärztlichen Kolleg:innen in der Gefäßchirurgie in Deutschland sowie am Beispiel strukturell unterschiedlicher Bundesländer deren Wertung und mögliche Konsequenzen auch im Hinblick auf die zu erwartenden gesundheitspolitischen Veränderungen erörtert und diskutiert werden.

Methode

Berufspolitische Analyse aus ärztlich-gefäßchirurgischer Sicht unter Einbeziehung aktueller verfügbarer Statistiken, vor allem des statistischen Bundesamtes, der Bundesärztekammer sowie Landesärztekammer Sachsen-Anhalt (SA) sowie selektiven Referenzen der aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Literatur mit epidemiologischem Themenbezug.

Ergebnisse

Prognose der ärztlichen Entwicklung in Deutschland

Ein Forschungsgutachten im Auftrag der „Deutschen Krankenhausgesellschaft“ (DKG) aus dem Jahr 2010 prognostizierte einen Ersatzbedarf an Ärzt:innen bis 2019 von gut 108.000 und einen Mehrbedarf von knapp 31.000 Ärzt:innen. Der Zugang an neuen Ärzt:innen bestünde im Wesentlichen aus Studierenden bzw. Absolvent:innen des Humanmedizinstudiums. Mittelbar müsse der Ersatz- und Mehrbedarf an Ärzt:innen komplett über den Krankenhausbereich gedeckt werden, da die Neuzugänge hier im Wesentlichen ihre Weiterbildung absolvierten. Der Ärzt:innenmangel wäre am frühesten und drastischsten im Krankenhaus spürbar und würde zu einem verschärften Wettbewerb zwischen ambulanter und stationärer Versorgung um Fachkräfte führen [1].

In einem zweiten Gutachten über den Fachkräftemangel im stationären und ambulanten Bereich bis zum Jahr 2030 hat „PricewaterhouseCoopers“ (PwC; Dienstleister in der Beratung und Prüfung von Unternehmen der Gesundheitswirtschaft) in Zusammenarbeit mit dem Darmstädter Forschungsinstitut WifOR im stationären Bereich bei Orthopäd:innen und Chirurg:innen ein Defizit im Jahr 2030 von 7.200 Vollzeitkräften prognostiziert. Außerdem wurde errechnet, dass Chirurg:innen und Orthopäd:innen sowohl absolut als auch relativ mit einem hohen Ersatzbedarf konfrontiert werden. Während bis 2020 noch 14,6 bis 27,2 % der im Jahr 2008 Beschäftigten in Rente gehen, werden bis zum Jahr 2030 zwischen 45,6 und 68,5 % altersbedingt ausscheiden [2].

Gefäßchirurgische Versorgungssituation in Deutschland

Im Jahr 2022 stellten laut der Grunddaten des „Statistischen Bundesamtes“ 200 gefäßchirurgische Fachabteilungen insgesamt 5.706 Betten zur Versorgung bereit, was 6,9 Betten pro 100.000 Einwohner bei einem Nutzungsgrad von 63,5 % entspricht. Die Fallzahl betrug n = 1 74.151 [3]. Im Jahr 2021 gab es bei den Ärztekammern 1.574 registrierte Ärzt:innen mit der Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie, im Jahr 2018 gab es 1.170, was einen Zuwachs von 404 Ärztinnen und Ärzten entspricht. Die Anerkennung der Facharztbezeichnung für Gefäßchirurgie sank von 166 im Jahr 2018 auf 143 im Jahr 2021 [4]. Im Jahr 2018 war die Altersgruppe von 40–50 Jahren mit einem prozentualen Anteil von 48,02 % (n = 486) bei einer Gesamtzahl von 1.303 Gefäßchirurg:innen im stationären Bereich am häufigsten vertreten. Im Jahr 2021 betrug der Anteil dieser Altersgruppe nur noch 42,59 % (n = 555) bei einer Gesamtzahl von 1.303, während der Anteil der Gefäßchirurg:innen im Alter von 50–60 Jahren von 18,5 % im Jahr 2018 auf 23,1 % im Jahr 2021 stieg [3] (Abb. 1). Im Jahr 2018 kamen in Deutschland 1,41 Gefäßchirurg:innen auf 100.000 Einwohner:innen, dies steigerte sich bis zum Jahr 2021 auf 1,89 pro 100.000 Einwohner:innen. Im ambulanten Tätigkeitsbereich gab es 2018 0,12 Fachärzt:innen pro 100.000 Einwohner:innen, im Jahr 2021 0,24 pro 100.000 Einwohner:innen [3].

Abb. 1: Bei den Ärztekammern in Deutschland registrierte Ärztinnen und Ärzte mit Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie 2018 vs. 2021 (absolut, stationär)

Zur Verbesserung der Qualität der Versorgung gefäßchirurgischer Patient:innen wurde in den letzten Jahren die Bildung interdisziplinärer Gefäßzentren durch die „Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin“ (DGG) in Kooperation mit der Privaten Akademie der DGG vorangetrieben. Im Februar 2023 waren hier 132 Gefäßzentren aufgelistet [5]. In Deutschland studieren aktuell rund 98.000 Personen das Fach Humanmedizin mit einem Frauenanteil von 62 %. Die Anzahl der Studienanfänger:innen hat in den vergangenen zehn Jahren leicht zugenommen. Im Jahr 2019 studierten rund 500 Personen mehr im 1. Fachsemester als im Jahr 2010. Die Anzahl der Bewerber:innen für einen Medizinstudienplatz übertrifft die Anzahl der Studienplätze um ein Vielfaches [6].

Gefäßchirurgische Versorgungssituation anhand eines strukturschwachen Bundeslandes – Sachsen-Anhalt (SA)

In SA gibt es 23 gefäßchirurgische Versorgungseinheiten, wovon 12 als integrativer Bestandteil einer Allgemein- und Viszeralchirurgie und 11 als eigenständige Klinik ausgewiesen sind. Einen universitären Lehrstuhl für Gefäßchirurgie gibt es an den zwei Universitätskliniken in SA nicht. Bei der Ärztekammer SA gab es 2021 52 registrierte Ärzt:innen mit der Fachgebietsbezeichnung Gefäßchirurgie im stationären Bereich, davon waren 2 Kolleg:innen im Alter von 60–66 Jahren, 21 Ärzt:innen im Alter von 50–60 Jahren, 15 Gefäßchirurg:innen im Alter von 40–50 Jahren, 12 im Alter von 35–40 Jahren und 2 im Alter von unter 35 Jahren [3]. In der Altersgruppe 60–66 Jahren kam es damit gegenüber 2018 zu einem Zuwachs von 2 Ärzt:innen, in der Altersgruppe 50–60 von 10 Kolleg:innen und in der Altersgruppe zwischen 35–40 von 5 Gefäßchirurg:innen. Die Altersgruppe 40–50 musste einen Rückgang um 7 Ärzt:innen verzeichnen (Abb. 2). Die Gefäßchirurg:innen-Quote stieg von 1,99 pro 100.000 Einwohnern auf 2,54 pro 100.000 Einwohner:innen im stationären Bereich. Im ambulanten Tätigkeitsbereich waren 2018 0,05 Fachärzt:innen pro 100.000 Einwohner:innen und 2021 0,14 pro 100.000 Einwohner:innen registriert [3]. Nach Rücksprache mit der Ärztekammer SA im Dezember 2022 haben in den letzten fünf Jahren 28 Ärzt:innen die Facharztprüfung für Gefäßchirurgie bestanden. Die Anzahl der Weiterbildungsassistent:innen konnte nur auf Basis freiwilliger Angaben der Kammermitglieder mit 18 Assistent:innen ermittelt werden.

Abb. 2: Bei der Ärztekammer Sachsen-Anhalt registrierte Ärztinnen und Ärzte mit Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie 2018 vs. 2021 (absolut, stationär)

Gefäßchirurgische Versorgungssituation anhand eines strukturstarken Bundeslandes – Nordrhein-Westfalen (NRW)

Im Vergleich zu SA sollen hier die Bedingungen der gefäßchirurgischen Situation in einem strukturstarken Bundesland (NRW) genannt werden. Hier standen im Jahr 2020 1.976 Betten in der Gefäßchirurgie zur Verfügung, was einer Quote von 11,0 Betten pro 100.000 Einwohner:innen entsprach. Bei der Ärztekammer Nordrhein waren 2021 362 registrierte Ärzt:innen mit Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie insgesamt und 292 im stationären Bereich tätig. Davon waren 23 Gefäßchirurg:innen unter 35 Jahren, 98 zwischen 35 und 40 Jahren, 118 zwischen 40 und 50 Jahren, 46 zwischen 50 und 60 Jahren und 7 zwischen 60 und 66 Jahren im stationären Bereich. In der Altersgruppe 35–40 Jahre kam es damit gegenüber 2018 zu einem Zuwachs von 42 Ärzt:innen, in der Altersgruppe 40–50 von 16 Kolleg:innen, in der Altersgruppe 50–60 um 15 und in der Altersgruppe 60–66 von 5 Gefäßchirurg:innen. Im Jahrr 2021 waren keine Ärzt:innen der Altersgruppe über 66 Jahren mehr registriert [3] (Abb. 3).

Abb. 3: Bei der Ärztekammer Nordrhein registrierte Ärztinnen und Ärzte mit Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie 2018 vs. 2021 (absolut, stationär)

Entwicklung gefäßchirurgischer Erkrankungen in Deutschland am Beispiel der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK)

Die altersstandardisierte Krankenhausinzidenz der pAVK stieg in den Jahren 2005 bis 2016 in Deutschland von ca. 190 auf über 250 pro 100.000 Einwohner:innen und pendelte sich auf diesem Niveau ein. Dies entsprach einer relativen Zunahme um 33 %. Im gleichen Beobachtungszeitraum verdoppelte sich die Anzahl an durchgeführten Prozeduren, vor allem durch stark zunehmende endovaskuläre Eingriffszahlen (ca. 140 % Zuwachs) und Eingriffe bei arterieller Embolie/Thrombose (ca. + 80 %) [7]. Die Statistik der fallbezogenen DRG-Daten zeigt, dass insbesondere mit Auftreten der Corona-Pandemie die stationären Fallzahlen von Patient:innen mit einem pAVK-Stadium IIB bundesweit und in SA sanken. Die schweren pAVK-Stadien blieben in den Fallzahlen annähernd gleich, tendenziell in SA jedoch zunehmend (Abb. 4, 5). Die altersstandardisierte Krankenhausinzidenz der Atherosklerose der Extremitätenarterien (I70.2) betrug im Jahr 2021 188,3 pro 100.000 Einwohner:innen in Nordrhein-Westfalen und 220,5 pro 100.000 Einwohner:innen in SA [3]. Dies bestätigt eine empfindliche Versorgungslücke für pAVK-Patient:innen in SA. Neben dem demografischen Wandel und der Pandemieproblematik scheint die ambulante Begleitung der pAVK-Patient:innen verbesserungswürdig zu sein. Rammos et al. zeigten in einer Studie, dass die Versorgung von pAVK-Patient:innen in Deutschland erschreckend mangelhaft ist. Nur 11 % der Patient:innen wurden im Jahr 2018 von einer/m Gefäßchirurg:in und nur 8 % von einer/m Angiolog:in behandelt. Nur die Hälfte der Patient:innen erhielt die leitliniengerechte Thrombozytenaggregations- und Statinmedikation [8]. Nach wie vor rangiert SA bei der Majoramputationsrate in Deutschland weit vorn. Bei einer Untersuchung der jährlichen bundesweiten Fallzahlen für die Jahre 2011 bis 2015 konnte gezeigt werden, dass überwiegend im Osten und Südosten höhere Amputationsraten bestehen. Insbesondere Kreise in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, SA, Thüringen und Bayern zeigten eine höhere „Standardized Mortality Ratio“ (SMR) in mehreren Amputationshöhen. Diese auffälligen regionalen Unterschiede wurden durch die hohe altersadjustierte Prävalenz des Diabetes mellitus begründet [9]. Diese Situation scheint sich seit 2015 in den genannten Bundesländern nur marginal verbessert zu haben [3] (Abb. 6). Dies bestärkt die Notwendigkeit einer Verbesserung der gefäßchirurgischen Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen. Bereits 2018 publizierten Udelnow et al. grundlegende Erkenntnisse der gefäßmedizinischen Versorgung in SA. Sie arbeiteten heraus, dass bereits vor 20 Jahren bevölkerungsbezogene Schätzungen zur für die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung notwendigen Zahl niedergelassener Spezialist:innen publiziert worden waren. Hier wurde bereits eine Zahl von einem/r Angiolog:in auf 100.000 Einwohner:innen gefordert. Die tatsächliche Zahl von niedergelassenen Angiolog:innen und Gefäßchirurg:innen in SA zusammen betrug zu diesem Zeitpunkt nur 0,87 auf 100.000 Einwohner:innen für beide Fachgebiete. Aufgrund der demografischen Entwicklung ging man auch von einem weiter steigenden Bedarf aus [10].

Abb. 4: Fallpauschalen­bezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik) zur pAVK in Deutschland nach Abfrage bei der AOK Sachsen-Anhalt

Abb. 5: Fallpauschalen­bezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik) zur pAVK in Sachsen-Anhalt nach Abfrage bei der AOK Sachsen-Anhalt

Abb. 6: Operationen und Prozeduren der vollstationären Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern – Prozedur 5-864 (Amputation und Exartikulation untere Extremität)

Handlungsempfehlungen

Der Konvent leitender Gefäßchirurg:innen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz im Jahr 2007 und 2008 erkannte bereits die Herausforderungen der kommenden Jahre und warb um mehr Eigenständigkeit der Gefäßchirurgie i. S. einer unbedingten Klinikerhaltung bei Neuberufung einer/s universitären Klinikdirektor:in als auch Neuetablierung von gefäßchirurgischen Universitätskliniken, mehr Präsentation und Repräsentanz der Vertreter der Gefäßchirurgie, Aufbau von Forschungskooperationen und -netzwerken, systematische Ausbildung von gefäßchirurgischen Fachkräften, höhere Transparenz wissenschaftlicher Aktivitäten und eine fachgesellschaftsübergreifende Zusammenarbeit [11].

In den vorgestellten Gutachten im Auftrag der DKG und dem Gutachten von „PricewaterhouseCoopers“ in Zusammenarbeit mit dem Darmstädter Forschungsinstitut WifOR sind eine Reihe von Handlungsempfehlungen aufgezeigt, die im Folgenden erläutert werden.

1.Übereinstimmend empfehlen die beiden Gutachten eine Entlastung von Verwaltungsaufgaben und Dokumentationspflichten. Zu Recht wird der Dokumentationsaufwand im Krankenhaus als Ergebnis externer Dokumentationsanforderungen vor allem der Politik, der Selbstverwaltung sowie der Kostenträger und des „Medizinischen Dienstes der Krankenkassen“ (MDK) gewertet [1]. Durch Einstellung von Verwaltungskräften und den intelligenten Einsatz moderner IT-Systeme kann die Fokussierung von ärztlichen Fachkräften auf ihre angestammten Tätigkeiten erfolgen und die Attraktivität des Berufs deutlich erhöhen [2].

2.Professionelle Personalplanung und Personalentwicklung fördern die Anreize für eine befriedigende Tätigkeit und das Verbleiben im Unternehmen. Neben flexiblen Arbeitszeitmodellen kann ein auf Mitarbeiter bezogenes Konzept zur Gesundheitsförderung und Gesundheitsvorsorge bei der jungen Generation punkten [12]. Instrumente wie strukturierte oder standardisierte Einarbeitungs-, Fort- und Weiterbildungskonzepte, Karriereplanungen, Beurteilungssysteme für Vorgesetzte und Mitarbeiter oder schriftliche Grundsätze der Mitarbeiterführung existieren bereits und können damit unproblematisch und aufwandsarm herangezogen sowie angewendet werden [1].

3.Als weiteres Mittel wird die Senkung der „Drop-out“-Raten im Medizinstudium und die Erhöhung der Studienkapazitäten in der Humanmedizin erwähnt [1]. Die Anzahl der Studienanfänger hat zwar in den letzten zehn Jahren zugenommen, aber ein Zuwachs von 500 Studienanfängern im Jahr 2019 gegenüber dem Jahr 2010 [6] kann den kommenden Ersatz- und Mehrbedarf kaum decken.

4.Bei einem Frauenanteil von 62 % der Personen im Medizinstudium [6] sind familienorientierte Maßnahmen ein wichtiger Bestandteil zukünftiger Aufgaben im Gesundheitssystem. Besonders die Schaffung einer bedarfsgerechten und idealerweise betrieblichen Kinderbetreuung wird die Wahl des beruflichen Standorts der Ärzt:innen bzw. jungen Ärzt:innen-Familien maßgeblich mit beeinflussen.

5.Die parallel entstandene Doppelversorgung durch strikte Trennung von ambulanter und stationärer Behandlung wird durch den entstehenden Ärzt:innenmangel ebenfalls in Frage gestellt. Eine weitgehende und regelhafte Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung durch die Möglichkeit zur ambulanten fachärztlichen Behandlung durch Krankenhausärzt:innen über persönliche und Institutsermächtigungen hinaus kann Versorgungslücken in der vertragsärztlichen Versorgung schließen [1, 2].

6.Bereits lange in der Diskussion ist die Neuordnung ärztlicher Aufgaben durch Delegation. Im Bereich von Dokumentation, Administration und Organisation können die Ärzt:innen entlastet werden [1]. Die Rahmenbedingungen für die Ausbildung und Etablierung von „Physician Assistants“ wurde durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) bereits 2017 definiert [13]. In der Gefäßchirurgie wurde ein strukturiertes Aus- und Weiterbildungsprogramm entwickelt und die neue Fachqualifikation „Gefäßassistent/In DGG®“ definiert und etabliert.

7.Ohne eine gezielt geförderte Zuwanderung kann der Mangel an Ärzt:innen nicht behoben werden, da der Wettbewerb um Ärzt:innen auch zunehmend international ausgetragen wird [2].

Aktuelle Initiativen

Die DGG hat durch zwei Kampagnen die Initiative ergriffen. Die Kampagnen „Gefäßchirurgie macht Schule“ und „Tür auf“ sollen einerseits bereits Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe und Studierende für die Gefäßchirurgie interessieren. Umfangreiches Informationsmaterial und Unterlagen sind hier über die Internetseite der DGG abrufbar. Der „Berufsverband der Deutschen Chirurgie“ (BDC) möchte mit seinem Projekt „Nur Mut! Kein Durchschnittsjob: ChirurgIn“ für das Fach Chirurgie begeistern sowie ganzheitlich informieren und unterstützen, eine bereits über Jahre aktive Initiative. Die Politik konzentriert sich im Wesentlichen auf lokaler Ebene auf die Nachwuchsförderung im Hausärztebereich, meist durch gemeinsame Unterstützungsprojekte mit der KBV und den Krankenkassen. Die Ärztekammer SA möchte mit der Initiative „Arzt in Sachsen-Anhalt“ zentrale Informationen und Fördermöglichkeiten rund um eine ambulante und stationäre Ärzt:innen-Tätigkeit in SA bündeln.

Diskussion

Die personelle Situation hat sich, statistisch gesehen, sowohl in der Anzahl registrierter Gefäßchirurg:innen im stationären Bereich als auch in der Quote pro 100.000 Einwohner:innen im stationären und ambulanten Bereich bei zumindest statistisch nachweisbarem konstantem Patient:innenaufkommen in Deutschland bezüglich der pAVK verbessert. Auffällig ist eine Altersverschiebung der Gefäßchirurg:innen überwiegend zu der Altersgruppe zwischen 50 und 60 Lebensjahren und den über 60-jährigen Kolleg:innen in Deutschland und insbesondere in SA. In Nordrhein-Westfalen ist der Anstieg in der Altersgruppe zwischen 35 und 40 Jahren am stärksten. Neben der deutlich geringeren Anzahl an Gefäßchirurg:innen in SA ist hier von einem höheren Altersdurchschnitt im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen auszugehen. Während hier nur 15,75 % der stationär tätigen Gefäßchirurg:innen im Alter zwischen 50 und 60 Jahren ist, sind es in SA 40,38 %. Allein anhand dieses Unterschieds lässt sich erkennen, dass der Nachwuchsmangel in SA früher zum Tragen kommt. Die Anzahl der Ausbildungsassistent:innen in der Gefäßchirurgie in Deutschland und in den Bundesländern wird nicht erfasst und ist auf Basis der freiwilligen Angaben bei den Landesärztekammern nur schätzbar. Insofern kämen in SA bei 23 gefäßchirurgischen Versorgungseinheiten und 18 geschätzten Ausbildungsassistent:innen 0,78 Assistent:innen auf eine gefäßchirurgische Einheit. Eine genaue statistische Nachweisführung eines Nachwuchsmangels in der Gefäßchirurgie ist aus den aktuell zugänglichen Daten nicht möglich.

Die genaue Erfassung der Anzahl und des Ausbildungsstands von gefäßchirurgischen Ausbildungsassistent:innen ist eine dringliche Aufgabe, um eine verlässliche Bedarfsplanung zu generieren und gezielt Initiativen zur Rekrutierung zu führen. Auch wenn der aktuelle Stand des gefäßchirurgischen Nachwuchses statistisch nicht abgebildet werden kann, werden doch einige geplante gesundheitspolitische Entwicklungen der nächsten Jahre die Attraktivität der gefäßchirurgischen Weiterbildung beeinträchtigen. Die Empfehlungen des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung nach § 115b Abs. 1a SGB V umfasst die zusätzliche Aufnahme von 24 OPS-Codes im AOP-Katalog zur (perkutan-)transluminalen Implantation von nicht medikamentenfreisetzenden, medikamentenfreisetzenden, bioresorbierbaren und gecoverten Stents verschiedener Körperregionen, beschränkt auf einen Stent im gefäßchirurgischen Bereich [14]. Jedoch können nur ambulant tätige interventionelle Radiolog:innen eine ambulante Intervention durchführen, was bedeutet, dass die Ausbildung der gefäßchirurgischen Weiterbildungsassistent:innen in endovaskulären Techniken für Einrichtungen mit einer endovaskulär gefäßchirurgischen Dominanz zunehmend schwieriger bis kaum überwindbar wird. Aktuell erfolgt die systematische Prüfung der gefäßchirurgischen Kliniken und Abteilungen durch den MDK zur Qualitätssicherungs-Richtlinie zum Bauchaortenaneurysma (QBAA-RL). Es ist zu erwarten, dass einige gefäßchirurgische Einheiten im Zuge des durch die Corona-Pandemie verschärften Fachkräftemangels gerade in der intensivmedizinischen Fachpflege die geforderten Richtlinien nicht mehr umfänglich erfüllen und damit nicht mehr an der Versorgung von Bauchaortenaneurysmen teilnehmen können. Die führt zu einem weiteren Ausbildungsdefizit, was die Attraktivität der gefäßchirurgischen Weiterbildung gerade in strukturschwachen Regionen weiter mildern sollte. Auch die geplante Änderung der Krankenhausstruktur durch Abstufung in drei Krankenhauslevel könnte die bisher bestehende Attraktivität kleinerer gefäßchirurgischer Einheiten weiter schmälern und zur Abwanderung von Ausbildungsassistent:innen in andere Fachgebiete führen. Dies würde gerade in ländlichen Regionen wie SA die breite und qualitativ hochwertige gefäßchirurgische Versorgung gefährden. Inwieweit die Überwindung von Sektorengrenzen (stationär/ambulant), die Erweiterung des ambulanten Operierens und die zunehmende Zentralisierung Einfluss auf die Personalsituation in der Gefäßchirurgie ausüben, kann nicht vorhergesagt werden.

Bislang ist die Vergütung ambulanter gefäßchirurgischer Operationen, wobei hier nur Varizen- und AV-Shuntoperationen verbleiben, da die Durchführung ambulanter (perkutan-)transluminaler Interventionen an eine(n) interventionell tätige(n) Radiolog:in gekoppelt ist, unzureichend vergütet. Alternativ wäre hier das Konzept von operierenden niedergelassenen Gefäßchirurg:innen zu nennen, wodurch sowohl Übergabesituationen zwischen den Sektoren und Fehler vermieden werden als auch gewährleistet wird, dass exakt die Therapie durchgeführt wird, die in langen Gesprächen und oft monatelangen abwägenden Prozessen mit Patient:innen sowie ggf. Angehörigen besprochen worden sind [15]. Somit würden ambulante Versorgungsdefizite ausgeglichen werden. Dies könnte für den Hauptanteil der Gefäßchirurg:innen in Deutschland in der Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren eine Alternative darstellen. Ungeachtet dessen, sollten vermehrte Anstrengungen zur Generierung des gefäßchirurgischen Nachwuchses in den nächsten Jahren erfolgen. Dazu werden zunehmend auch auf Lokal- und Länderebene Initiativen zur Gewinnung des Nachwuchses gestartet werden müssen.

Die im Folgenden genannten Anregungen sollen als Diskussionsbasis für einen breiten Austausch verstanden werden und dazu anregen, weitere Lösungsvorschläge und Initiativen in die Diskussion mit einzubringen:

Um die Bedeutung der Gefäßchirurgie zu unterstreichen, ist die Schaffung eines Lehrstuhls für Gefäßchirurgie (Gefäßmedizin) an den Universitäten dringend zu fordern, um die Gefäßchirurgie aus ihrem Sektionsdasein in klinischer und akademisch-wissenschaftlicher Hinsicht herauszuholen. Die Gefäßchirurgie muss für Humanmedizinstudierende sichtbarer und präsenter werden [16]!

Zudem sollten mehr landeseigene Weiterbildungen für junge Assistenzärzt:innen angeboten werden. Zu denken ist dabei an Naht- und Interventionskurse, die in Zusammenarbeit mehrerer Kliniken organisiert und durchgeführt werden können, ohne eine Konkurrenzsituation zwischen den Kliniken zu erzeugen.

Die Veränderung der Krankenhausstruktur erfordert die Schaffung neuer Ausbildungskooperationen zwischen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Weiterbildungsermächtigungen, um die in der Weiterbildungsordnung verankerten Ausbildungsinhalte den Weiterbildungsassistent:innen vollständig anbieten zu können.

Im Zuge dessen sollte entsprechend dem „Perspektivforum Junger Chirurgen“ der „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“ den gefäßchirurgischen Weiterbildungsassistent:innen eine Plattform auf Landesebene zum Austausch und breiter Diskussion gegeben werden.

Zusammenfassung

Trotz der statistisch nachweisbaren Verbesserung der Personalsituation an Fachärzt:innen für Gefäßchirurgie im stationären und ambulanten Bereich ist von einem Nachwuchsproblem auszugehen. Hier gibt es große regionale Unterschiede, wie am Vergleich zweier Bundesländer gezeigt. Um die Nachwuchsgewinnung zielgerichtet zu gestalten, ist zunächst die umfängliche Erfassung der Grunddaten der Personalsituation und Personalentwicklung im Bereich der Weiterbildungsassistent:innen in der Gefäßchirurgie erforderlich. Darüber hinaus sollte weiter an der Umsetzung der bereits vor Jahren empfohlenen Handlungsempfehlungen von wissenschaftlichen Gutachten auf Landes- und Bundesebene gearbeitet werden. Eine Wende ist nur in Zusammenarbeit aller Gefäßchirurg:innen im Land zu erreichen mit konkreten Vorschlägen und Forderungen an die Landespolitik und Klinikbetreiber. Leiteinrichtung und Koordinator sollten dabei die Universitätskliniken sein, die den unmittelbaren Zugang zu den Medizinstudierenden haben. Deshalb ist die Stärkung der Gefäßchirurgie durch Schaffung landeseigener Lehrstühle für Gefäßchirurgie dringend zu fordern.

Literatur

[1]   Blum K, Löffert S (2010) Ärztemangel im Krankenhaus – Ausmaß, Ursachen, Gegenmaßnahmen. Forschungsgutachten im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft. https://www.dki.de/sites/default/files/2019-05/aerztemangel%20in%20kliniken.pdf. Zugriff am 10.02.2023

[2]   Ostwald DA, Ehrhard T, Bruntsch F, Schmidt H, Friedl C (2010) Fachkräftemangel. Stationärer und ambulanter Bereich bis zum Jahr, 2030. https://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/assets/fachkraeftemangel.pdf. Zugriff am 10.02.2023

[3]   Gesundheitsversorgung. https://www.gbe-bund.de. Zugriff am 06.02.2023

[4]   Ärztestatistik zum 31. Dezember 2021 https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Ueber_uns/Statistik/2021/2021_Statistik.pdf. Zugriff am 29.04.2023

[5]   Zertifizierte Gefäßzentren der DGG. https://www.gefaesschirurgie.de/patienten/zertifizierte-gefaesszentren. Zugriff am 07.02.2023

[6]   KBV-Gesundheitsdaten. https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17074.php. Zugriff am 08.02.2023

[7]   Kühnl A, Knipfer E, Lang T, Bohmann B, Trenner M, Eckstein HH (2020). Hospital incidence, in-patient care and outcome of peripheral arterial occlusive disease and arterial thrombosis/embolism in Germany, 2005–2018. Gefässchirurgie 25, 433–445

[8]   Rammos C, Steinmetz M, Lortz J, Mahabadi AA, Petrikhovich O, Kirsch K, Hering R, Schulz M, Rassaf T (2021) Peripheral artery disease in Germany (2009–2018): Prevalence, frequency of specialized ambulatory care and use of guideline-recommended therapy–A population-based study. Lancet Reg Health Eur 5: 100113

[9]   Spoden M (2019) Amputationen der unteren Extremität in Deutschland–Regionale Analyse mit Krankenhausabrechnungsdaten von 2011 bis 2015. Das Gesundheitswesen 81: 422–430

[10] Udelnow A, Smorodin S, Sinicin E, Korsake K, Meyer F, Halloul Z (2018) Warum ist Sachsen-Anhalt Schlusslicht bei Prophylaxe und Therapie kardiovaskulärer Krankheiten? (Teil 2). Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 29(12): 32–35

[11] Halloul Z, Meyer F, Lippert H (2009) Die integrierte Gefäßchirurgie an der Universität – ein Positionspapier. Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 20: 16–19

[12] Hellmann W (2021) Die Chirurgie hat Zukunft. Innovative Aus- und Weiterbildung als Erfolgsfaktor. Reihe „essentials“, Springer, Heidelberg Berlin

[13] Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung. Physician Assistant – Ein neuer Beruf im deutschen Gesundheitswesen. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/Fachberufe/Physician_Assistant.pdf. Zugriff am 11.02.2023

[14] IGES Gutachten nach § 115b Abs. 1a SGB V Annex OPS Empfehlungen. https://www.iges.com/kunden/gesundheit/forschungsergebnisse/2022/erweiterter-aop-katalog/index_ger.html. Zugriff am 02.01.2023

[15] Gregor S, Schick K, Müller C, Pourhassan S, Noppeney T, Pleye J (2022) Niedergelassene Gefäßchirurgie, eine Chance für die Zukunft? Passion Chirurgie 12(01/02): Artikel 03_04

[16] Barth U, Meyer F, Halloul Z (2022) Spezifika der Lehre in der Gefäßchirurgie im interdisziplinär-chirurgischen Setting. Die Chirurgie 93(10): 966–975

Korrespondierender Autor:

Dr. med. Udo Barth

Arbeitsbereich Gefäßchirurgie

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R.

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

Prof. Dr. med. habil. Frank Meyer

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R.

Prof. Dr. med. habil Zuhir Halloul

Arbeitsbereich Gefäßchirurgie

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R.

Chirurgie+

Barth U, Meyer F, Halloul Z: Der Fachkräftemangel in der Gefäßchirurgie – eine gemeinsame Aufgabe. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 04_02.

Mehr zur Gefäßchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Gefäßchirurgie.

Die Anforderung der Barrierefreiheit für D-ärztliche Praxen

Die Anforderungen der gesetzlichen Unfallversicherungsträger vom 01.01.2024 für das Durchgangsarztverfahren sehen u. a. vor, dass die Praxis barrierefrei zugänglich und entsprechend ausgestattet sein muss. Diese Forderung gilt für alle Anträge auf Beteiligung am Durchgangsarztverfahren seit Jahresbeginn. Dazu zählen auch Anträge von Durchgangsärztinnen und Durchgangsärzten, die infolge einer Praxisverlegung ihre Beteiligung am Verfahren neu beantragen müssen.

Die Thematik ist im Bereich der Durchgangsarztanforderungen nicht völlig neu. Bereits seit den Bestimmungen von 1999 müssen durchgangsärztliche Praxen zumindest für nicht gehfähige Unfallverletzte zugänglich und ausgestattet sein. Nachdem die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) seit dem 26.03.2009 geltendes Recht in Deutschland geworden ist, ist auch die gesetzliche Unfallversicherung verpflichtet, die Ziele der UN-BRK zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Dazu zählt u. a. auch die Anforderung nach barrierefreien D-ärztlichen Praxen.

Gegenüber früheren Regelungen ist der Begriff der Barrierefreiheit in den neuen Anforderungen für das Durchgangsarztverfahren von 2024 umfassender. Er beschränkt sich nicht nur auf Menschen mit Einschränkungen der Gehfähigkeit, sondern schließt grundsätzlich alle Arten von Behinderungen ein. Das Ziel, eine Praxis in diesem Sinne vollständig barrierefrei zu gestalten, ist kaum zu erreichen. Diesem kann sich daher nur schrittweise angenähert werden, insbesondere wenn es sich um Praxisräume in Bestandsgebäuden handelt. Nachfolgend werden die wichtigsten Kriterien angeführt, die für eine barrierefreie Zugänglichkeit und Ausstattung durchgangsärztlicher Praxen von Bedeutung sind. Orientierende Beurteilungsgrundlage bildet die DIN 18040-1, Planungsgrundlagen für barrierefreies Bauen für öffentlich zugängliche Gebäude – Teil 1, von 2010. Zu den öffentlichen Gebäuden zählen auch Einrichtungen des Gesundheitswesens.

Zugang zur Praxis

Der Zugang zur Praxis sollte möglichst ebenerdig und frei von Stufen und Schwellen sein. Der Untergrund muss so beschaffen sein, dass ohne große Kraftanstrengungen und Unfallgefahr eine Fortbewegung mit Rollstuhl, Rollator oder auch Unterarmgehstützen möglich ist. Untergründe wie Kies, Sand oder grobes Kopfsteinpflaster sind ungeeignet. Sofern für den Zugang zum Gebäude eine Rampe erforderlich ist, gibt die o. g. DIN dafür notwendige Maße und Steigungswinkel vor, die einzuhalten sind. Sowohl die Zugangstür zum Gebäude als auch die Eingangstür zur Praxis müssen leicht zu öffnen und ausreichend groß bemessen sein. Die lichte Mindestbreite beträgt 0,90 m. Türen mit besonderen Brandschutzeigenschaften haben oftmals ein hohes Eigengewicht und brauchen daher zum Öffnen unterstützend einen automatischen Türantrieb. Karussell- oder Pendeltüren sind nicht barrierefrei. Zu einem barrierefreien Zugang gehört auch ein ausgewiesener Behindertenparkplatz sowie eine gut lesbare Ausschilderung zur Praxis.

Abb. 1: Der Eingang zu einer chirurgischen Praxis; Stufen und schwergängige Türen bilden noch immer die häufigsten Barrieren für Menschen mit Behinderungen.

Ist zum Erreichen der Praxis ein Aufzug erforderlich, muss dieser gewissen Anforderungen entsprechen. Neben einer ausreichenden Bewegungsfläche vor dem Aufzug sollte die Kabine im Inneren mindestens 1,10 m x 1,40 m groß sein, um den Transport eines Rollstuhlbenutzenden einschließlich Begleitperson zu ermöglichen. Für die Aufzugtür gilt ebenfalls die bereits erwähnte Mindestbreite von 0,90 m. Das Bedienfeld des Aufzugs sollte so gestaltet sein, dass es auch für Menschen mit Sehbehinderung geeignet ist. Sogenannte Treppenlifte, die bevorzugt in privaten Haushalten eingesetzt werden, sind ungeeignet, weil ein Rollstuhl oder Rollator nicht transportiert werden kann.

Ausstattung der Praxis

Bei der Ausstattung der Praxis liegt das Hauptaugenmerk auf den Türbreiten und ausreichenden Bewegungsflächen in den Funktionsräumen, die für die Versorgung der Patienten notwendig sind, einschließlich Wartezimmer und Sanitärbereich. Wie bereits oben angeführt, gilt auch hier das Mindestmaß von 0,90 m lichte Breite für die Türen.

Mindestens ein Untersuchungs- und Behandlungsraum muss so ausgestattet sein, dass ein ausreichendes Platzangebot zum Anfahren der höhenverstellbaren Untersuchungsliege mit einem Rollstuhl besteht. Die Liege muss dabei so im Raum platziert werden können, dass sie von beiden Seiten angefahren werden kann. Gleiches gilt für den Röntgentisch im Röntgenraum.

Die Tür zum Behinderten-WC muss sich nach außen öffnen. Im Raum selbst muss vor dem WC-Becken eine ausreichende Bewegungsfläche von mindestens 1,5 m x 1,5 m als Rangierfläche zur Verfügung stehen sowie neben dem WC-Becken eine Anfahrbreite von 0,90 m. Bei Neubauplanungen müssen beide Seiten des WC-Beckens anfahrbar sein. In Bestandsgebäuden muss das WC-Becken mindestens von einer Seite angefahren werden können. Darüber hinaus gehören zur Ausstattung des Sanitärraums stufenlos arretierbare Stützgriffe, um das Umsetzen vom Rollstuhl auf das WC-Becken zu ermöglichen sowie ein akustischer und optischer Alarm (Zwei-Sinne-Prinzip). Weitere Ausstattungsdetails finden sich in der o. g. DIN. Die Nutzung einer behindertengerechten WC-Anlage durch mehrere Praxen auf einer Ebene oder innerhalb eines Gebäudes ist grundsätzlich möglich, wenn der Zugang von der D-ärztlichen Praxis zur Anlage ebenfalls barrierefrei und im Alarmfall eine kurzfristige Hilfestellung sichergestellt ist.

Auch das Wartezimmer muss ausreichend Platzgelegenheit für Rollstuhlbenutzende aufweisen. Feststehende Sitzbänke sind in der Regel ungeeignet. Eine Abstellfläche für Rollstühle, Rollatoren und Unterarmgehstützen kann dagegen auch außerhalb des Wartebereiches eingerichtet werden.

Neben den vorgenannten Kriterien gibt es weitere Bereiche, die die Nutzung der Praxisräumlichkeiten für Menschen mit Behinderungen grundsätzlich ermöglichen, aber nur unter erschwerten Bedingungen. Dazu kann z. B. der Empfangstresen gehören, wenn er ausschließlich für Patienten konzipiert ist, die vor dem Tresen aufrecht stehen. Patienten, die dagegen an den Rollstuhl gebunden sind, können in diesem Fall vom Praxispersonal, das auf der anderen Seite des Tresens sitzt, nicht gesehen werden. Ist auch ein Unterfahren des Tresens nicht möglich, ist durch den erhöhten Abstand die Verständigung erschwert und das Anreichen von Unterlagen oftmals gar nicht möglich. Für sehbehinderte Menschen sind eine kontrastreiche Farbgebung und gut lesbare Beschilderungen wichtig, was nicht immer ausreichend Berücksichtigung findet. Im Rahmen von Praxisbegehungen sprechen wir auch solche Themen an, mit dem Ziel, bei späteren Sanierungs- oder Renovierungsarbeiten entsprechende Veränderungen vorzunehmen.

Schlusswort

Das Thema Barrierefreiheit ist sehr umfangreich und, wie eingangs angeführt, wird dieses Ziel voraussichtlich nie vollständig erreicht werden können. Wichtig ist daher, das Bewusstsein für dieses Thema weiter zu stärken, um sich dem Ziel so weit wie möglich anzunähern. Wenn Betroffene über ihre Erfahrungen berichten, wie schwierig es für sie noch immer ist, selbst in Großstädten wie Hamburg, z. B. eine Zahnarzt- oder Hautarztpraxis zu finden, die rollstuhlgerecht ist, wird deutlich, wie groß noch immer der Handlungsbedarf ist. Dieser wird durch den demografischen Wandel zusätzlich erhöht. Das Thema erfordert zudem auch baufachliche Kenntnisse, weshalb bei Neu- und Umbauten die Hinzuziehung von auf diesem Fachgebiet spezialisierte Architektinnen und Architekten sehr zu empfehlen ist. Ärztinnen und Ärzte, die eine Beteiligung am Durchgangsarztverfahren anstreben, sollten zusätzlich vor dem Kauf einer bestehenden Praxis oder dem Bau neuer Praxisräume mit dem zuständigen Landesverband der DGUV Kontakt aufnehmen. Die Beratung dort erfolgt kostenfrei.

Thomas Ideker

Stellvertretender Geschäftsstellenleiter

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV)

Landesverband Nordwest

Hildesheimer Str. 309

30519 Hannover

[email protected]

Chirurgie+

Ideker T: Die Anforderung der Barrierefreiheit für D-ärztliche Praxen. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 04_05.

Weitere Artikel zum Thema „D-Arzt“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Niederlassung.

Was bleibt, wenn die Mindestmenge in der kolorektalen Karzinomchirurgie kommt?

Situation

Mit Inkrafttreten des Krankenhausstrukturgesetzes am 01.01.2016 wurde der Prozess der Reformierung der Krankenhauslandschaft in Deutschland eingeleitet. Ziele des Gesetzes sollen die Entökonomisierung, die Sicherung und Steigerung der Behandlungsqualität und die Entbürokratisierung des Systems sein. Im Juli 2023 haben sich Bund und Länder hierzu auf ein Eckpunktepapier geeinigt [1]. Das Bundesgesundheitsministerium hat hieraus konkrete Gesetzesänderungsvorschläge erarbeitet. Diese wurden als erster Entwurf für ein Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) im September 2023 bekannt gegeben. Seitdem streiten Bund und Länder über die inhaltliche Ausgestaltung. Aktuell liegt ein mehrfach angepasster Arbeitsentwurf vor. Dieser ist jedoch wegen anhaltender Vorbehalte der Länder nicht beschlussfähig. Ein neuer Referentenentwurf hierzu ist derzeit in Arbeit. [2]. Kern des Gesetzes ist die Verbesserung der Versorgungsqualität und die Reform der Krankenhausvergütungsstrukturen [3]. Letztere sieht eine Klinikfinanzierung nach drei Kriterien vor: Vorhalteleistungen, Versorgungsstufen und Leistungsgruppen. Mit den Vorhalteleistungen soll die bisherige Finanzierung über Fallpauschalen abgelöst werden, da diese einen wirtschaftlichen Druck zur Fallzahlsteigerung erzeugt hat. Künftig sollen die Kliniken einen definierten Betrag für die Bereitstellung bestimmter Leistungen, unabhängig von der erbrachten Fallzahl, erhalten. Weiterhin ist eine Einteilung der Kliniken in Versorgungsstufen (sog. Level) in der Diskussion. Für jedes Level sollen dann klar definierte Mindestvoraussetzungen geschaffen werden. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um die Level 1-Grundversorgung, Level 2-Regel- und Schwerpunktversorgung und Level 3-Maximalversorgung. Weiterhin wird im Zuge der Reform die Etablierung von Leistungsgruppen (LG) geprüft. Diese LG sollen nach den geltenden ICD-10 und OPS-Codes definiert werden. In der Chirurgie könnte nach diesem Plan beispielsweise die LG 2.0 Basisbehandlung Allgemeine Chirurgie, die LG 2.7 Viszeralchirurgie und die LG 2.7.4 Pankreaseingriffe eingeführt werden. Die Zuweisung der LG an die Krankenhäuser würde durch die Länder erfolgen. Als Entscheidungsgrundlage für die Zuweisung soll die Erfüllung genau definierter Voraussetzungen hinsichtlich personeller und apparativer Ausstattung sowie vorhandener Struktur- und Prozesskriterien dienen. Je nach Komplexität wird für jede LG festgelegt, welche Versorgungsstufe das Krankenhaus für die Erbringung (und damit Vergütung) aufweisen muss. Im o. g. Beispiel kann somit die LG 2.0 in allen Krankenhäusern (Level I-III), die LG 2.7 nur in Level II+III- und die LG 2.7.4 nur in Level III-Kliniken erbracht werden. Hierdurch soll die Behandlungsqualität der Patienten maßgeblich verbessert werden. Ein weiteres Element, um die Qualität der Krankenhausbehandlung zu verbessern, ist die Einhaltung von Mindestmengen. Diese werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) weiterhin erarbeitet, wobei als wissenschaftliche Grundlage der Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge und der Qualität eines Eingriffes berücksichtigt wird.

Mindestmengen in der Viszeralchirurgie

In der Viszeralchirurgie wurde auf dieser Grundlage 2020 die jährliche Mindestmenge für komplexe Eingriffe an der Speiseröhre von zehn auf 26 erhöht. Die wissenschaftliche Grundlage für eine Mindestmengenregelung in der Chirurgie kolorektaler Karzinome wurde durch das IQWIG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) im Auftrag des G-BA bereits im April 2023 vorgelegt [4]. In der Auswertung 19 retrospektiver Kohortenstudien konnte der Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Behandlungsqualität zugunsten der Krankenhäuser mit höherer Leistungsmenge nachgewiesen werden. Es kann daher mit großer Sicherheit von der Einführung einer Mindestmengenregelung für kolorektale Karzinome ausgegangen werden.

Über die Höhe der jährlich zu erbringenden Eingriffe an Kolon und Rektum sind bisher keine offiziellen Informationen bekannt. Die Einführung einer Mindestmenge bedeutet für die Krankenhäuser, sie dürfen eine Leistung nur dann erbringen, wenn sie die erforderliche Mindestmenge im nächsten Kalenderjahr voraussichtlich erreichen werden. Hierdurch ist eine tiefgreifende und nachhaltige Veränderung der viszeralchirurgischen Versorgungsstrukturen zu erwarten, welche auch wesentlichen Einfluss auf die chirurgische Aus- und Weiterbildung haben wird.

KLK und BDC initiieren Befragung an 730 chirurgischen Kliniken in Deutschland

Auf Initiative des KLK (Konvent leitender Krankenhauschirurginnen und -chirurgen) in Zusammenarbeit mit dem BDC (Berufsverband der Deutschen Chirurgie) wurden diese anstehenden Veränderungen zum Anlass genommen, die derzeitige Versorgungsrealität in der kolorektalen Chirurgie in Deutschland zu hinterfragen. Im Januar 2023 wurde hierzu eine Umfrage an den 730 chirurgischen Kliniken Deutschlands durchgeführt. Neben wenigen weiteren Parametern sollten für das Jahr 2022 (bzw. für einen Zeitraum von 12 Monaten innerhalb der letzten drei Jahre) jeweils die Anzahl der Kolon- und Rektumresektionen, unterteilt nach gutartigen und bösartigen Befunden, angegeben werden (Abb. 1). 201 Kliniken nahmen an der Umfrage teil (Rücklaufquote 27,5 %). Die geografische Verteilung war bundesweit ausgeglichen. (Abb. 2) [5].

Abb. 1: Umfragebogen

Abb. 2: Teilnehmende Kliniken je Bundesland

Die Hälfte der antwortenden Kliniken waren DKG-zertifizierte Darmkrebszentren (Abb. 3). Die Wichtung der Krankenhäuser hinsichtlich ihrer Versorgungsstruktur ist in der Umfrage zwischen Grundversorgern (Ø 250 Betten) und Schwerpunktversorgern (Ø 540 Betten) mit 49 % zu 45 % nahezu ausgeglichen. Maximalversorger (Ø 850 Betten) waren mit 5 % tendenziell leicht unterrepräsentiert (Abb. 4).

Abb. 3: DKG-Zertifizierung

Abb. 4: Versorgungsstufe der Kliniken

Die in den Abbildungen dargestellten Zahlen stellen Durchschnittswerte dar. Die Auswertung erfolgte gestaffelt, abhängig von der angegebenen Versorgungsstufe des Krankenhauses, was mit der Höhe der durchschnittlichen Bettenzahl korrelierte. Während die Eingriffszahlen am Kolon mit knapp 80/Jahr auch an den Grundversorgerkliniken noch hoch war und sich zwischen Schwerpunkt- und Maximalversorgern mit 122 bzw. 128/Jahr nicht wesentlich unterschied, zeigte sich bei den Rektumoperationen eine erhebliche Differenz. Hier lag der Fokus klar auf den großen Häusern, von deren Eingriffszahlen die Schwerpunktversorger nur ≈ 75 % und die Grundversorger nur ≈ 40 % erreichten (Abb. 5). Werden die Eingriffe hinsichtlich der Dignität des Grundleidens differenziert (Abb. 6) zeigt sich, dass bei den Koloneingriffen der Maximalversorger die onkologische Chirurgie im Vordergrund steht. In den anderen beiden Versorgungsstufen sind hingegen benigne Befunde in der Überzahl, welche sich vermutlich im Wesentlichen aus der Sigmadivertikulitis, den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und der Notfallchirurgie generieren. Etwas überraschend war die hohe Anzahl an benignen Eingriffen am Rektum. Hier ist zu vermuten, dass es sich nicht in erster Linie um Resektionsoperationen gutartiger Befunde, sondern eher um Eingriffe aus dem Bereich der Proktologie bzw. Beckenbodenchirurgie handelt (STARR, Transtar™, Rektopexie u. ä.). Dafür spricht eine relativ deutliche Inhomogenität der Eingriffszahlen, was vermutlich auf wenige spezialisierte Zentren schließen lässt. Unter Einbezug aller Kliniken liegt der Durchschnitt bei 15 und der Median bei 8 benignen Rektumeingriffen pro Jahr (Abb. 7). Nur ca. ein Viertel der Kliniken führt jährlich > 20 dieser Operationen aus. Für alle DKG-zertifizierten Zentren sind Mindestmengen in der Chirurgie kolorektaler Karzinome bereits jetzt ein bekanntes und relevantes Thema.

Abb. 5: Kolorektale Resektionen je Versorgungsstufe

Abb. 6: Eingriffe differenziert nach Dignität

Abb. 7: Statistische Verteilung benigner Rektumresektionen

Über den „Jahresbericht Darm“ sind die Eingriffszahlen der 297 Zentren einsehbar. Bereits die derzeit geforderten Mindestmengen (Kolon 30/a und Rektum 20/a) können von einigen Zentren nicht erreicht werden. Im aktuellen Bericht von 2023 konnten für das Kolon 12 (4 %) und für das Rektum 61 (20 %) Zentren die Sollvorgabe nicht erfüllen (Abb. 8 und 9) [6].

Abb. 8: DKG Jahresbericht 2023 Kolon [6]

Abb. 9: DKG Jahresbericht 2023 Rektum [6]

Konsequenzen möglicher zukünftiger Mindestmengen für die Kliniken

Über die Höhe der anstehenden Mindestmengen gibt es bisher keine offiziellen Angaben. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass mindestens die derzeit gültigen Sollvorgaben der DKG für kolorektale Karzinome gefordert werden. Auch eine deutlich größere Menge wäre, nach der Erfahrung mit der Mindestmenge Ösophagus, nicht unwahrscheinlich. In den folgenden Diagrammen wird anhand der Umfragedaten exemplarisch veranschaulicht, welche Konsequenzen die jeweilige Neuregelung für die Kliniken hätte. Eine Vorgabe von 30 Kolonkarzinomen/a könnte von 26 % der Kliniken nicht erfüllt werden. Bei einer Steigerung auf 50 Eingriffe/a wären schon 62 % der Kliniken betroffen (Abb. 10 und 11). Noch deutlicher wird es beim Rektumkarzinom. Hier würden 46 % der Kliniken an einer Vorgabe von 20 Eingriffen/a und 70 % an einer Vorgabe von 25 Eingriffen/a scheitern (Abb. 12 und 13).

Abb. 10: 10 Kliniken mit < 30 Kolonkarzinome

Abb. 11: Kliniken mit < 50 Kolonkarzinome

Abb. 12: Kliniken mit < 20 Rektumkarzinomen/a

Abb. 13: Kliniken mit <25 Rektumkarzinomen/a

Auswirkungen für Kliniken sowie auf die Weiterbildung

Für diese Häuser, welche die Vorgaben nicht erfüllen können, bliebe somit ausschließlich die kolorektale Chirurgie benigner Befunde und die Notfallversorgung. In Abbildung 14 sind isoliert nochmal die Eingriffsmengen benigner Befunde dargestellt. Die chirurgische Aus- und Weiterbildung in diesen Kliniken wäre eine neue Herausforderung und ohne Rotationen in die entsprechenden Zentren in der nötigen Breite gar nicht abzudecken. Nach Auswertung der Daten werden an den Häusern der Grund- und Regelversorgung im Durchschnitt drei und an denen der Schwerpunktversorgung vier Weiterbildungsassistenten beschäftigt. Bei vorgeschriebenen 30 Koloneingriffen für den Facharzt für Allgemeinchirurgie bzw. Viszeralchirurgie müssen über eine Weiterbildungszeit von sechs Jahren pro Assistent fünf Eingriffe/a gerechnet werden. Sowohl für Grund- als auch Schwerpunktversorger ergibt sich daraus die Konsequenz, dass jeder dritte Eingriff am Kolon zum Ausbildungseingriff wird. Die Gewährleistung einer fundierten Weiterbildung des chirurgischen Nachwuchses wird somit eine weitere der zahlreichen Aufgaben, welche auf die chirurgischen Kliniken zukommen werden.

Abb. 14: Anteil der Ausbildungs-OP’s bei benignen Befunden

Ausblick

Es muss Klarheit darüber bestehen, dass die Einführung von Mindestmengen in der Chirurgie kolorektaler Karzinome zu erheblichen Veränderungen in der allgemein- und viszeralchirurgischen Versorgungsstruktur führen wird. Ein ganz wesentlicher Aspekt hierbei wird sein, ob die Entitäten Kolon und Rektum getrennt gewertet oder zusammengefasst werden. Bedeutet ein Unterschreiten der Rektum-Mindestmenge auch ein Aus für die Koloneingriffe? Wie die Daten gezeigt haben, kann fast die Hälfte aller Kliniken keine 20 Rektumkarzinomresektionen pro Jahr erreichen. Auch für Zentren wird ein Erreichen der Mindestmenge durch sinkende Inzidenzen [7] und Zunahme multimodaler Therapien (total neoadjuvante Therapie-TNT) zunehmend zur Herausforderung. Es herrscht Konsens darüber, dass die Behandlungsqualität der Patienten gesichert und verbessert werden soll. Inwieweit Mindestmengen hier der richtige Weg sind, muss jedoch sehr genau und differenziert abgewogen werden. Wenn Mindestmengen zum Zweck der verbesserten Versorgung onkologischer Patienten in der Folge vor allem im ländlichen Raum zu Klinikschließungen führen, ist für die Gesamtheit der regionalen Bevölkerung eher ein negativer Effekt auf die Versorgungsqualität zu befürchten. Auf der anderen Seite gibt es für eine gute medizinische Versorgung von Patienten mit kolorektalen Karzinomen mit den zertifizierten Darmzentren bereits jetzt Strukturen, deren Effekt mit der WiZen-Studie wissenschaftlich belegt werden konnte [8]. Neben den bereits genannten Mindestmengen werden hier zahlreiche weitere Parameter in der Prozess- und Strukturqualität stetig geprüft und optimiert. Eine Umstrukturierung der Kliniken hinsichtlich dieser Qualitätsparameter anzustreben steigert die Behandlungsqualität wahrscheinlich mehr, als die Umsetzung einer Mindestmenge.

Es ist unstrittig, dass es in Ballungsräumen ein Überangebot an Kliniken gibt und hier eine gewisse Bereinigung hinsichtlich der angebotenen Leistungen sinnvoll ist. Eine Übertragung auf die dünner besiedelten ländlichen Regionen ist jedoch nicht ohne weiterreichende Folgen denkbar. Es sollte zudem nicht unterschätzt werden, wie komplex ein solcher Neuordnungsprozess sein kann. Kliniken mit sehr geringen Zahlen werden zweifellos aus der Versorgung gehen müssen, solche mit hohen Zahlen werden hingegen allenfalls eine weitere Zunahme der Fallzahlen organisieren müssen. Dazwischen gibt es jedoch eine große Anzahl von Kliniken mit mittleren Eingriffszahlen, was die flach verlaufende Kurve der Diagramme veranschaulicht. Die Annahme, das von drei Kliniken knapp unter der Mindestmenge die Eingriffe einer Klinik einfach auf die anderen beiden übertragen werden, ist theoretisch nachvollziehbar. In der Realität wird jedoch kaum eine Klinik freiwillig auf diesen wichtigen Teil des Spektrums verzichten. So sind in der Übergangsphase ethisch fragwürdige „Kämpfe“ um die Patienten zu befürchten. Zudem können die Kliniken in dieser Zeit kaum zukunftsorientiert planen da unklar ist, ob demnächst mehr oder gar keine kolorektale Karzinomchirurgie stattfinden wird.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine Einführung von Mindestmengen für die Chirurgie kolorektaler Karzinome zu erheblichen Umstrukturierungsprozessen lokal, regional und überregional führen wird, welche die Kliniklandschaft, wie wir sie heute kennen, nachhaltig verändern und die chirurgische Ausbildung vor neue Herausforderungen stellen wird. Insbesondere für die Weiterbildung steht die Forderung nach unverzüglichen und sinnvollen Anpassungen im Vordergrund.

Literatur

[1]   „Eckpunktepapier – Krankenhausreform“, 2023, [Online]. Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/Eckpunktepapier_Krankenhausreform_final.pdf

[2]   „Lauterbach: Krankenhausreform ist ein gutes Stück vorangekommen“. [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/lauterbach-krankenhausreform-ist-ein-gutes-stueck-vorangekommen.html

[3]   „Dritte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/3te_Stellungnahme_Regierungskommission_Grundlegende_Reform_KH-Verguetung_6_Dez_2022_mit_Tab-anhang.pdf

[4]   „Chirurgie kolorektaler Karzinome: Die Erfolgsaussichten steigen mit höheren Fallzahlen“, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_91840.html

[5]   „Krankenhäuser 2022 nach Trägern und Bundesländern“, Statistisches Bundesamt. [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Krankenhaeuser/Tabellen/eckzahlen-krankenhaeuser.html

[6]   Deutsche Krebsgesellschaft e.V., „Jahresbericht der zertifizierten Darmkrebszentren Kennzahlenauswertung 2023 Auditjahr 2022 / Kennzahlenjahr 2021“. [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.onkozert.de/wordpress/wp-content/uploads/2023/11/qualitaetsindikatoren_darmkrebs_2023-A1_230629.pdf?v=64142134

[7]   Inzidenz und Mortalität proximaler und distaler kolorektaler Karzinome in Deutschland Trends in der Ära der Vorsorgekoloskopie Cardoso R et. al. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 281–7; DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0111

[8]   Krebserstbehandlung in zertifizierten versus nichtzertifizierten Krankenhäusern Ergebnisse der vergleichenden Kohortenstudie WiZen. Schmitt J et al. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 647–54; DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0169

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. habil. Kaja Ludwig

Chefarzt

Hanse- und Universitätsstadt Rostock

Eigenbetrieb „Klinikum Südstadt Rostock“

Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Rostock

Südring 81

18059 Rostock

[email protected]

Chirurgie+

Scholz M, Steffen H, Möller D, Krones CJ, Meyer HJ, Ludwig K: Was bleibt, wenn die Mindestmenge in der kolorektalen Karzinomchirurgie kommt? Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 04_03.

Mehr zur Viszeralchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Viszeralchirurgie.

BDC-Praxistest: SEDIWORK, eine cloudbasierte Software für die ärztliche Rotationsplanung

Vorwort – Rotierende Ärztinnen und Ärzte

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Rotationen waren schon immer fester Part der chirurgischen Karriere. Aber mit der ärztlichen Weiterbildung hatte das oft weniger zu tun. Man rotierte als Belohnung, aus Strafe auch mal länger, angeblich geplant, doch manchmal auch spontan, früher oder später, wenn es passte und wenn nicht, dann eben nicht. Wer sich beschwerte oder gar forderte, der lebte gefährlich. Es gab einfach genug andere.

Doch diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Eine verlässliche und transparente Weiterbildungszeit ist auf dem medizinischen Bewerbermarkt zu einem sehr wichtigen Jobkriterium geworden, an dem selbst Ordinariate nicht mehr vorbeisegeln können. Doch die angemessene Verteilung der Mitarbeiter ist anspruchsvoll. Neben tradierten Fragen der Zugehörigkeit spielen z. B. Lernkurven, individuelle Pläne, Teambildungen, Partnerfragen, institutionelle Möglichkeiten und auch Belohnungsmuster eine durchaus relevante Rolle. Die angestrebte Neuverteilung von medizinischen Leistungen durch die niemals endende Reform der Reform der Reform … im Gesundheitssystem wird eine weitere hohe Hürde bauen. Rotationen in der Weiterbildung bekommen dadurch noch mehr inhaltlichen Druck.

Da erscheint eine cloudbasierte Rotationsplanung für den standortübergreifenden Einsatz gerade richtig. Die Autorin verrät nicht zu viele Details, aber das Programm macht neugierig, denn die Anforderungen und Ansprüche sind hoch. Warum gerade ein Klinikkonzern, der bis dato nicht unbedingt für Altruismus stand, das Roll-Out unterstützt? Honi soit qui mal y pense. Spielt aber auch keine Rolle, denn „wer heilt, hat recht“. Um das zu beurteilen, müsste man aber auch in 12 bis 24 Monaten bilanzieren. Wir sind also gespannt auf die Ergebnisse der Hamburger Rotation. Und bis dahin hoffen wir, dass das Programm im Einsatz immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel hat.

Anregende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Die moderne Gesundheitsbranche befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden Wandel, der nicht nur medizinische Fortschritte, sondern auch innovative digitale Technologien umfasst. Ein Bereich, der bisher oft manuell und zeitaufwändig organisiert wurde, betrifft die Rotationsplanung für Ärzte in Kliniken. Die Einführung einer cloudbasierten, intelligenten Rotationsplanung am Beispiel der Asklepios-Kliniken in Hamburg verspricht nicht nur eine Steigerung der Effizienz, sondern auch eine engere Zusammenarbeit zwischen den Kliniken und eine erhebliche Verbesserung der Arbeitszufriedenheit der Ärzte.

Schauen wir uns die Arbeitswelt des Arztes an, beobachten wir, dass in den letzten Jahren die Bürokratie in der Medizin zugenommen hat, was das Leistungspotential von Ärzten erheblich hemmt. Um den medizinischen Fortschritt voranzutreiben und die bestmögliche Versorgung für Patienten sicherzustellen, sind die Entbürokratisierung des Arztberufs sowie die Digitalisierung unumgänglich.

Warum ist das so wichtig? Weil Ärzte sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren sollten: Die Medizin, die Behandlung und die Versorgung von Patienten. Wenn sie ihre Zeit und Energie mit organisatorischen und bürokratischen Angelegenheiten verbringen müssen, geht wertvolle Zeit verloren, die stattdessen der Patientenversorgung gewidmet werden könnte. Dies führt nicht nur bei den Ärzten zu großer Frustration, sondern hat auch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf viele Kliniken.

Eine wichtige Aufgabe der Ärzte besteht darin, die nächste Generation von Medizinern effektiv auszubilden. Ein Bereich, der bisher manuell verwaltet wird, betrifft die Rotation der Ärzte. Ärzte wechseln zwischen den verschiedenen Abteilungen einer Klinik oder mehreren Kliniken, um die erforderlichen Fähigkeiten für ihre Facharztweiterbildung zu erlangen.

Aktuell erfolgt die Planung manuell und erfordert die Berücksichtigung einer Vielzahl komplexer Parameter. Dazu gehören nicht nur die verschiedenen Rotationsbereiche, sondern auch die präzise Koordinierung der Kapazitäten, die Berücksichtigung der Weiterbildungsordnung, die Anpassung an klinikinterne Curricula und die sorgfältige Organisation von externen Rotationsmöglichkeiten.

Die hohe Komplexität dieser Aufgabe erfordert einen erheblichen Zeitaufwand, der die Aufmerksamkeit der Ärzte von ihren klinischen Tätigkeiten ablenkt. Im Durchschnitt widmet ein Chefarzt gut 12 % seiner Arbeitszeit im Monat allein der Planung der Rotationen, die er oft an seine qualifizierten Oberärzte delegiert, die dann in dieser Zeit nicht mehr für die direkte Patientenversorgung zur Verfügung stehen.

Die Lösung für diese komplexe Herausforderung liegt in einer intelligenten, cloudbasierten Rotationsplanung. Die innovative Software SEDIWORK ermöglicht es, sämtliche relevanten Parameter mithilfe von leistungsstarken Algorithmen zu berücksichtigen und Rotationsvorschläge für Ärzte und Kliniken zu generieren.

Sie unterstützt die standortübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Kliniken, passt sich bei Ausfällen an, sichert die Qualität der ärztlichen Weiterbildung und die der medizinischen Versorgung und steigert insgesamt die Arbeitszufriedenheit. Durch die Digitalisierung und Automatisierung administrativer Prozesse erhalten Ärzte mehr Freiheit, Selbstständigkeit und Teilhabe an ihrer beruflichen Entwicklung.

In den Hamburger Asklepios-Kliniken wird SEDIWORK derzeit ausgerollt. Maßgebliche vorangetrieben in Hamburg hat Professorin Carolin Tonus, Chefärztin der Viszeralchirurgie Asklepios Klinik St. Georg sowie Vorsitzende BDC Hamburg, die das Thema standortübergreifende Rotation und Weiterbildung bereits lange verfolgt.


Unser einzigartiges und europaweit größtes Klinik Cluster in Hamburg treibt mit der Bündelung fächerübergreifender Kompetenzen Spitzenmedizin durch qualitativ hochwertige Weiterbildung voran. Das machen wir mit SEDIWORK vollständig digital.“

Prof. Dr. med. Carolin Tonus, Chefärztin Allgemein- und Viszeralchirurgie und Ärztliche Direktorin Asklepios Klinik St. Georg

Mit der tatkräftigen Unterstützung der dortigen Chirurgen sind personalplanende Oberärzte nicht mehr durch bürokratische Tätigkeiten gebunden, sondern können sich darauf konzentrieren die eigenen und die individuellen Potenziale ihrer Mitarbeiter zu entfalten.

Die Neugestaltung der ärztlichen Rotationen in den Asklepios-Kliniken ist daher nicht nur ein technologischer Fortschritt, sondern ein bedeutender Schritt hin zu einer zeitgemäßen Personalentwicklung in einem modernen und effizienten Gesundheitswesen, die sowohl den Bedürfnissen der Ärzte als auch der Patienten gerecht wird.


Der Personaloberarzt spielt eine Schlüsselrolle in der Entwicklung junger Kollegen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten. Um sich darauf konzentrieren zu können, braucht er zeitgemäße Tools. Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden zeigt sich durch Unterstützung ihrer individuellen Fähigkeiten, konkret mit der Förderung ihrer Weiterbildung.“

Gründerin von SEDIWORK Dr. med. Dilan Sinem Sert

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Dr. med. Dilan Sinem Sert

Geschäftsführerin

SEDIDOC GmbH

Karl-Liebknecht-Straße 14

04107 Leipzig

Gesundheitspolitik

Sert DS: BDC-Praxistest: SEDIWORK, eine cloudbasierte Software für die ärztliche Rotationsplanung. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(03/QI): Artikel 05_01.

Weitere Praxistest-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de).

Chirurgie in der DDR – In der Provinz (Teil 2)

Im mittleren Teil der „deutschöstlichen Region“ (Wulf Kirsten) fällt für einige Zeit die nabelschnurartige Verbindung zwischen der Hallenser und der Leipziger Chirurgie in den Blick, wobei es sich diese beiden Städte verbeten haben würden, als Provinz bezeichnet zu werden, insbesondere Leipzig, die „heimliche Hauptstadt der DDR“. Im Mittelpunkt stehen das ehemalige Bezirkskrankenhaus St. Georg in Leipzig und die Chirurgische Universitätsklinik in Halle an der Saale. So wurde der aus dem Sudetenland vertriebene Chirurg Franz Mörl (1899–1979) in der Leipziger Universitätsklinik unter Ernst Heller (1877–1964)1 groß und dann dessen Nachfolger im St. Georg. Von dort berief man ihn auf das Ordinariat in Halle, während der dortige Oberarzt und Schüler von Werner Budde (1886–1960), Gerhard Rothe (1911–1978), Professor und Chefarzt am Klinikum St. Georg in Leipzig-Wiederitzsch wurde. Rothe hatte bei Brunner in Zürich und bei Derra in Düsseldorf hospitiert und als erster Lungenoperationen im großen Stil in Mitteldeutschland durchgeführt. Aus der Heller-Mörl-Rothe-Schule stammte auch der langjährige Chefarzt und Ärztliche Direktor des Kreiskrankenhauses Borna, Dr. Gerhard Schreckenbach (1918–2016).

Abb. 1: Franz Mörl

Im Dunstkreis von Halle, aber von Becker aus Jena kommend, entfaltete der Arztsohn Prof. Baldur Schyra (1934–2009) am Klinikum in Bernburg an der Saale (heute zur AMEOS-Gruppe gehörend und Akademisches Lehrkrankenhaus der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) eine hohe Wirksamkeit. Schyra hatte noch ein zusätzliches Studium der Philosophie mit Promotion absolviert, in Budapest und Leningrad chirurgisch hospitiert und 1969 in Jena habilitiert. Die Chirurgische Klinik in der ehemaligen anhaltinischen Residenzstadt Bernburg leitet er 29 Jahre(!) Prof. Schyra, der auch in den Fach-und Standesvertretungen aktiv war, z. B. im Präsidium der DGCH, hinterließ mit dem Buch „Momentaufnahmen eines Chirurgen“ 2003 fesselnde Lebenserinnerungen, die Einblicke in das Spannungsfeld eines Chirurgen zwischen täglicher Arbeit im Operationssaal und der Verantwortung eines „staatlichen Leiters“ im „sozialistischen Gesundheitswesen“ erlauben. Als Kuriosum sei hier angefügt, dass Schyra seine medizinische Dissertation („Johann Wilhelm Baumer und seine Bedeutung für die medizinische Wissenschaft“) an jener Abteilung der Medizinischen Akademie Erfurt angefertigt hat, an welcher der Verfasser 25 Jahre später als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war.

Abb. 2: Gerhard Rothe

Über seinen Wirkungskreis am Stadtkrankhaus Dresden-Friedrichstadt hinaus galt Albert Fromme (1881–1966) als Papst der Chirurgie in Mitteldeutschland, hinter vorgehaltener Hand auch „Pius“ genannt. Die Durchführung der 66. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) 1945 in Dresden unter seiner Präsidentschaft blieb ihm infolge von Krieg und Zerstörung versagt. Als 1954 die Medizinische Akademie „Carl Gustav Carus“ in Dresden gegründet wurde2, wurde Fomme erster Ordinarius für Chirurgie und erster Rektor. Penibel im Diagnostizieren und Operieren, war Fromme, seit 1915 Professor, chirurgisch noch Allrounder und ist wissenschaftlich vor allem mit einer seinerzeit viel diskutierten Mesenchymtheorie des Karzinoms hervorgetreten. Frommes Nachfolger, die Professoren Hans-Dieter Schumann (1911–2001) und Karl-Heinz Herzog (1927–1993) waren bei aller Unterschiedlichkeit aus dem gleichen Holz geschnitzt. Man könnte sie fast als das „Dresdner Triumvirat“ bezeichnen, vermochten sie doch ihre Klinik vor den schlimmsten Auswüchsen des „sozialistischen Gesundheitswesens“ und des totalitären Systems zu bewahren.

Abb. 3: Baldur Schyra

Abb. 4: Das alte Krankenhaus in Bernburg

Abb. 5: Gerhard Schreckenbach

Abb. 6: Albert Fromme

Die Tendenz, auch kleine und mittlere Häuser mit Professoren zu besetzen, ist nicht neu. Als Beispiel sei hier das Stadtkrankenhaus Arnstadt in Thüringen angeführt, das immer wieder Professoren an die Spitze der Chirurgie berief. Prof. Gerhard Jorns (1900–1995) dürfte der prominenteste gewesen sein. Er kam von Guleke in Jena – wie breit dessen Schule ihre Abkömmlinge in die Periphere entsandte, wird sich noch an anderer Stelle zeigen – und übernahm 1935 das Arnstädter Haus, weiterhin in Jena lesend. Jorns’ große Vielseitigkeit und seine enorme Leistungsfähigkeit zeigten sich vor allem im und nach dem Zweiten Weltkrieg, wo er nicht nur Chefchirurg und Leiter des gesamten Krankenhauses, sondern auch verantwortlich für zahlreiche Lazarette der Umgebung war. In der Nachkriegszeit rief er Polikliniken, Landambulatorien und Dispensaires ins Leben, die es zuvor noch nicht gegeben hatte. Ungeachtet dieser Arbeitsbelastung veröffentlichte Prof. Jorns chirurgische Lehr- und Handbücher, die großen Anklang unter den Fachkollegen fanden und noch weit über seine Zeit hinaus wirkten, wie z. B. das zweibändige „Lehrbuch der speziellen Chirurgie“ (zusammen mit W. E. Goldhahn,1955 ff).

Abb. 7: Hans-Dieter Schumann

Abb. 8: Gerhard Jorns

In Arnstadt gab es noch einen weiteren prominenten Professor der Chirurgie, der allerdings nicht mit Jorns konkurrierte, weil er sich gänzlich auf die orthopädische Chirurgie spezialisiert hatte: Prof. Dr. Leopold Frosch (1890–1959), von 1925 bis 1959 Chefarzt der Orthopädischen Klinik „Marienstift“. Die chirurgischen Lehrer des gebürtigen Berliners waren Moritz Katzenstein (1872–1932), Otto Hildebrand (1858–1927) und August Bier (1861–1949), alle in Berlin. Vor allem Kinder mit Rachitis, Knochentuberkulose und Haltungsschäden, natürlich auch Erwachsene, kamen scharenweise aus ganz Thüringen und darüber hinaus zu Frosch. Wie Jorns ist auch er Namensgeber einer Straße in Arnstadt.

Dass Provinzkrankenhäuser auch als Sprungbrett für höhere Aufgaben dienen können, zeigt sich am Beispiel von Heinrich Kuntzen (1893–1977), der als Payr-Schüler zunächst an das Stadtkrankenhaus nach Chemnitz ging und von dort 1951 auf das chirurgische Ordinariat in Jena berufen wurde. Zu Chemnitz (von 1953 bis 1990 „Karl-Marx-Stadt“) wäre noch anzufügen, dass die späteren Chefärzte Kurt Unger (1916–1996), Wilfried Wehner (1932–2022), Rainer Morgenstern (1940–2016) und Joachim Boese-Landgraf (*1950) als Professoren aus dem universitären Bereich kamen.

Wiederum aus der Jenaer Chirurgenschule stammte Prof. Fred Nöller, langjähriger Chefarzt am Bezirkskrankenhaus Gera-Milbitz. Der Guleke-Schüler hatte dort 1950 den nicht minder namhaften Prof. Otto Hilgenfeld (1900–1983) abgelöst. Nöller, der noch das Gesamtgebiet der Chirurgie beherrschte und auch Facharzt für Urologie war, hielt weiter Vorlesungen in Jena. Er brachte die Geraer Klinik auf den neuesten Stand und hat zahlreiche Fachärzte und Oberärzte in die Umgebung entlassen. Ihm eignete zudem eine zeichnerische Begabung, die sich u.  a. in einem Porträt seines Meisters Guleke ausdrückte.

Hier schließt sich nahtlos Prof. Gerhard Hartmann (1923–2011) an, der ebenfalls aus der chirurgischen „Kaderschmiede“ von Guleke in Jena kam. Auch Kuntzen und Becker hat er noch erlebt, bevor er 1968 als Chefarzt an das Kreiskrankenhaus in Greiz „entwich“, zu groß waren die Meinungsverschiedenheiten mit seinem Chef in der Jenaer Bachstraße. Hartmann hat diesen Wechsel nie als Abstieg, sondern als Glücksmoment empfunden, konnte er sich doch in der Greizer Selbständigkeit als Chirurg und Urologe fachlich voll entfalten und seine Vorstellungen von einer reibungslos funktionierenden chirurgischen Abteilung verwirklichen. Zudem war es ihm in der Provinz mehr als im „Dschungel“ der Hochschule möglich, seinen humanistischen und psychologischen Neigungen zu frönen.

Einer der im wahrsten Sinne des Wortes berühmtesten sogenannten Provinzchirurgen war Heinrich Braun (1862–1934) in Zwickau. Hier schuf er ein Großkrankenhaus im damals modernen Pavillonstil mit über 600 Betten, die Hälfte davon chirurgische. Aus Nah und Fern kamen nicht nur Patienten, sondern auch am Krankhausbau interessierte Besucher nach Zwickau. Kurz nach Brauns Tod erhielt die Einrichtung den noch heute bestehenden Namen „Heinrich-Braun-Krankenhaus“. Die Chirurgie erlernte Braun bei Richard von Volkmann (1830–1889) in Halle, autodidaktisch als Privatkliniker in Leipzig sowie als Habilitand bei Karl Thiersch (1822–1895) in Leipzig. Als Chefarzt des neuen Diakonissenkrankenhauses (1899–1905) in Leipzig stand Braun bereits auf eigenen Füßen und widmete sich dem Gebiet der Lokalanästhesie, das ihm später Weltruhm verschaffen sollte. In Zwickau bewies Braun, dass die wissenschaftliche Arbeit längst nicht mehr auf die Universitätskliniken beschränkt war. Eine anschauliche Beschreibung seines Werdeganges gibt Heinrich Braun in seiner Autoergobiographie: „Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen“. Hrsg. v. L. Grote. Bd. 5. Leipzig 1925, S. 1–34.

Braun, seit 1905 Extraordinarius an der Universität Leipzig, hat sich besonders um die Lokalanästhesie verdient gemacht, hierbei oft als Widerpart von Carl Ludwig Schleich (1859–1922). Wir kennen noch heute seine Leitungs- und Infiltrationsanästhesie, seine Bein-Lagerungsschiene und (vielleicht) seinen Transfusionsapparat. Für immer verbunden bleibt sein Name auch als Mitherausgeber der ersten großen chirurgischen Operationslehre in Deutschland, dem „Bier-Braun-Kümmell“, zusammen mit August Bier (1861–1949) und Hermann Kümmell (1852–1937). 22 Jahre hat Braun in Zwickau gearbeitet, ist 1924 Präsident der DGCH gewesen und 1929 zu ihrem Ehrenmitglied ernannt worden.

Gelegentlich kam es auch zu Rückberufungen von in die Provinz gegangenen Chirurgen an ihre Alma Mater. Ein solcher Fall begegnet uns in der Person von Hans Schröder (1929–1997), ein Schüler Kuntzens, der dann bei Theo Becker (1916–1997) habilitierte, Professor wurde und von 1972 bis 1981 Chefarzt der Chirurgie am Bezirkskrankenhaus in Gera wurde. Er folgte Becker auf dem Jenaer Lehrstuhl (1981–1995).

Der Franke Dr. Wilhelm Heufelder (1896–1976) hatte bei seinem Dienstantritt 1930 in Waltershausen am Fuße des Thüringer Waldes München als akademischen Hintergrund. Er verließ die Ludwig-Maximilians-Universität, wo er studiert und promoviert hatte, als Facharzt noch zu Zeiten Erich Lexers (1867–1937). Waltershausen wurde zu Heufelders Wahlheimat. Hier setzte er den Krankenhausneubau am Geizenberg durch und hier erwarb er sich den Ruf eines Struma-Spezialisten, zu dem nicht nur Patienten aus dem Thüringer Endemiegebiet kamen, sondern aus der gesamten DDR. Über seine Pensionierung hinaus hat Chefarzt Dr. Heufelder Sprechstunden abgehalten und ist beratend tätig gewesen. In Waltershausen ist er dann auch gestorben.

Die seit 1954 im Rahmen der neu gegründeten „Medizinischen Akademie Erfurt“ als Hochschulklinik fungierende Chirurgische Klinik mit ihren Direktoren Prof. Egbert Schwarz (1890–1966) und Prof. Werner Usbeck (1920–2007) war ebenfalls daran interessiert, möglichst viele aus ihrem „Stall“ hervorgegangene Chirurgen auf Chefpositionen in der Region unterzubringen. Auf diese Weise wurden u.  a. die Kreiskrankenhäuser in Arnstadt, Gotha, Bad Langensalza, Sömmerda, Ilmenau und Nordhausen besetzt. Und so war zumindest in diesen Kliniken dann ein einheitliches chirurgisches Vorgehen („Erfurter Schule“) gewährleistet. Im Umland anderer großer Ausbildungseinrichtungen war es ähnlich.

Abb. 9: Wilhelm Heufelder

Ohne an dieser Stelle auf weitere Städte, in denen Professoren chirurgische Chefärzte waren, wie z. B. Frankfurt an der Oder, Saalfeld an der Saale oder Plauen im Vogtland näher eingehen zu können (was vielleicht an anderer Stelle einmal möglich ist), bleibt zu resümieren, dass in Ost und West, in Nord und Süd des ehemaligen zweiten deutschen Staates sich die Chirurgen gleichermaßen mit PASSION ihrem Metier gewidmet haben, egal ob dies in den Kathedralen der Universitäten oder „auf dem platten Land“ geschah.

1  Inaugurator der nach ihm benannten Kardiomyotomie bei Pylorospasmus und der Thorakoplastik bei Empyemresthöhe

2  Zur Beseitigung des Ärztemangels wurden zeitgleich die Medizinischen Akademien in Erfurt und Magdeburg gegründet.

Dr. med. habil. Volker Klimpel

Grazer Straße 3

01279 Dresden

Panorama

Klimpel V: In der Provinz –
Chirurgen in der DDR (Teil 2).
Passion Chirurgie. 2024 April;
14(04): Artikel 09.

Den ersten Teil „Chirurgie in der DDR“ lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

PASSION CHIRURGIE im März 2024

Zur Ausgabe 03/QI/2024: Künstliche Intelligenz in der Chirurgie

KI ist in aller Munde – wie weit sind wir denn damit in der Chirurgie? Was ist überhaupt möglich? In der Märzausgabe der PASSION beleuchten wir beispielhaft drei Themen aus diesem Bereich: Computer Vision und Bildgebung in der Unfallchirurgie, KI-basierte Arztbrieferstellung und KI-Umsetzungen in der Viszeralchirurgie.

Wir haben ein neues Projekt für Nachwuchsmediziner gestartet: „M3-Prüfungsvideos: Watch and Learn“. So etwas gab es bisher in dieser Form noch nicht! 11 Prüfungssimulationen mit echten Prüfern sollen Studierende bestens auf ihre M3-Examen vorbereiten. Das wäre eine gute Empfehlung für Ihre PJler!

Zwei Highlights aus dem Seminarangebot der BDC|Akademie finden in Kürze statt: Das zweitägige Webinar „Hernie komplex“ (10. bis 11. April) beinhaltet sowohl Videobeiträge, Falldarstellungen als auch theoretische Vorträge zu komplexen Hernien.

Zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung für Orthopädie/Unfallchirurgie sowie als Update für Fachärztinnen und Fachärzte findet vom 22. bis 26. April das nächste „Facharztseminar Orthopädie/Unfallchirurgie“ statt. Referent:innen aus ganz Deutschland machen Sie in fünf Tagen fit für Ihre Prüfung und bringen Sie auf den neuesten Stand der Behandlungsstrategien und Techniken in O&U. Es sind noch Plätze frei, melden Sie sich noch heute an!

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen,
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion