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Hot Topic – Suizidalität bei Chirurginnen und Chirurgen

Aufgrund der Schwere des Themas lohnt es sich, einen Einzelpunkt aus der Umfrage gesondert zu betrachten: „Kennen Sie einen Suizidfall oder eine Suizidabsicht unter Chirurg:innen?“ Die Ergebnisse sind alarmierend: 26,8 % beantworteten die Frage mit Ja.

Laut Daten des statistischen Bundesamts nahmen sich im Jahr 2022 in Deutschland 10.119 Menschen das Leben. Dies entspricht etwa 28 Personen pro Tag. Die Tendenz bei Suiziden ist zwar im Vergleich zum Vorjahr steigend, im Langzeitverlauf jedoch deutlich fallend (vgl. 1980 mit ca. 50 Suiziden/Tag). Die Rate an Suizidversuchen wird in Deutschland nicht systematisch erfasst und dürfte daher nach Angaben der WHO ca. 15- bis 20-mal höher liegen als die tatsächliche Suizidrate. Somit sind die aktuellen Umfrageantworten nicht mit den Zahlen aus der Literatur zu Suizid und Suizidalität vergleichbar. Dennoch zeigt die Umfrage, dass fast ein Drittel der Chirurginnen und Chirurgen direkten Kontakt mit dem Thema haben oder hatten. Möglicherweise sind auch die Presseberichte über den Selbstmord einer Ärztin aus Friedrichshafen, die kurz vor der Umfrage erschienen waren, in die Antworten eingeflossen.

Die Antworten sollten aber in einem anderen Kontext gewertet werden: Ärztinnen und Ärzte gelten in Bezug auf Suizidalität als Risikogruppe. Studien zeigen, dass die Rate zwar bezogen auf die Gesamtbevölkerung vergleichbar oder nur gering erhöht sind [1], berücksichtigt man jedoch den sozioökonomischen Status von Ärztinnen und Ärzten, werden die Unterschiede signifikant [2]. Ärztinnen scheinen hier eine besondere Risikogruppe zu sein, obwohl bei nicht-ärztlich Tätigen die Selbstmordraten von Männern deutlich höher liegen [3]. Ursächlich wird eine Vielzahl von Gründen gesehen, inklusive einer signifikant selteneren Nutzung von Hilfs- und Behandlungsangeboten, Angst vor Stigmatisierung und dem Glauben, sich selbst heilen zu können [4].

Diese Zahlen sind nicht neu: Systematische Untersuchungen zum Thema Suizid bei Ärztinnen und Ärzten wurde bereits in den 1960er-Jahren gemacht [5]. Lösungsansätze gibt es bislang nicht. Auch der BDC ist diesem Fakt nachgegangen. In den ersten Umfragen 2008 und 2012, in denen allerdings nur Chirurginnen kontaktiert worden waren, haben nur 12 % der Befragten angegeben, Chirurginnen zu kennen, die Suizid begangen haben oder sich mit dem Gedanken getragen hätten [6]. In der Umfrage von 2021, die sowohl Chirurginnen als auch Chirurgen einbezogen hatte, waren es 23,25 % und aktuell sogar fast 27 % (s. Abbildung) die Kolleg:innen kennen, für die der Freitod eine Lösung ihrer Probleme darstellt [7].

Das Hessische Ärzteblatt gab im Rahmen einer Artikelserie zum Thema Depression 2023 einem langen Artikel zur Suizidprävention Raum, in dem auch auf die spezifische Situation von Ärztinnen und Ärzten aufmerksam gemacht wurde. Auch die Autoren dieses Artikels kamen zu der ernüchternden Erkenntnis, dass die Problematik weder in die Ausbildung von Studierenden noch in spezialisierte Angebote einfließt. Nach wie vor ist die Sorge vor beruflichen Konsequenzen nach dem „Outing“ einer psychischen Erkrankung größer als die selbst wahrgenommene Notwendigkeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen [8]. Ein Suizidversuch erscheint der einzige Ausweg und aufgrund des Fachwissens ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser erfolgreich verläuft, hoch [9].

Die Zahl an Publikationen zur psychischen Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten nimmt zu. Die Datenlage wird dichter, Fakten – wie in der hier vorliegenden Arbeit – sind aufgezeigt. Aber ist Licht am Ende eines langen Tunnels? Eher nicht, denn laut einer Metaanalyse von 54 internationalen Studien aus Nord- und Südamerika, Europa, Asien und Afrika wird die mentale Gesundheit unserer Kolleginnen und Kollegen schlechter – und das um 0,5 % pro Jahr [10]!

Abb. 1: Anteil der Ja-Antworten auf die Frage nach Suiziden oder Suizidalität im Verlauf der BDC- Umfragen von 2008, 2012, sowie 2021 und 2024

Doch wie kann man diesem Zustand begegnen? Zuwarten und zuschauen? Warum haben schon mehr 57 % der befragten Chirurg:innen daran gedacht, den Beruf aufzugeben? 60 % der Befragten geben an, dass sich die berufliche Belastungssituation auf ihre Beziehung auswirkt. Und das nicht im positiven Sinn. Mehr als 20 % führten partnerschaftliche Trennungen auf die beruflichen Belastungssituationen zurück. Die zunehmende Arbeitsverdichtung, der fehlende Freiraum, Sozialkontakte zu pflegen und die emotionale Belastung, die die Chirurgie mit sich bringt, wenn dann ein Eingriff komplikativ oder sogar letal verläuft, führen zu Depressionen, Burnout und Hilflosigkeit und bringen Chirurg:innen an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit.

Umso mehr gilt es, die Thematik offen anzusprechen. Nicht nur, dass bereits im Studium Vorkehrungen getroffen werden müssen, die zukünftigen Mediziner:innen auf das Berufsleben mit seinen Höhen und Tiefen vorzubereiten. Auch im Krankenhaus müssen Grundlagen geschaffen sein bzw. werden, Ärzt:innen zu unterstützen. Das Angebot von Supervisionen, Psycholog:innen als feste Ansprechpartner in und außerhalb von Krisensituationen, Angebote zum Erlernen von Resilienz und Arbeitsbedingungen, die es ermöglichen, einen Schutz gegen hohe Belastungen aufzubauen.

Literatur

[1]   Harvey SB, Epstein RM, Glozier N, Petrie K, Strudwick J, Gayed A, u. a. Mental illness and suicide among physicians. Lancet. 4. September 2021;398(10303):920–30.
[2]   Dutheil F, Aubert C, Pereira B, Dambrun M, Moustafa F, Mermillod M, u. a. Suicide among physicians and health-care workers: A systematic review and meta-analysis. PLoS One. 2019;14(12):e0226361.
[3]   Duarte D, El-Hagrassy MM, Couto TCE, Gurgel W, Fregni F, Correa H. Male and Female Physician Suicidality: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Psychiatry. 1. Juni 2020;77(6):587–97.
[4]   Hawton K, Malmberg A, Simkin S. Suicide in doctors. A psychological autopsy study. J Psychosom Res. Juli 2004;57(1):1–4.
[5]   Pitts FN, Schuller AB, Rich CL, Pitts AF. Suicide among U.S. women physicians, 1967-1972. Am J Psychiatry. Mai 1979;136(5):694–6.
[6]   Ansorg JU, Leschber, Gunda. Chirurgin in Deutschland – Ergebnisse einer Umfrage 2008 – BDC|Online [Internet]. BDC. 2009 [zitiert 21. März 2024]. Verfügbar unter: https://www.bdc.de/chirurgin-in-deutschland-ergebnisse-einer-umfrage-2008/
[7]   Fritze-Büttner F, Kunze C, Mille M. Zufriedenheit und Arbeits (zeit) gestaltung von Chirug: innen in Deutschland–wo stehen wir aktuell? Passion Chir. 2022;12(07/08):Artikel-04_02.
[8]   Landesärztekammer Hessen [Internet]. 2023 [zitiert 13. Juni 2024]. Serie Depression – Teil 3: Suizidprävention. Verfügbar unter: https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/artikel/2023/april-2023/serie-depression-teil-3-suizidpraevention
[9]   Hawton K, Clements A, Simkin S, Malmberg A. Doctors who kill themselves: a study of the methods used for suicide. QJM. Juni 2000;93(6):351–7.
[10] Mata DA, Ramos MA, Bansal N, Khan R, Guille C, Di Angelantonio E, u. a. Prevalence of Depression and Depressive Symptoms Among Resident Physicians: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA. 8. Dezember 2015;314(22):2373–83.

Gumpp J: Hot Topic – Suizidalität bei Chirurginnen und Chirurgen. Passion Chirurgie. 2024 Juli/August; 14(07/08): Artikel 03_03.

BDC-Praxistest: Schwanger? So arbeiten Sie weiter – Mutterschutz neu gedacht!

Vorwort

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Novelle des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) erlaubt Ärztinnen seit dem 1. Januar 2018, auch während der Schwangerschaft weiterhin chirurgische Eingriffe vorzunehmen. Arbeitgeber müssen über eine Gefährdungsprüfung und Anpassung des Arbeitsplatzes nur dafür sorgen, dass der Operationssaal sicher für das ungeborene Kind und die werdende Mutter ist.

Damit wäre dann doch alles geklärt, oder?

Leider nein, leider gar nicht: Trotz Anpassung des MuSchG entspricht die Realität vieler schwangeren Chirurginnen nicht den gesetzlichen Möglichkeiten. Eine Schwangerschaft mündet immer noch viel zu oft über ein ärztliches Beschäftigungsverbot in einen klassischen Karrierebruch. Denn vielen Arbeitgebern erscheint eine Umstrukturierung zu kompliziert und Betriebsärzten mangels Sachkenntnis zu riskant, bundesweit einheitliche Vorgaben fehlen und Gewerbeaufsichtsämter entscheiden weiterhin regional sehr unterschiedlich.

So müssen viele Chirurginnen, die während ihrer Schwangerschaft auch weiter operieren wollen, „ihr Schicksal“ selbst in die Hand nehmen und manchmal sogar erwägen, ihre Schwangerschaft so lange wie möglich vor Kollegen und Vorgesetzten zu verheimlichen.

Der aktuelle Artikel gibt nach unserer Meinung genau den richtigen Überblick, wie die Weiterbeschäftigung von Schwangeren in der Chirurgie ohne Gefährdung von Kind und Mutter gut funktionieren kann.

Spannende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und      

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

„Die Diskriminierung von schwangeren Frauen im ärztlichen Beruf muss enden!“ – So der Appell, der im August 2022 von einer gemeinsamen Initiative des Deutschen Ärztinnenbunds (DÄB), der Initiative „Operieren in der Schwangerschaft (OpidS)”, der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie und dem Verband leitender Krankenhausärztinnen und -ärzte (VLK) in einem Brief an alle Chefärztinnen und Chefärzte gerichtet wurde. Aber was sind die Hintergründe? Nach wie vor ist die Bekanntgabe einer Schwangerschaft gleichbedeutend mit einer sofortigen Umstrukturierung des Arbeitsplatzes, häufiger noch einem unmittelbaren Beschäftigungsverbot. Dabei ist laut einer Umfrage des BDC und der Initiative OPidS 2020 unter fast 2300 Chirurginnen die Hauptmotivation von Schwangeren, ihre Tätigkeit fortzuführen mit über 90 % die Freude am Operieren. [1]

„Hier arbeiten Sie adäquat ärztlich weiter“ – ein Label des Deutschen Ärztinnenbunds

Laut DÄB sehen sich 43 % der Ärztinnen und Medizinstudentinnen in ihrer beruflichen Entwicklung durch die aktuelle praktische Handhabung des Mutterschutzgesetzes behindert [2]. Um dies zu ändern, setzt der DÄB auf Positivbeispiele und erstellt seit Februar eine Liste von Praxen, Krankenhäusern und Kliniken, in denen schwangere Frauen ohne zeitliche und inhaltliche Nachteile während ihrer Schwangerschaft weiterarbeiten können. „Diese Vorbilder im Medizinbereich möchten wir gerne unterstützen. Wir stellen ihnen deshalb einen Button zur Online-Verwendung zur Verfügung, mit dem sie auf ihre besondere Leistung in der Vereinbarkeit von Schwangerschaft und Berufsausübung hinweisen können“, sagt PD Dr. Barbara Puhahn-Schmeiser, Vizepräsidentin des DÄB und gleichzeitig Beauftragte des DÄB-Vorstands für das Thema. Gemeldet werden die Einrichtungen von den Mitarbeitenden. Der DÄB überprüft danach das Vorgehen der Institutionen unter dem Mutterschutzgesetz und der aktuellen Corona-Schutzverordnung. Erfolgreichen Kandidaten winken die Übernahme auf eine Positivliste und der oben genannte Button.

Abb. 1: DÄB-Siegel, mit freundlicher Genehmigung des Ärztinnenbunds. http://www.aerztinnenbund.de

Die Initiative OpidS – seit 2015 aktiv

Viele Ärztinnen wünschen sich während der Schwangerschaft, patientennah und auch operativ tätig zu sein. Und dieser Wunsch ist alles andere als neu: Bereits 2015 wurde von der Initiative OpidS ein Positionspapier erarbeitet und veröffentlicht (http://www.opids.de), das ganz konkret auf potenzielle Gefährdungen im OP, namentlich u.a. Infektionen, Strahlenschutz und Narkosegase, eingeht und Lösungen, z. B. durch die Umgestaltung von Arbeitsplätzen, vorstellt. [3] Bereits damals wurde klar gezeigt, dass ein aktives und patientennahes Weiterarbeiten auch ohne Gefährdung von Mutter und Kind möglich ist. Das Positionspapier und die Initiatorinnen fanden bei der Neufassung des Mutterschutzgesetzes von 2018 Gehör: Eine individuelle Gefährdungsbeurteilung rückt statt genereller Beschäftigungsverbote seitdem in den Fokus.

Abb. 2: Logo Operieren in der Schwangerschaft (opis), mit freundlicher Genehmigung der DGOU und OPidS

Grundsätzlich lässt sich die Frage, ob eine sichere Weiterbeschäftigung, auch aktiv im OP, während einer Schwangerschaft möglich ist, mit einem klaren „Ja“ beantworten, sagt Dr. Maya Niethard, Leiterin der Initiative OPidS sowie der gleichnamigen AG im Verein „Die Chirurginnen e.V.“: Laut §10 Mutterschutzgesetz (MuSchG) ist der Arbeitgeber mit Mitteilung der Schwangerschaft verpflichtet, den Arbeitsplatz der Schwangeren individuell zu prüfen und ggf. anzupassen. Dabei ist nach § 13 MuSchG folgende Rangfolge der Anpassungen des Arbeitsumfelds einzuhalten:

  1. Umgestaltung durch Schutzmaßnahmen,
  2. Einsatz an einem anderen geeigneten, zumutbaren Arbeitsplatz,
  3. betriebliches Beschäftigungsverbot.

Und ganz wichtig: Eine Umgestaltung wie unter 1. gefordert bedeutet übrigens nicht automatisch die Versetzung z. B. in die Ambulanzsprechstunde, sondern vielmehr ein kluges Reflektieren, wie Schwangere z. B. bei elektiven Eingriffen ohne Gasnarkose, ionisierende Strahlung oder Infektionsgefährdung weiter an ihrem eigentlichen Arbeitsplatz eingesetzt werden können. [4]

Betriebliches vs. ärztliches Beschäftigungsverbot

Tatsächlich darf das betriebliche Beschäftigungsverbot als dritte und schärfste Maßnahme nur dann ausgesprochen werden, wenn der Arbeitsplatz nicht angepasst werden kann und so eine „unverantwortbare Gefährdung“ vorliegt. Die Schwangere selbst hat zudem nach § 14 Abs. 2 einen Informationsanspruch auf die Ergebnisse der mutterschutzspezifischen Gefährdungsbeurteilung für ihren Arbeitsplatz. Die Praxis zeigt jedoch, dass diese gesetzlich vorgeschriebene Reihenfolge in den meisten Fällen nicht eingehalten wird. Häufig ist diese Vorgabe den Verantwortlichen gar nicht mal bekannt. Dies belegen die Ergebnisse der bisher größten Online-Befragung Ende 2022 von einem Netzwerk ärztlicher Organisationen, die sich für eine praxisorientierte Umsetzung des Mutterschutzes einsetzen. Zu der gemeinsamen Initiative gehören der Marburger Bund (MB), der Deutsche Ärztinnenbund (DÄB), die Initiative Operieren in der Schwangerschaft (OPidS), die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), der Verband der Chirurginnen (Die Chirurginnen e.V.) und der Verband leitender Krankenhausärztinnen und -ärzte (vlk). Bei 4800 antwortenden Ärztinnen, wurde in > 30% keine individuelle Gefährdungsbeurteilung vorgenommen. [13] So mündet die Bekanntgabe einer Schwangerschaft oft zeitgleich in ein Beschäftigungsverbot – und so hat es sich in den Köpfen aller Beteiligten leider mittlerweile festgesetzt. Mögliche Ursache ist die Scheu vor dem bürokratischen Aufwand einer individuellen Gefährdungsprüfung. Dabei sind bei den Aufsichtsbehörden und auch auf www.opids.de Arbeitshilfen verfügbar, [3] welche die Beurteilung deutlich vereinfachen. Gefährdungsprüfungen sind aber auch sonst kein unbekanntes Verfahren. Anlassunabhängige (allgemeine) Gefährdungsbeurteilungen sind gesetzlich sogar vorgeschrieben, also noch bevor eine Mitarbeiterin überhaupt schwanger ist. Dabei ist die Gefährdungsprüfung seitens des Arbeitgebers nach § 10 MuSchG gesetzlich zwingend, und „pauschale Angaben zur Vermeidung generalisierender Risiken“ verbieten sich. [5, 6] Der Aufwand ist überschaubar, insbesondere wenn für die jeweilige Abteilung bereits eine anlasslose Analyse vorliegt.

Zu unterscheiden sind das betriebliche Beschäftigungsverbot, das auf organisatorische und betriebliche Fragen fokussiert, und das ärztliche Beschäftigungsverbot, das beispielsweise bei problematischer Schwangerschaft physischer oder psychischer Natur ausgesprochen werden kann und muss (§ 16 Abs. 1 MuSchG). Diese beiden Beschäftigungsverbote unterscheiden sich nicht in ihrer Wirkung: Die arbeitsvertraglichen Hauptpflichten ruhen, das Arbeitsverhältnis endet jedoch nicht.

Weitere Faktoren, die im Gesundheitswesen die Aussprache eines pauschalen betrieblichen Beschäftigungsverbots beeinflussen, sind der allgegenwärtige Fachkräftemangel und die dünnen Personaldecken. Aufgrund der vollständigen Kostenerstattung durch die Krankenkassen bei ausgesprochenem Beschäftigungsverbot für eine Schwangere wird die Möglichkeit einer sinnvollen Weiterbeschäftigung teilweise unzulänglich geprüft, da dadurch aus Sicht der Arbeitgeber eine „minderwertige“ Arbeitskraft weiterbeschäftigt wird, die z. B. nicht am Dienstsystem teilnehmen darf. [4] Dabei können gerade aufgrund des herrschenden Fachkräftemangels frei werdende Stellen zurzeit nicht ad hoc nachbesetzt werden und die Weiterbeschäftigung einer eingearbeiteten Schwangeren unter Schutzmaßnahmen erscheint die einzig sinnvolle und juristisch korrekte Lösung. Hier ist eine politische Lösung gefragt, die dem Fachkräftemangel entgegenwirkt und so ein Arbeitsumfeld schafft, der die gefährdungsfreie Weiterbeschäftigung einer Schwangeren ermöglicht. [7]

Schutz der Mutter und des Kindes

Dass die Schutzmaßnahmen des MuSchG sinnvoll sind, zeigt eine aktuell im JAMA of Surgery publizierte Studie, [8] die in den USA bei schwangeren Chirurginnen eine erhöhte Komplikationsrate für Schwangerschaft und Geburt beschreibt. Allerdings hinkt ein Vergleich mit dem deutschen Arbeitsplatz in der Chirurgie: Arbeitsschutzrechtliche Vorgaben, wie sie in Deutschland im Mutterschutzgesetz verankert sind, gelten in den USA nicht. Die in der Studie identifizierten Risikofaktoren (erhöhte Dienstbelastung, überlange OP-Zeiten) werden in Deutschland durch das geltende MuSchG vollständig vermieden und sind auch Bestandteil der individuellen Gefährdungsbeurteilung. Allerdings zeigt die Studie, dass der Umgang mit dem Mutterschutzgesetz so verbessert werden muss, dass Schwangere die Bekanntgabe ihrer Schwangerschaft nicht aus Angst vor Benachteiligung hinauszögern, sondern früh von den sinnvollen Schutzmaßnahmen des profitieren, ohne dadurch Diskriminierung zu erfahren.

Rolle der Aufsichtsbehörden

Ein Problem leitender Ärztinnen und Ärzte ist die oft restriktive Haltung der Aufsichtsbehörden (i. d. R. Gewerbeaufsichtsämter), bei denen häufig die Expertise für den Arbeitsplatz der „Chirurgin“ fehlt. Umso wichtiger ist daher die individuelle Gefährdungsprüfung durch die Abteilung selbst, die in Zusammenarbeit mit dem betriebsärztlichen Dienst erstellt wird, jedoch auch nicht durch diesen allein, denn auch hier fehlt es oft an ausreichender Kenntnis in Fragen der Arbeitsplatzgestaltung. Wichtig: Die Aufsichtsbehörden haben eine beratende Funktion und dürfen kein betriebliches Beschäftigungsverbot aussprechen, auch wenn es in der Vergangenheit Berichte gegeben hat, in denen Aufsichtsbehörden dieses getan haben. Weisungskompetenz gegenüber den Arbeitgebern haben die Behörden nicht, genau hier liegt die Handhabe der leitenden Chirurginnen und Chirurgen in Zusammenarbeit mit ihren schwangeren Mitarbeiterinnen.

Covid-19

Die Änderung des Mutterschutzgesetzes 2018 hat durch die Fokussierung auf die individuelle Arbeitsplatzsituation eigentlich Besserung entsprechend der Risikoeinschätzung für Schwangere erhoffen lassen. Doch die flächendeckende Umsetzung blieb aus: Mit Einsetzen der Covid-19-Pandemie kam eine ganz neue Gefährdung hinzu, aufgrund derer regelmäßig ein unmittelbares pauschales Beschäftigungsverbot für schwangere Ärztinnen und Pflegekräfte ausgesprochen wurde. Zu Beginn der Pandemie war dieses Vorgehen sicherlich richtig. Seit den flächendeckenden Impfmaßnahmen wurden seit Frühjahr 2022 in den meisten Bereichen Infektionsschutzmaßnahmen weitreichend gelockert. Hiervon blieb das „Quasi-Beschäftigungsverbot“ für Ärztinnen jedoch unberührt – mit gravierenden Konsequenzen für deren Aus- und Weiterbildung. Dabei sind flächendeckende Testungen etabliert: Patienten gehen ohne aktuellen PCR-Test in der Regel nicht in den OP-Saal, und es besteht zurzeit eine Impfflicht für medizinisches Personal. Das Risiko einer Tröpfcheninfektion wird durch das obligate Tragen von Masken, das Laminar-Air-Flow-System der Luftanlage im OP und geschlossene Beatmungssysteme minimiert, sodass der Arbeitsplatz im OP-Saal in Bezug auf eine Ansteckung mit Covid-19 zu den sichersten überhaupt gezählt werden kann. [9] Diese Einschätzung wird durch die 09/2022 aktualisierte Empfehlung zur mutterschutzrechtlichen Bewertung von Gefährdungen durch SARS-CoV-2 des Expert:innen-Ausschuss für Mutterschutz unterstützt. [10]

Zusammenfassend ist eine Weiterbeschäftigung von Schwangeren in der Chirurgie ohne Gefährdung von Mutter und Kind definitiv möglich und zwar patientennah und im OP! Daran hat auch die Corona-Pandemie nichts geändert, im Gegenteil: Eine chirurgische Abteilung zählt derzeit diesbezüglich zu den sichersten Arbeitsplätzen. Aufsichtsbehörden dürfen kein betriebliches Beschäftigungsverbot aussprechen. Wir empfehlen eine – auch anlasslose – Gefährdungsprüfung mithilfe der verfügbaren Handreichungen für die eigene Abteilung durchzuführen, die dann die gesetzlich vorgeschriebene individuelle Prüfung im konkreten Fall einer Schwangerschaft erleichtert. Massive Umgestaltungen der Arbeitsplätze sind in aller Regel nicht erforderlich. In der AG OPidS der Chirurginnen e. V. organisieren sich Chirurginnen aller Fachdisziplinen um gemeinsam mit ihren Fachgesellschaften offizielle Positionspapiere/Kataloge zu erarbeiten. Analog zum Positionspapier OPidS der DGOU können diese als Grundlage für die Gefährdungsbeurteilung fachbereichsspezifischer Eingriffe herangezogen werden können. Weit vorangeschritten sind hier z. B. die Urologie [11], Thoraxchirurgie [12] und Kardiochirurgie [14] – weitere Fächer werden folgen. Denn wer sollte die Beurteilung eines Arbeitsplatzes in Bezug auf Gefährdungen klarer beurteilen können als die dort tätigen Ärztinnen und Ärzte?

Abb. 3: DKOU-Logo

Initiativen wie OPidS oder auch der DÄB stehen mit ausführlichen Materialien und beratend zur Verfügung. Zur Unterstützung bei der Suche nach Abteilungen, die Ärztinnen trotz Schwangerschaft patientennahes Weiterarbeiten ermöglichen, können sich Ärztinnen mit noch nicht abgeschlossener Familienplanung am Button des DÄB orientieren. Dieser wurde vor Kurzem erstmalig an diverse Abteilungen verliehen und wird regelmäßig auf dessen Aktualität und Richtigkeit überprüft.

„Bei einer korrekt erfolgten individuellen Gefährdungsbeurteilung gehören pauschale betriebliche Beschäftigungsverbote bald der Vergangenheit an“ – hoffen die Autorinnen …

Weitere ausführliche Informationen unter: www.opids.de und beim DÄB (www.aerztinnenbund.de/Schwangerschaft_und_Mutterschutzgesetz.0.375.1.html)

Literatur

[1]   Fritze-Büttner F, Toth B, Bühren A, Schlosser K, Schierholz S, Rumpel B et al. Surgery during pregnancy – results of a German questionnaire. Innovative surgical sciences 2020;5(1-2):21–6.
[2]   B. Puhahn-Schmeiser B., E. Hennel, C. Gross, H. Raestrup, A. Bühren, M. Mangler. Female physician and pregnancy- Effect of the amended German Maternity Protection Act on female doctors´ careers: in review.
[3]   Niethard M., Donner S. Positionspapier „Operieren in der Schwangerschaft“ www.opids.de.
[4]   Matthiessen-Kreuder U. Das betriebliche Beschäftigungsverbot für schwangere Ärztinnen – ein kritischer Bericht aus der anwaltlichen Praxis. djbZ 2022(3):123–6.
[5]   Kreuder T., Matthiessen-Kreuder U. HK-ArbR. In: Rdnr. 169 zu §§611, 611a BGB.
[6]   Nebe K. Betrieblicher Mutterschutz ohne Diskriminierungen: Die RL 92/85 und ihre Konsequenzen für das deutsche Mutterschutzrecht. 1st ed. Baden-Baden: Nomos; 2006.
[7]   Svenja Krück PF. Der schmale Grat: Ist ärztliches Arbeiten mit dem Mutterschutzgesetz vereinbar? Hessisches Ärzteblatt 2022;11.
[8]   Rangel EL, Castillo-Angeles M, Easter SR, Atkinson RB, Gosain A, Hu Y-Y et al. Incidence of Infertility and Pregnancy Complications in US Female Surgeons. JAMA surgery 2021;156(10):905–15.
9]   Ochmann U, Wicker S, Michels G. Schwangere Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen: Schutz durch Impfen gegen SARS-CoV-2 und Tragen von FFP2-Masken. Medizinische Klinik, Intensivmedizin und Notfallmedizin 2021;116(6):527–9.
[10] Ausschuss für Mutterschutz beim BMFSFJ. Empfehlung zur mutterschutzrechtlichen Bewertung von Gefährdungen durch SARS-CoV-2.
[11] Arnold H, Beck A, Mattigk A, Himmler M, Harke NN, Ostau N von et al. Schwanger in der Urologie! Einschätzungen von Chefärzt:innen und Darlegung haftungsrechtlicher Risiken. Der Urologe. Ausg. A 2021;60(6):746–52.
[12] Klotz L., Metelmann I. et al. Operieren in der Schwangerschaft und Stillzeit (OpidS) in der Thoraxchirurgie – ein interdisziplinäres Konsensuspapier. Zentralblatt Chirurgie 2022(10):eingereicht.[13] https://www.marburger-bund.de/sites/default/files/files/2023-02/Umfrageauswertung_Mutterschutz_2023_final.pdf
[14] Bleiziffer, S., Hanke, J., Färber, G., Martens, S., Mohr, R., Keuder, A., Cleuziou, J., & Niethard, M. (2022). Operieren in der Schwangerschaft: Ein Update der Rechts- und Datenlage für die Herzchirurgie. Zeitschrift Für Herz-,Thorax- Und Gefäßchirurgie, 1–3. https://doi.org/10.1007/s00398-022-00550-6

 

Dr. Julia Gumpp ist Oberärztin Viszeralchirurgie im Klinikum Neumarkt. In ihrer Funktion als Vizepräsidentin der „Chirurginnen e.V.“ engagiert sie sich für einen modernen Mutterschutz ohne Diskriminierungen.
PD Dr. Barbara Puhahn-Schmeiser ist Fachärztin für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. Als Vizepräsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes setzt sie sich dafür ein, dass Ärztinnen trotz Schwangerschaft sicher weiteroperieren können.
Dr. Maya Niethard ist Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurige und leitende Oberärztin in der Klinik für Tumororthopädie im Helios Klinikum Berlin-Buch. Als Leiterin der Initiative Operieren in der Schwangerschaft (OPidS) und Mitglied im Expert:innenausschuss für Mutterschutz kämpft sie für eine medizinisch evidenzbasierte Beurteilung der Mutterschutzkriterien.

Gumpp J, Puhahn-Schmeiser B, Niethard M: BDC-Praxistest: Schwanger? So arbeiten Sie weiter – Mutterschutz neu gedacht! Passion Chirurgie. 2023 März; 13(03): Artikel 05_01.

Leserbrief zu Ärztinnen und Mutterschaft – VDBW-Aktuell-März 2023 und Passion Chirurgie 03/I/2023

Sehr geehrte Frau Kollegin Dr. Groß,

danke für den fachlich äußerst guten und nicht nur unter “Genderaspekten” sehr ausgewogenen, toleranten, und vor Allem weitsichtigen Beitrag (in VDBW-Aktuell-März 2023).

Denn Gleichberechtigung der Geschlechter als eine einzelne von vielen Spielarten von Ungerechtigkeiten kann niemals nur mit Frauen einer Gesellschaft allein erreicht werden.

Und es wäre m.E. töricht natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern, welche als biopsychosoziale Diversität angesehen werden können, in eine völlig geschlechtsneutrale Monokultur umwandeln zu wollen.

Dort wo die Gleichberechtigung von Mann* und Frau* schwach ausgeprägt ist, gibt es in der Regel auch andere begünstigende Faktoren: wie in Deutschland beispielsweise die von Ihnen genannte (patriarchalische) Hierarchie, die meines Wissens militärisch-preußischen Ursprungs ist und kulturhistorisch möglicherweise noch viel weiter zurückzuverfolgen ist.

Als langfristig wenig hilfreich empfinde ich persönlich provokante Beiträge wie aktuell in „Passion Chirurgie“ zum Thema, die das von Ihnen geschilderte patriarchalische und von mir teils als aggressiv empfundene Denken unreflektiert zu übernehmen scheinen. Aber Provokation im Rahmen einer verfassungsrechtlich garantierten freien Meinungsäußerung stimuliert natürlich eine gesellschaftliche Debatte – und das ist auch gut so!

Hier denke ich an einen Beitrag Ihrer Kolleginnen Gumpp, Puhan-Schmeiser, Niethard in „Passion Chirurgie“ 03/23. Hier reden zwei chirurgische Chefärzte bereits im Vorwort herablassend von risikoscheuen „Betriebsärzten ohne Sachkenntnis“ wobei sie bezeichnend- und unzutreffenderweise hier von „ärztlichem“ Beschäftigungsverbot sprechen, obwohl es im Kontext des Beitrages vorrangig um ein individuelles „betriebliches“ Beschäftigungsverbot geht, für welches niemand anderes als sie selbst als Chefärzte in Arbeitgeberfunktion die Verantwortung tragen.

Die Vertreterinnen von OPidS leisten dennoch einen allgemein sehr wichtigen Beitrag zur rechtsstaatlichen Definition des unbestimmten Rechtsbegriffs der „unverantwortbaren Gefährdung“ des Mutterschutzgesetzes.

Aber im Kollektiv der Schwangeren vertreten sie eben halt nur eine -extreme- Minderheit mit einem eingeschränkten Blickfeld auf eine einzelne hochspezialisierte Tätigkeit.

Aus meiner Sicht fehlt hier -anders als bei Ihnen- zum Einen der Blick auf den besonderen Kontext der ärztlichen Weiterbildung und dem Krankenhaus als Arbeitsstätte sowie eine gewisse Selbstreflexion: Chirurginnen sind -ebensowenig wie ihre Chefärzte-eben gerade keine beruflich qualifizierten Expertinnen der -rechtlich und somit nicht immer vernunftsgeprägten-Arbeitsmedizin.

Unter Juristen gibt es übrigens das Sprichwort: „Ein Anwalt, der sich selbst vertritt, hat einen Idioten zum Mandanten“ – dieser derbe Spruch, den ich hier ohne konkreten Bezug frei assoziiere stimmt mich persönlich immer wieder nachdenklich.

Dennoch unterstütze ich natürlich unbedingt die Forderung von OPids nach einer medizinisch evidenzbasierten Beurteilung der „unverantwortbaren Gefährdung“  – aber letztendlich geht am Ende auch um eine Anwendung eines Gesetzes zum pflichtgemäßen gesetzlichen Schutz von ungeborenem Leben, welcher das im allgemeinen gesetzlichen Arbeitsschutz zulässige individuelle Arbeitnehmerrecht auf  „informierte Selbstgefährdung“ einschränkt.

Aber im Rechtsgebiet des gesellschaftlichen Arbeits- und Mutterschutzes geht es letztlich eben auch um andere Berufsgruppen, andere Arbeitsstätten und um einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, der dann nach entsprechender juristischer Bewertung in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zum Mutterschutz berücksichtigt wird.

Berufsgruppen der Erzieherinnen/Lehrerinnen/MFA und der Angehörigen der Pflegeberufe dürften meiner praktischen Erfahrung als Arzt für Arbeitsmedizin mehrheitlich wenig Verständnis für die Haltung von OPidS haben.

Ich persönlich bin davon überzeugt, dass mit Ihrem kooperativen, unaufgeregten Beitrag langfristig in der Sache viel erreicht werden kann – ohne allerdings den etwas schrilleren Töne die Existenzberechtigung absprechen zu wollen – im Gegenteil!

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Jörg Forstner, MBA