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Wenn der Partner nicht mehr entscheiden kann

Eine Person landet im Krankenhaus und ist nicht mehr entscheidungsfähig. Ehepartnern und eingetragenen Lebenspartnern waren ohne Vorsorgedokumente bis vor Kurzem die Hände gebunden. Entgegen der landläufigen Meinung konnten sie keinerlei Entscheidungen darüber treffen, wie ihr Partner behandelt werden sollte. Dieses Szenario stellte auch die behandelnden Ärzte zumindest vor einen moralischen Konflikt. Dem wurde nun Abhilfe geschaffen. Seit dem 1. Januar 2023 ist das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts in Kraft getreten mit grundlegenden Änderungen, die auch Ärzte kennen sollten. Die gesetzliche Regelung verankert ein Vertretungsrecht für Ehepartner und eingetragene Lebenspartner.

Vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung musste für einen volljährigen Patienten, der zustandsbedingt nicht in der Lage war, in eine ärztliche Behandlung einzuwilligen, mit einer zur Vertretung berechtigten Person das ärztliche Aufklärungsgespräch geführt werden. Sofern keine Vorsorgevollmacht erteilt wurde, musste das Gericht einen Betreuer bestellen. Dieses Vorgehen war – anders als in breiten Kreisen der Bevölkerung vermutet – auch bei Verheirateten oder eingetragenen Lebenspartnerschaften erforderlich.

Voraussetzungen bzw. Ausschlussgründe (§ 1358 BGB)

  • Unfähigkeit zur Besorgung eigener Angelegenheiten der Gesundheitsfürsorge infolge Krankheit und/oder Bewusstlosigkeit
  • Die Ehepartner leben nicht getrennt (keine Trennungsabsicht). Wichtig: Sofern ein Ehepartner ohne Trennungsabsicht im Seniorenheim oder aus beruflichen Gründen in einer Zweitwohnung lebt, leben die Eheleute nicht getrennt

Keine positive Kenntnis des behandelnden Arztes oder des (vertretenden) Ehegatten von:

  • Ablehnung der Ehegattenvertretung durch den erkrankten Ehegatten;
  • anderweitiger Bevollmächtigung (zum Beispiel Vorsorgevollmacht) oder gerichtliche Bestellung eines Betreuers in Angelegenheit der Gesundheitssorge
  • Kein Ablauf von sechs Monaten seit dem Eintritt der Unfähigkeit zur Besorgung

Zur Vereinfachung dieser Situation wurde für medizinische Akutsituationen das Recht auf Ehegattennotvertretung geschaffen. Nach der gesetzlichen Regelung können Ehepartner füreinander medizinische Entscheidungen treffen, Behandlungsverträge abschließen und Aufklärungen entgegennehmen, wenn der Ehepartner aufgrund von Bewusstlosigkeit und/oder Krankheit dazu selbst nicht in der Lage ist und für diesen Fall kein bevollmächtigter Vertreter oder gesetzlicher Betreuer zur Seite steht. Die ärztliche Schweigepflicht wird gegenüber dem vertretenden Ehegatten aufgehoben.

Weitere Vorgänge im Zusammenhang mit dem Vertretungsrecht

  • Ärztliche Dokumentation des Eintritts des Vertretungsrechts
  • Schriftliche Zusicherung des vertretenden Ehegatten über Nichtvorliegen von Ausschlussgründen

Das Vertretungsrecht gilt nur in bestimmten Bereichen und ist auf einen Zeitraum von sechs Monaten beschränkt. Das Gesetz sieht Ausschlussgründe (zum Beispiel bei getrennten Ehepartnern) vor. Behandelnde Ärzte haben dem vertretenden Ehegatten bei erstmaliger Ausübung des Vertretungsrechts ein Dokument auszustellen, aus dem sich das Vorliegen der Voraussetzungen für das Vertretungsrecht und der Zeitpunkt, ab dem das Vertretungsrecht gilt, ergibt. Es gibt für die Bescheinigung ein im Internet hinterlegtes Formular „Ehegattennotvertretung“ – ein gemeinsames Muster von Bundeministerium der Justiz, Bundesärztekammer und Deutscher Krankenhausgesellschaft. Das Vertretungsrecht endet, wenn seine Voraussetzungen entfallen, spätestens aber nach sechs Monaten.

UMFANG DES VERTRETUNGSRECHTS

  • Insbesondere: Einwilligung und Untersagung von Untersuchungen, Heilbehandlungen und ärztlichen Eingriffen sowie Entgegennahme der zugehörigen ärztlichen Aufklärung. Erfasst sind nur Behandlungen, die aus medizinischer Sicht notwendig sind, insbesondere Fälle von akuten behandlungsbedürftigen Beeinträchtigungen

Sandra Miller

Rechtsanwältin

Ecclesia Holding GmbH

Unternehmensbereich Schaden, Abteilung Krankenhaus

Ecclesia Holding GmbH

Ecclesiastraße 1-4

32758 Detmold

[email protected]

Chirurgie+

Miller S: Wenn der Partner nicht mehr entscheiden kann. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_09.

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F+A: Anwendung innovativer Behandlungsmethoden im Krankenhaus

Frage:

Ein Chefarzt fragt an, unter welchen Voraussetzungen eine noch nicht anerkannte innovative Behandlungsmethode in einem Krankenhaus zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angewendet werden kann.

Antwort:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann eine Behandlungsmethode im Krankenhaus dann zu Lasten der GKV angewandt werden, wenn die Krankenhausbehandlung dem maßgeblichen Qualitätsgebot (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) entspricht, die vollstationäre Leistungserbringung erforderlich ist (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V) und die Leistungen insgesamt wirtschaftlich (§ 12 Abs. 1 SGB V) erbracht werden. Für nicht anerkannte innovative Behandlungsmethoden hat das BSG nunmehr mit aktuellem Urteil vom 13.12.2022 die Anforderungen konkretisiert (vgl. hierzu und im Nachfolgenden: BSG, Urteil vom 13.12.2022 – B 1 KR 33/21 R, unter: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/2022_12_13_B_01_KR_33_21_R.html):

Eine Behandlungsmethode entspricht immer dann dem Qualitätsgebot, wenn sie im Zeitpunkt der Behandlung entweder durch einen Beschluss des GBA vom GKV-Leistungskatalog umfasst ist oder der Versicherte einen Anspruch auf die Versorgung aufgrund einer Richtlinie (RL) des GBA hat.

Ist beides nicht gegeben, genügt eine innovative Behandlungsmethode den allgemeinen Qualitätsanforderungen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, wenn Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Dies erfordert für die Untersuchungs- und Behandlungsmethoden den vollen Nutzennachweis im Sinne eines evidenzgestützten Konsenses der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 16).

Ist auch diese Anspruchsgrundlage nicht einschlägig, kann sich ein Anspruch auf eine dem Qualitätsgebot nicht entsprechende Leistung zu Lasten der GKV ergeben, wenn die Behandlung die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V erfüllt. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine vom Qualitätsgebot abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 18).

Greift diese Rechtsnorm ebenfalls nicht, kommt letztendlich noch ein Anspruch nach Maßgabe des § 137c Abs. 3 SGB V in Betracht, der das allgemeine Qualitätsgebot teilweise beschränkt und den Anspruch Versicherter auf Krankenhausbehandlung erweitert.

Danach dürfen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der GBA bisher keine Entscheidung, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind, getroffen hat, im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden, wenn sie das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, die Behandlungsalternative also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. An die Stelle des allgemeinen Qualitätsgebots tritt in diesen Fällen somit der Potenzialmaßstab. Dies hat der 1. Senat des BSG bereits mit Urteil vom 25.03.2021 unter Aufgabe seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung entschieden (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 20).

Der Potenzialmaßstab des § 137c Abs. 3 SGB V geht unter den nachfolgend dargestellten Einschränkungen als lex specialis dem allgemeinen Qualitätsgebot aus Sicht des BSG vor. Versicherte haben außerhalb eines auf einer Erprobungs-RL beruhenden Erprobungsverfahrens vor dessen inhaltlicher Konkretisierung Anspruch auf neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nur im Rahmen eines individuellen Heilversuchs, wenn es

1.um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung geht,

2.keine andere Standardbehandlung verfügbar ist und

3.die Leistung das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 21).

Voraussetzung für einen Anspruch Versicherter auf Potenzialleistungen nach § 137c Abs. 3 SGB V ist, dass es sich bei der neuen Methode um eine „erforderliche“ Behandlungsalternative handelt.

Solange eine Standardtherapie zur Verfügung steht und Risiken existieren, die sich aus dem Einsatz innovativer Methoden (nur) mit dem Pozential, nicht aber mit der Gewissheit einer erforderlichen Behandlungsalternative für die Patienten ergeben können, fehlt es an der „Erforderlichkeit“ einer Behandlungsalternative. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie nicht hinreichend durch eine vorläufige Einschätzung des GBA sowie durch besondere Anforderungen an die Struktur- und Prozessqualität abgesichert sind. Eine andere Standardtherapie ist dann nicht verfügbar, wenn alle in Betracht kommenden Standardbehandlungen kontraindiziert sind oder sich als unwirksam erwiesen haben. § 137c Abs. 3 Satz 1 SGB V verlangt, dass die Potenzialleistungen medizinisch indiziert und notwendig sein müssen. Das damit insgesamt angesprochene Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V erfordert bei mehreren zur Verfügung stehenden Behandlungsalternativen, den Weg des gesicherten Nutzens zu wählen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 24). Die Verfügbarkeit einer anderen Standardbehandlung kann einem Versicherten jedoch dann nicht entgegengehalten werden, wenn sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 26). Sie darf jedenfalls nicht nur abstrakt „ins Blaue hinein“ genannt werden, sondern muss auch konkret für die Behandlung gerade dieses Versicherten infrage kommen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 27).

Eine Methode bietet nach Beurteilung des BSG ein hinreichendes Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative, wenn

1.ihr Nutzen mangels aussagekräftiger wissenschaftlicher Unterlagen weder eindeutig belegt noch ihre Schädlichkeit oder Unwirksamkeit festgestellt werden kann,

2.die Methode aufgrund ihres Wirkprinzips und der bisher vorliegenden Erkenntnisse aber mit der Erwartung verbunden ist, dass sie im Vergleich zu anderen Methoden eine effektivere Behandlung ermöglichen kann,

3.die nach den internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin bestehende Evidenzlücke durch eine einzige Studie in einem begrenzten Zeitraum geschlossen werden kann (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 28) und

4.eine Gesamtabwägung der zu erwartenden Vor- und Nachteile von innovativer Behandlungsmethode zur Standardmethode zu Gunsten der innovativen Methode ausfällt (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 36, 37).

Bei Erlass einer Erprobungs-RL durch den GBA ist aus Sicht des BSG regelmäßig von einem Potenzial i.S.d. §§ 137c, 137e SGB V auszugehen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 30).

Hat der GBA noch keine Entscheidung über das Vorliegen des Potenzials einer Behandlungsmethode getroffen, so obliegt nach Meinung des BSG die Entscheidung hierüber dem Krankenhaus sowie der jeweiligen KK als Kostenträger. Die Gerichte können diese Entscheidung umfassend überprüfen. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen wird hierbei nach Ansicht des BSG in der Regel notwendig sein (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 31).

Antwort von Dr. jur. Jörg Heberer:

Justitiar BDC

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht

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Chirurgie+

Heberer J: F+A: Anwendung innovativer Behandlungsmethoden im Krankenhaus. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_10.

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F+A: Streitverkündung im Rahmen eines Arzthaftpflichtprozesses

Frage:

Ein Oberarzt fragt an, ob er einen eigenen Anwalt benötigt, nachdem er nunmehr eine Streitverkündungsschrift in einem Arzthaftpflichtprozess wegen eines Behandlungsfehlers erhalten hat, in dem bereits sein Arbeitgeber als Klinikträger und der Chefarzt als Operateur verklagt wurden. Zudem möchte er wissen, welche Haftpflichtversicherung in diesem Fall greift.

Antwort:

Grundsätzlich sind alle Tätigkeiten, die ein Oberarzt als Mitarbeiter im Rahmen seines Dienstvertrages als Dienstaufgabe übernimmt, in den Haftpflichtversicherungsschutz des Krankenhausträgers einbezogen. Dies gilt auch für Streitverkündungen.

Solange zwischen dem Oberarzt und der Krankenhausleitung beziehungsweise dem beklagten Chefarzt kein Interessenkonflikt besteht, mithin das gemeinsame Interesse in der Abwehr unberechtigter Ansprüche liegt, wird für dieses Verfahren kein eigener Anwalt benötigt. Allerdings sollte über den Arbeitgeber die Haftpflichtversicherung von der Streitverkündung informiert werden und dieser obliegt dann die Entscheidung, ob der Oberarzt dem Streit beitreten oder den Verfahrensausgang abwarten soll.

Sollte einmal eine Interessenkollision zu befürchten sein, beispielsweise, weil greifbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich der Streitverkünder und der Chefarzt gegen den Oberarzt „verbünden“, um eine etwaige Verantwortung rechtlich bei ihm anzusiedeln bzw. dass sich der Chefarzt „zu Lasten“ des Oberarztes verteidigt, sollte aus Sicht des Verfassers der Weg über einen eigenen Anwalt gegangen werden. Im Normalfall dürften jedoch alle beteiligten Ärzte der Klinik ein gleichgerichtetes Interesse dahingehend haben, unberechtigte Ansprüche abzuwehren.

Antwort von Dr. jur. Jörg Heberer:

Justitiar BDC

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht

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Chirurgie+

Heberer J: F+A: Streitverkündung im Rahmen eines Arzthaftpflichtprozesses. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_11.

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Krankenhausreform 2023: Wirklich eine Revolution oder nur dringend notwendige Strukturveränderungen?

Es ist geschafft: Nach monatelangen Diskussionen in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Krankenhausreform 2023 haben sich am 10. Juli 2023 die Gesundheitsminister der Länder, der Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach sowie die Fraktionen der Ampel-Koalition in Berlin mehrheitlich auf die Eckpunkte für diese Reform verständigt. Trotz einiger Kompromisse in dem 15-seitigen Eckpunktepapier, so der prinzipiellen Absage an eine zukünftige Level-Einteilung der Krankenhäuser, sprach Lauterbach erneut wie auch beim Krankenhausgipfel „Spezial“ der deutschen Krankenhausgesellschaft am folgenden Tag von einer „Revolution“ beziehungsweise einem „sehr großartigen Ergebnis“. Die entscheidenden Punkte der Reform, nämlich Entökonomisierung bei Gewährleistung der Versorgungssicherheit, Steigerung der Behandlungsqualität und Entbürokratisierung, könnten nun konkret in einen Gesetzentwurf durch die gemeinsame Bund-Länder-Gruppe unter Mitarbeit von vier Bundesländern über die Sommermonate eingearbeitet werden.

Die bisherigen Fallpauschalen sollen zu 60 % durch Vorhaltevergütungen für bestimmte Leistungen, die vom Krankenhaus angeboten werden, ersetzt werden. Ob sich dadurch wirklich eine Reduktion des ökonomischen Drucks und damit eine Entbürokratisierung erreichen lässt, muss fraglich erscheinen. Generell soll das Erlösvolumen der somatischen Krankenhäuser nicht grundsätzlich erhöht werden, wobei auch für Pädiatrie, Geburtshilfe, Stroke Unit, spezielle Traumatologie, Intensivmedizin und Notfallversorgung zusätzliche Zuschläge vorgesehen sind. Grundlage zur Finanzierung durch die Krankenkassen sollen die im mehrstufigen Ablauf noch genau zu definierenden Leistungsgruppen sein. Orientieren will man sich dabei am NRW-Modell, ergänzt um fünf Gruppen: Infektiologie, Notfallmedizin, spezielle Traumatologie und spezielle Kinder- und Jugendmedizin bzw. -chirurgie. Die Leistungsgruppen, relevant für das Finanzierungssystem, bilden medizinische Leistungen mit bundeseinheitlichen Qualitätskriterien bei Zuordnung von OPS- und ICD-Codes ab.

Auch wenn Bund und Länder bei den Zuordnungen der Versorgungsstufen der Krankenhäuser als Level-Einordnungen keine Einigkeit erzielt haben, wird das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die geplante Transparenzoffensive zur Darstellung der Qualität in den Krankenhäusern mit eigenem Gesetz angehen, wobei sehr wohl eine Level-Zuordnung vorgesehen ist. Bemerkenswert ist, dass die bisher als Level Ii bezeichneten Krankenhäuser jetzt sektorenübergreifende Versorger genannt werden. Eine pflegerische Leitung ist hier möglich, fachliche medizinische Entscheidungen werden nach wie vor ausschließlich ärztlich verantwortet. Diesen Häusern soll eine entscheidende Rolle in der sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung zukommen. Neben allgemeiner stationärer Behandlung sollen unter anderem ambulante-, belegärztliche oder Leistungen des AOP-Katalogs beziehungsweise der Pflege möglich sein. Verwirrend ist der derzeitige Finanzierungsmix, so durch individuelle Tagessätze oder Hybrid-DRGs, die erst zum 1. Januar 2024 durch das BMG eingeführt werden sollen. Entscheidend abzulehnen ist der Plan, das Level-Ii-Krankenhäuser einen wesentlichen Bestandteil der ärztlichen und pflegerischen Aus- und Weiterbildung darstellen sollen. Hier ist sicherlich der Einbezug von Krankenhäusern aller Versorgungsstufen dringend zu fordern, um auch die Vermittlung von Kenntnissen in der Notfall- und Intensivmedizin sowie in vielen anderen Leistungsbereichen mit hoher Komplexität zu gewährleisten.

Viele Fragen, gerade auch hinsichtlich der Ambulantisierung, sind insgesamt trotz Zustimmung zum Eckpunktepapier noch offen, wobei sich alle Beteiligten einig sind, dass ein Scheitern der Reformpläne keine Option sein kann.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Hans-Joachim Meyer

Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgie e.V. (BDC)

Luisenstr. 58/59

10117 Berlin

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Gesundheitspolitik

Meyer HJ: Krankenhausreform 2023: Wirklich eine Revolution oder nur dringend notwendige Strukturveränderungen? Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 05_02.

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Nachhaltigkeit in der operativen Medizin

Das mit dem Paris-Abkommen konforme Restbudget Deutschlands für die Emission von Kohlendioxid-Äquivalenten (CO2e) ist im bisher weitgehend praktizierten Business-as-usual-Szenario in etwa sieben Jahren aufgebraucht [52]. Aufgrund dieser Brisanz hat auch das Autorenteam dieses Artikels unlängst bereits andernorts einige Übersichtsartikel zum Thema publiziert [19, 28, 53], wobei sich die Faktenlage und der Stand der Erkenntnisse zuletzt nur unwesentlich verändert haben. Allerdings zeigen die Durchdringung der Ärzteschaft mit dem Wissen um die klima- und somit auch gesundheitsschädlichen Effekte moderner Spitzenmedizin sowie die Umsetzung von wirksamen Maßnahmen zur Reduktion von Emissionen im Gesundheitssystem mitunter noch Optimierungsbedarf.

Die Folgen des anthropogenen Klimawandels beeinflussen auch in Deutschland längst die Gesundheit und das Leben der Einzelnen [1, 2]. Auf die Akutmedizin – insbesondere die Intensiv- und Notfallmedizin – werden in diesem Zusammenhang zahlreiche Herausforderungen wie die hitzebedingte Zunahme von Myokardinfarkten und Schlaganfällen, Dehydratationen und Nierenschädigung sowie neue oder ungewöhnliche respiratorische und intestinale Infektionserkrankungen und wetterbedingte Großschadensereignisse mit potenziellen MANV-Lagen zukommen [3, 4].

Auch die medizinische Infrastruktur kann hiervon betroffen sein [2]. Erforderliche Anpassungsmaßnahmen der Krankenhausgebäude betreffen vor allem den Hitzeschutz, aber auch die Resilienz gegenüber Überschwemmungen, Maßnahmen zur Reduktion des Energieverbrauchs inklusive Isolation der Gebäudehülle und Erzeugung sowie Nutzung erneuerbarer Energien [5]. Das globale Gesundheitssystem verursacht 4 bis 5 Prozent der Treibhausgas(THG)-Emissionen und übertrifft damit die Summe aus Flug- und Schiffsverkehr [5]. Dieser Einfluss ist in hoch technisierten Gesellschaften derzeit noch höher: In Deutschland addieren sich die Emissionen aus dem Gesundheitswesen auf 0,71 t CO2e pro Kopf und Jahr, was aktuell etwa 7 Prozent der Gesamtemission entspricht [6, 7, 8, 50]. Die energie- und ressourcenintensiven OP-Bereiche und die Intensivmedizin tragen dazu in wesentlichem Umfang bei.

Einige Life-Cycle-Assessments (LCA) wurden im Bereich der operativen Medizin bereits durchgeführt und bilden solide ökologische und ökonomische Entscheidungsgrundlagen [41, 54]. Je nach Wahl des Narkoseverfahrens sind direkte Emissionen durch Inhalationsanästhetika sehr relevant [9, 10]. Es liegt also nahe, zur Erfüllung nationaler Reduktionsziele insbesondere auch im operativen Bereich Einsparmaßnahmen umzusetzen. Der Vergleich verschiedener Gesundheitssysteme zeigt ein immenses Einsparpotenzial: So verursacht eine Katarakt-OP in Indien 6 kg an CO2e-Emissionen, in Großbritannien dagegen 180 kg – bei vergleichbaren Komplikationsraten und Ergebnissen [11]. Aber auch innerhalb eines Landes der „ersten Welt“ sind die unterschiedlichen Klima-Effekte verschiedener Therapien bemerkenswert: Durch dringliche Kaiserschnitte werden je emittierter Tonne CO2e rund 200 gesunde Lebensjahre (disability adjusted life years (DALYs)) gewonnen. Demgegenüber gewinnt man mit derselben CO2-Emission bei Roboter-unterstützten Prostatektomien im Schnitt deutlich weniger als ein gesundes Lebensjahr. Zwischen diesen beiden aus unterschiedlichen Datenquellen berechneten lebensphasenabhängigen und bewusst plakativ ausgewählten Extrembeispielen befindet sich ein Kontinuum, das je nach OP-Methode, Anästhesieverfahren und Standortfaktoren unterschiedlich hohe Emissionen zur Folge hat [11]. So verursacht eine laparoskopische Hysterektomie (HE) beispielsweise 30 Prozent weniger CO2e als eine HE bei Roboter-unterstütztem Vorgehen [54]. Ziel muss letztlich sein, neben einem patienten- und indikationsgerechten Vorgehen auch die Emissionen pro Fall zu reduzieren [9].

Das aktuelle Konsensuspapier des Weltverbands der Anästhesiegesellschaften fordert von Anästhesisten nicht nur den nachhaltigen Umbau von klinischer Versorgung, Forschung und Lehre, sondern auch, dass sie innerhalb ihres nationalen Gesundheitswesens dabei eine Führungsrolle übernehmen sollen [12]. Im deutschsprachigen Raum können Anästhesist:innen durch Umsetzung der Empfehlungen des Forums Nachhaltigkeit in der Anästhesiologie wesentlich dazu beitragen [10, 13] und ihren beruflich bedingten Klimaeinfluss um bis zu 70 Prozent vermindern [14].

Letztlich wird der Weg zur angestrebten Netto-Nullemission aber nur mithilfe von interdisziplinärer und interprofessioneller Zusammenarbeit in Teams gelingen, die durch die jeweilige Führungsebene mandatiert werden: Politische und institutionelle Rahmenbedingungen und Strukturen müssen geschaffen werden, um die Reduktionsziele der Bundesregierung erreichen zu können [35].

So beträgt beispielsweise der Anteil der Narkosegase am gesamten CO2-Fußabdruck der Universitätsklinika Heidelberg und Freiburg lediglich etwa 1 Prozent, wohingegen 75 Prozent auf die Lieferkette entfallen [31, 32]. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung wird die Umsetzung der neuen EU-Richtlinie „Corporate Sustainability Reporting Directive“ (CSRD) sein, die von Unternehmen fordert, einen jährlichen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen [33, 34]. Neben anderen Aspekten muss hierfür zunächst eine CO2-Bilanz berechnet werden. Forschungsgruppen aus Heidelberg und Freiburg haben zu diesem Zweck Footprint-Rechner für Krankenhäuser entwickelt, die aktuell harmonisiert wurden und online zur Verfügung stehen [31, 32, 55]. Die Gesamtemissionen werden dabei in drei Bereiche eingeteilt: Direkte Emissionen (Scope 1) entstehen vor Ort durch Kraftstoffverbrennung oder flüchtige Substanzen (z. B. volatile Anästhetika). Indirekte Emissionen (Scope 2) resultieren aus dem Energiebezug von externen Anbietern (z. B. Strom und Wärme). Scope-3-Emissionen entstehen in der Lieferkette (inkl. Patienten- und Mitarbeitermobilität) und sind in Deutschland derzeit schwierig zu beziffern, da hier noch ein erheblicher Regulierungsbedarf besteht.

Professor Dr. Martin Schuster, Vorsitzender des gemeinsamen Forums Nachhaltigkeit von DGAI und BDA, formuliert es im Deutschen Ärzteblatt so: „England macht es vor: Im letzten Jahr hat der National Health Service 1,3 Megatonnen CO2 eingespart und seine Zulieferer auf die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien verpflichtet“ [15]. Zwar bieten erste Dienstleister auch deutschen Krankenhäusern bereits Hilfestellung auf dem extrem komplexen Gebiet von Ver- und Entsorgung an [16], aber die Dekarbonisierung der Lieferkette erfordert politische Leitplanken, die den Produktherstellern Planungssicherheit bei der Erstellung kostenintensiver Life-Cycle-Assessments (LCA) bieten. Die vorgestellte Systematik der CO2-Emissionen wurde auch in der Studie von McNeill et al. verwendet, die drei universitäre Operationseinheiten international bezüglich ihres Carbon Footprints verglichen hat [9].

Bei den Scope-1-Emissionen sind vor allem Anästhesit:innen gefragt: So konnte die Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin des Universitätsklinikums Augsburg (UKA) durch den Verzicht auf das Narkosegas Desfluran mit Demontage aller Vaporen ab Mitte 2021 [19] eine Einsparung von 261 t CO2e/a (78  Prozent der Scope-1 Emissionen in der OP-Bilanz und 11  Prozent in der Gesamtbilanz) gegenüber dem Vorjahr erwirken und wurde damit als Use-Case in der Abschlusspressekonferenz des KliKGreen-Projekts [17] vorgestellt. Flankierend geht mit dieser Maßnahme eine relevante finanzielle Einsparung durch Minderkosten bei der Verwendung von Sevo­fluran einher. Da der Vapor das Desfluran im gekühlten OP-Saal ununterbrochen auf über 39 °C aufheizen muss, um im Notfall jederzeit einsatzbereit zu sein, kommt zur Ersparnis bei den direkten Emissionen pro Arbeitsplatz außerdem noch die Reduktion des elektrischen Energieverbrauchs in der Größenordnung eines Kühlschranks je Vapor hinzu [20]. Somit können die Scope-2-Emissionen bei fortgesetzter Vorhaltung und weitgehendem Verzicht auf Desfluran die direkten Emissionen sogar übersteigen. Vereinfachend gehen daher aktuelle Berechnungen vom bis zu 50-fachen Treibhauseffekt gegenüber dem Gebrauch von Sevofluran aus [21, 22, 23, 24, 25].

Relevante pharmakokinetische Nachteile konnten wir nach Verzicht auf Desfluran am UKA auch bei adipösen Patienten mit einem BMI über 40 nicht beobachten: Sowohl die Aufwachzeiten als auch die Aufenthaltsdauer im Aufwachraum haben sich seither bei diesen Patienten durch die Verwendung von Sevofluran nicht verlängert [18]. Angesichts der nahezu deckungsgleichen exspiratorischen Eliminationskurven von Sevofluran und Desfluran nach Beendigung der Gaszufuhr bei üblichen Eingriffsdauern ist das allerdings auch nicht zu erwarten [45, 46, 47].

Klimaschonende Alternativen zu Inhalationsanästhesien sind zum einen die total intravenöse Anästhesie (TIVA) und zum anderen die Regionalanästhesie als Monoverfahren [26]. Sherman et al haben Live Cycle Assesments (LCA) für die gängigsten Inhalationsanästhesien sowie für eine Propofolnarkose berechnet und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der Klimaeffekt einer TIVA gegenüber Inhalationsanästhesien praktisch vernachlässigbar ist [27]. Um die Zeit von der Anästhesieeinleitung bis zur Einfahrt in den OP-Saal zu überbrücken, ist es daher sinnvoll, zumindest in dieser Phase Narkosegase durch Propofol zu ersetzen. Das Systemvolumen der Narkosegeräte muss auch für eine kurze Überbrückung komplett mit Gas gefüllt werden, das nach dem Verlassen des Einleitungsplatzes nutzlos in die Atmosphäre entweicht.

Anästhesist:innen der technischen Universität München entwickelten Aufkleber mit QR-Code-Links zu Informationen über das Treibhausgas-Potenzial bei verschiedenen Frischgasflussraten, die über das Forum Nachhaltigkeit von DGAI und BDA zu beziehen sind und an Sevofluran-Vaporen angebracht werden können (s. Abb. 1). Sie sollen bei fehlenden Kontraindikationen die ärztliche Compliance für die Bevorzugung der Minimalfluss-Narkose, der total intravenösen Anästhesie (TIVA) sowie der Regionalanästhesie erhöhen. Selbstverständlich sollten diese Inhalte zusätzlich in klinikinternen Fortbildungsveranstaltungen wiederholt vermittelt werden. Auch speziell für die inhalationsaffine Kinderanästhesie wurden vom Autor dieses Artikels zusammen mit Kolleg:innen aus dem Wissenschaftlichen Arbeitskreis Kinderanästhesie Empfehlungen entwickelt [28], die sich als Ergänzung zu den wertvollen Handlungsanweisungen aus dem Positionspapier des Forums Nachhaltigkeit von DGAI und BDA verstehen [10].

Abb. 1: Sevofluran-Vapor mit Hinweis zur Nachhaltigkeit im UKA; Entwicklung des Aufklebers in der TUM (Desfluran-Vapor deinstalliert)

Durch die Summe dieser Maßnahmen ist ein weiterer Rückgang des Verbrauchs an volatilen Anästhetika und zugehörigen THG-Emissionen am UKA zu erwarten. Der Effekt soll erneut zum Jahresende 2023 bilanziert werden. Bei der Verwendung von Desfluran mit Lachgas (wie in Nordamerika vielerorts noch üblich) anstelle von Sevofluran ohne Lachgas ergibt sich ein sehr hoher Unterschied bei den THG-Emissionen (Scope 1-3) aus dem OP [9]. In klinischen Dosierungen ist das in der Atmosphäre sehr langlebige Lachgas bezüglich seines Klimaeffekts dem Desfluran vergleichbar schädlich [29]. Anlagen für N2O wurden zuletzt in Deutschland bei der Modernisierung von Operationssälen aber meist nicht mehr verbaut – so auch am UKA. Allerdings wird ein Lachgas-Sauerstoff-Gemisch (z. B. Livopan®) in der Geburtshilfe, bei Kindern und von Zahnärzten noch relativ häufig verwendet, wenn kein Anästhesist zur Verfügung steht.

Problematisch ist bei der Verwendung in halboffenen Systemen der hohe Frischgasfluss bei gleichzeitig hoher erforderlicher Konzentration. In einem Kommentar zum Lachgas-Cracking in der Geburtshilfe [37] kommen die Autoren zum Schluss, dass trotz dieses neuen Verfahrens die Applikation von Lachgas die „klimaschädlichste Option ist, um Geburtsschmerzen zu behandeln“ [36]. Eine interdisziplinäre Stellungnahme in der deutschsprachigen Fachzeitschrift „Hebamme“ wird in Kürze folgen. In der Geburtshilfe am UKA wird N2O seit vielen Jahren auch wegen seiner begrenzten analgetischen Potenz nicht mehr verwendet [38]. Alternativ zu Lachgas-Gemischen ist für die Notfallmedizin (aber nicht für die Geburtshilfe) Methoxyfluran zugelassen [43, 44]. Auch hierfür gibt es zum einen besser wirksame Alternativen und zum anderen einen Absorber im Applikationssystem – allerdings ohne die Möglichkeit der (thermischen) Neutralisierung [48, 49].

Ein ähnlich hohes Global-Warming-Potenzial wie Desfluran haben die Fluorkohlenwasserstoffe Norfluran und Apafluran, die als Treibgase in Aerosol-Inhalatoren verwendet werden. Zwar sind die pro Sprühstoß freigesetzten Mengen gering, jedoch hat ein Wechsel auf Pulverinhalatoren bei täglicher Applikation von zwei Sprühstößen den gleichen Effekt wie eine Ernährungsumstellung auf vegetarische Kost [30] und sollte somit zumindest im stationären Setting erwogen werden.

Indirekte positive Effekte auf die Scope-2-Emissionen durch den nachhaltigeren Umgang mit Inhalationsanästhetika betreffen den Verzicht auf Desfluran-Vaporen (s. o.) und das Abschalten der Atemgasfortleitungssysteme (AGFS). Zwar hat sich die Hoffnung auf hohe Recovery-Raten der gängigen Inhalationsnarkotika mittels Aktivkohlefiltern von ZeoSys® in ersten klinischen Studien nicht erfüllt [39], aber der Benefit könnte an anderer Stelle auftreten: im 24/7-Betrieb verursachen die AGFS bis zu 5 t CO2e/Arbeitsplatz im Jahr. Wo ein konsequentes Ausstecken der AGFS-Anschlüsse aufgrund zahlreicher Notfall-Arbeitsplätze nicht praktikabel erscheint, bieten die Narkosegasabsorber die Möglichkeit, auf die AGFS zukünftig ganz zu verzichten [42] und das desorbierte Narkosegas wieder der Verwendung am Patienten zuzuführen [40] – allerdings gibt es hier noch mehrere normative Hürden.

Zwei wirkungsvolle Projekte zur Energieeinsparung sind am UKA derzeit in der Umsetzungsphase: Der Wechsel von Leuchtstoffröhren auf LED-Beleuchtung in den fensterlosen Bereichen des Zentralgebäudes, der sich auch ökonomisch rasch amortisiert, und der Ruhebetrieb der Raumlufttechnik aller nicht benötigten OP-Säle außerhalb der Regelarbeitszeit. Eines der drei OP-Zentren in der CO2-Footprint-Studie von McNeill et al. [9] erreichte durch eine vergleichbare Maßnahme eine Reduktion der THG-Emissionen um 50  Prozent. Jeden einzelnen OP-Saal durchströmen pro Stunde bei aktuellen Lüftungsanlagen, die Keimarmut durch „Laminar Air Flow“ ermöglichen, bis zu 9000 m³ Luft, die gefiltert und klimatisiert (d. h. geheizt oder gekühlt und ggf. befeuchtet) werden muss. Dies ist ein extrem energieaufwendiger Prozess, und so verbrauchen OP-Bereiche pro m² Fläche 3- bis 6-mal so viel Energie wie der Rest eines Krankenhauses.

Für die Beheizung der untersuchten universitären OP-Einheiten war bauartabhängig mit ca. 2.000 bis über 6.000 MWh/a die größte Energiemenge erforderlich, für Lüftung und Kühlung je nach Energieeffizienz der jeweiligen Anlage etwa 500 bis 2.000 MWh/a. Der Energieverbrauch aller weiteren elektrischen Verbraucher im OP (PCs, Beleuchtung, Pumpen, Kauter, Monitoring, Narkosegeräte, Infusions- und Konvektionswärmegeräte etc.) zusammengenommen war demgegenüber praktisch vernachlässigbar [9]. Der Stromverbrauch der Raumlufttechnik der 24 OP-Säle im Zentralbereich des UKA beträgt mit 3.350 MWh/a etwa 10  Prozent des Gesamtverbrauchs des Hauptstandorts und könnte durch einen Ruhebetrieb der außerhalb der Regelarbeitszeit nicht benötigten OP-Säle um gut 1.000 MWh/a bzw. rund ein Drittel reduziert werden, wodurch die Maßnahme nicht nur ökologisch, sondern infolge steigender Energiepreise auch ökonomisch sinnvoll ist. Einspareffekte im Bereich der Fernwärme, die durch reduzierte Raumheizung aufgrund des technisch erforderlichen Temperaturgradienten zwischen OP-Saal und einströmender Luft zustande kommen, sind hierbei noch nicht eingerechnet.

Die Scope 3-Emissionen für Ver- und Entsorgung von Verbrauchsmaterialien lagen in den von McNeill et al. untersuchten Einrichtungen zwischen 536 und 650 t CO2e/a und entsprachen damit einem Anteil von 12 bis 20  Prozent des Gesamt-Footprints der OP-Einheiten [9]. Zweifellos gibt es auf diesem Gebiet ebenfalls ein erhebliches Optimierungspotenzial [13], wofür auch konkrete Handlungsempfehlungen im Positionspapier von DGAI und BDA ausgesprochen werden [10]. Allerdings erfordern wirkungsvolle Umstellungen im Gegensatz zu den vorgenannten Maßnahmen bei der Vielzahl von eingesetzten Produkten regelhaft zahlreiche kleinschrittige, detailtiefe und aufwendige Einzelentscheidungen, die außerdem interprofessionell und interdisziplinär abgestimmt werden müssen. Da LCA für die meisten Produkte nicht verfügbar sind, werden Kaufentscheidungen bisher im Wesentlichen wirtschaftlich begründet.

Das Universitätsklinikum Heidelberg hat mittels der Top-down-Methode (wobei von den Produktkosten auf die THG-Emissionen geschlossen wird) seine Scope-3-Emissionen überschlagen und kommt zu dem Ergebnis, dass sie mit 172.500 t CO2e/a 3-mal so hoch sind wie die Scope-1- und Scope-2-Emissionen zusammen [31]. In Europa und in den USA ist durch einen relativ hohen Anteil erneuerbarer Energien im Gegensatz zu Australien der Fußabdruck wiederverwertbarer Materialien gegenüber Einwegmaterialien günstiger. Dies gilt insbesondere für OP-Kittel und Abdecktücher sowie für Laryngoskope, Bronchoskope, Larynxmasken und Tabletts für Anästhesiemedikamente [41]. Durch die sinnvolle Packung von Abwaschsets für Katheter-Anlagen sowie die Nutzung von Fertigspritzen, die dem tatsächlichen Bedarf entsprechen, lassen sich die Scope-3-Emissionen im OP weiter verringern [10]. Aber auch hygienische Vorgaben müssen immer wieder bezüglich ihrer tatsächlichen Effekte auf die Patientensicherheit, die Mitarbeitergesundheit und ihren Umwelteinfluss untersucht und optimiert werden [51].

Projekte zur Dekarbonisierung relevanter Scope-3-Posten wie der Patienten- und Mitarbeitermobilität sowie der Speiseversorgung müssen interprofessionell angegangen werden und betreffen das gesamte Krankenhaus. Der Footprint pro Klinikbett oder pro Operation profitiert allerdings von solchen Bemühungen ebenfalls in sehr hohem Maße – wie beispielsweise in der CO2-Klimabilanz des UK Freiburg bereits vorbildlich berechnet (Abb. 2).

Fazit für die Praxis

Abb. 2: CO2-Klimabilanz des Universitätsklinikums Freiburg 2019, modifiziert nach [32]

Folgende Fragen sollten in jeder operativ tätigen Einheit zum Erreichen einer erhöhten ökologischen Nachhaltigkeit geklärt werden:

1.Welche Inhalationsanästhetika werden am Standort verwendet und sind Alternativen oder gar ein weitgehender Verzicht denkbar?

2.Wird das Atemgasfortleitungssystem am Ende des OP-Tages ausgesteckt und könnte evtl. ganz darauf verzichtet werden zugunsten von Narkosegasabsorbern mit nachgeschaltetem Recycling?

3.Wird die Raumlufttechnik am Ende des OP-Tags in den Ruhebetrieb versetzt oder abgeschaltet?

4.Ist der Bezug oder die Produktion von grüner Energie (Strom, Wärme) möglich?

5.Ist eine Reduktion von oder ein Verzicht auf Einweg-Materialien (Abdecktücher, OP-Kittel bzw. -Hauben etc) möglich? Gibt es bei den Verbrauchsmaterialien bereits CO2-neutrale Produkte?

6.Wie viel CO2 kann im Bereich der Mitarbeiter-Mobilität durch moderne Konzepte wie Jobrad, Jobticket, Ladeinfrastruktur für E-Mobilität, Mitfahrportale, bessere Anbindung und Taktung des ÖPNV, Home-Office und Verzicht auf (internationale) Kongressreisen eingespart werden?

7.Gibt es Möglichkeiten, Patienten prästationär bzw. präoperativ ohne körperliche Anwesenheit oder zumindest innerhalb eines Termins komplett aufzuklären (Digitalisierung, Telemedizin)?

8.Lassen sich durch die Optimierung von Abläufen vor allem bei ambulanten Kurzeingriffen Material und OP-Zeit einsparen?

9.Ist eine regionale, ökologische und fleischreduzierte Speiseversorgung („planetary health diet“) für Patienten und Mitarbeiter umsetzbar?

10.Wie ökologisch/gerecht ist die bestehende Ressourcenallokation individualmedizinisch und in Bezug auf die Gesundheit der Gesamtbevölkerung und wo wollen wir hin?

11.Verfügt die medizinische Einrichtung über einen Hitzeschutzplan mit medizinischem Schulungskonzept und technischen Schutzmaßnahmen? Wird dieser Aspekt bei der Planung von Neubauten sowie bei Umbau- und Renovierungsmaßnahmen berücksichtigt?

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Korrespondierende Autorin:

Dr. med. Daniel Bolkenius

Stellvertretender Bereichsleiter Kinderanästhesie

Stellvertretender Sprecher UMAGG
(University Medicine Augsburg goes
green), Klimamanager (KlikGreen)

Klinik für Anästhesiologie und
Operative Intensivmedizin

Universitätsklinikum Augsburg

[email protected]

Prof. Dr. Axel R. Heller MBA DEAA

Direktor der Klinik für Anästhesiologie
und Operative Intensivmedizin

Universitätsklinikum Augsburg

Prodekan der Medizinischen Fakultät
an der Universität Augsburg

Universitätsklinikum Augsburg

[email protected]

Dr. Renate Linné

Stv. Kaufmännische Direktorin
Leitung Stst. Medizin und Gesellschaft
Sprecherin, UMAGG (University Medicine Augsburg goes green)
Universitätsklinikum Augsburg

[email protected]

Chirurgie

Bolkenius D, Heller AR, Linné R: Nachhaltigkeit in der operativen Medizin. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 03_01.

Alle Artikel zum Thema „Nachhaltigkeit“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen|Panorama|Nachhaltigkeit.

Ressourcen sparen, Prozesse optimieren – Ein Beispiel aus der Thoraxchirurgie

Aktuell ist es wichtiger denn je, auch im eigenen Arbeitsumfeld nachhaltige und klimaschonende Bedingungen zu optimieren. Neben dem sparsamen Umgang mit Energiequellen sowie der Reduktion von Verbrauchsmaterial und Verpackungen ist die Optimierung von Abläufen zur Müllentsorgung ein relevanter Faktor zum nachhaltigen und auch kostensparenden Arbeiten im Klinik- und Praxisalltag. Im konstruktiven, interdisziplinären und interprofessionellen Austausch mit allen beteiligten Berufsgruppen können wir so gemeinsam einen leicht umsetzbaren Beitrag zur Optimierung der Abfallwirtschaft leisten.

Am Ende jeder Operation müssen regelhaft mehrere Säcke Müll entsorgt werden. So fallen beispielsweise bei einem orthopädischen Eingriff durchschnittlich 12,4 ± 8,6 Kilogramm Müll an [1]. Meist aus Unwissenheit wird dieser in den meisten Häusern immer noch unsortiert einer Müllverbrennungsanlage zugeführt. Dabei bergen Veränderungen im Entsorgungsprozess für den Weg zur Kreislaufwirtschaft ein großes Potenzial und sind durch interprofessionelle Zusammenarbeit zügig und effizient realisierbar.

Recyclingverfahren

Um im Krankenhaus einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten zu können und gleichzeitig die gesetzlichen Forderungen zur Abfallabgabe einzuhalten, sollte ein möglichst großer Anteil des anfallenden Mülls im Krankenhaus einer stofflichen Verwertung zugeführt werden [2]. Hierzu muss der anfallende Müll lediglich in die unterschiedlichen Fraktionen aufgetrennt und einem gezielten Recyclingverfahren zugeführt werden.

In unserer täglichen Arbeitsroutine in Praxis und Klink, vor allem in der Operationsabteilung, fällt durch unsere hohen Anforderungen an Sterilität und Sicherheit insgesamt eine relevante Menge an sauberem, potenziell recyclebarem Müll an. Durch diverse Sterilverpackungen für separat eingepackte Materialien und Einwegprodukte wie Klammernahtgeräte oder Versiegelungsinstrumente (High Energy Devices) besteht hier ein großes Potenzial, diese beeindruckende Müllmenge gezielt zu entsorgen und einem Recyclingprozess zuzuführen.

Da die Entsorgung von Restmüll, sogenannter haushaltsähnlicher Gewerbeabfall, in den meisten Regionen nach Gewicht abgerechnet wird, kann das Krankenhaus durch die getrennt gesammelten Verpackungen und ihre Abgabe in ein Recyclingverfahren zudem relevante Kosteneinsparungen erzielen.

Einmalprodukte im Klinikalltag

In den letzten Jahren sind im Klinikalltag viele Mehrwegprodukte auf Einmalprodukte umgestellt worden, um die hohen Anforderungen an Sterilität und Sicherheit bei gleichbleibender Qualität und Versorgungssicherheit zu erfüllen [3]. Daher sollte es unser vordringlichstes Ziel sein, möglichst viele der gebrauchten Einmalprodukte einem Recyclingprozess zuzuführen. In deutschen Kliniken wird der Müll jedoch meist komplett in einer Müllverbrennungsanlage entsorgt. Grund hierfür ist die Annahme einer möglichen Infektiosität, sodass der vermeintlich sichere und praktischere Weg zur Entsorgung gewählt wird. Bezugnehmend auf definierte Kriterien zum infektiösen Müll nach § 17 Infektionsschutzgesetz sind jedoch nur etwa 5 Prozent des Klinikmülls wirklich als infektiös einzustufen und müssen verbrannt oder anderweitig sterilisiert werden [1]. Der restliche Müll kann analog zum haushaltsähnlichen Gewebeabfall entsorgt werden.

Um einen Beitrag zur Nachhaltigkeit und Klimaschonung setzen zu können, soll am Beispiel eines interprofessionellen Projekts dargestellt werden, wie die Abfallwirtschaft in der Thoraxchirurgie der Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg kritisch evaluiert wurde, um Prozesse zu optimieren.

Von Einmalinstrumenten zurück zum chirurgischen Instrumentarium

Zur Anlage einer Thoraxdrainage wurde das chirurgische Instrumentarium in der gesamten Klinik vor einigen Jahren auf Einmalinstrumente umgestellt. Wie in vielen anderen klinischen Bereichen auch, sollten hierdurch die Kosten der Sterilisation bei weiterhin höchsten Anforderungen an Sterilität und Materialqualität reduziert werden.

Neben den Einmalinstrumenten beinhalten die Sets eine Abdeckung und Verbandmaterial. Die Qualität der Einmalinstrumente war jedoch insgesamt nicht optimal, sodass in den meisten Fällen eine separate Präparierschere aus dem chirurgischen Instrumentarium genutzt wurde. Hierdurch entstand neben dem Metallabfall ein zusätzlicher Kostenfaktor.

Nach interprofessioneller Diskussion wurden die Einmalinstrumente nun wieder auf ein Set aus resterilisierbaren und qualitativ hochwertigen chirurgischen Instrumenten umgestellt. In der Thoraxklinik wurden beispielsweise im Jahr 2022 insgesamt 199 Anlagen einer Thoraxdrainage als selbstständiger Eingriff durchgeführt.

Obwohl die Erstanschaffung der chirurgischen Instrumente kostenintensiv ist, zeigt sich durch Müllvermeidung und Kosteneinsparung ein Soforteffekt, da relevante Mengen an Metallschrott nicht mehr im Restmüll verschwinden müssen und Materialsets im Einkauf eingespart werden. Eine relevante Mehrbelastung für die Sterilisationsabteilung zeigt sich aktuell nicht.

Maßnahmen zur Müllvermeidung und nachhaltigen Müllentsorgung im Operationssaal

  • Nur infektiöse Abfälle auch als solche entsorgen
  • Materialien ohne Patientenkontakt möglichst wiederverwenden
  • Recyclingkonzepte im OP etablieren
  • OP-Siebe nur mit regelmäßig verwendeten Instrumenten bestücken
  • Ablaufdaten von Materialien beachten
  • Mehrwegartikel und recyclebare Einwegartikel bevorzugen

Etablierung eines neuen Entsorgungskonzepts

Ein Großteil des anfallenden Mülls lässt sich im Operationssaal jedoch nicht vermeiden, sodass der gesamte Entsorgungsprozess bezüglich des Optimierungspotenzials betrachtet wurde. Bisher wurde sämtlicher Müll der Entsorgung über graue Säcke (Restmüll) zugeführt. Gemeinsam mit dem Qualitätsmanagement und der Abfallbeauftragten wurde daher ein neues Entsorgungskonzept für die werkstoffliche Verwertung wiederverwertbarer Materialien erarbeitet. Mit großem persönlichem Einsatz der Mitarbeitenden startete das Projekt im Herbst 2022.

Nach interdisziplinärer und interprofessioneller Schulung der Kollegen und Kolleginnen aus Reinigungspersonal, OP-Pflege und ärztlichem Personal wurde zunächst eine Mülltrennung im Rahmen der OP-Vorbereitung etabliert. Hierzu müssen die einzelnen Verpackungen vor der Entsorgung in die einzelnen Bestandteile (meist Papier und Plastik) aufgetrennt werden. Im Rüstraum der OP-Tische und im Operationssaal wurden hierfür neue, gut beschriftete Entsorgungsständer für Plastik und Papier implementiert.

Durch die neue Sortierung konnte der anfallende Restmüll zügig halbiert werden, sodass in der thoraxchirurgischen Abteilung eine Reduktion des Restmülls von 1400 Liter auf 700 Liter pro Wochentag bei durchschnittlich 10 Operationen erreicht werden konnte. Bezogen auf das Arbeitsjahr mit 230 regulären Arbeitstagen kann der anfallende Restmüll somit von bisher 322.000 Litern auf 161.000 Liter reduziert werden. Während einer Operation fällt durch das Öffnen von Verpackungen, beispielsweise für Klammernahtgeräte, OP-Kittel und Nahtmaterial, zudem viel sauberer Müll aus Plastik und Papier an. Dieser wird nun ebenfalls in gut beschrifteten Säcken zur Entsorgung sortiert.

Durch kritisches, konstruktives Mitdenken konnte die Größe des Restmüllbehälters für kontaminierten Abfall ebenfalls schrittweise und aktuell nahezu halbiert werden. Bei durchschnittlich 10 Operationen pro Wochentag in unserer thoraxchirurgischen Abteilung wurde die Menge an potenziell kontaminiertem Restmüll in den letzten fünf Monaten bereits von 300 Litern auf 170 Liter reduziert. Perspektivisch ergibt sich hierdurch eine Reduktion der kontaminierten Müllmenge im Jahr (bei 230 regulären Arbeitstagen) von 69.000 Litern auf 39.100 Liter. Sicherlich bestehen hier in den nächsten Monaten noch weitere Optimierungsmöglichkeiten.

Durch die Verpackung des Nahtmaterials fällt im Klinikalltag zudem Aluminiumabfall an. Das Aluminium kann über den Wertstoffhof einem Recyclingprozess zugeführt werden. In unserer Abteilung konnten wir in den letzten Monaten bereits sechs Kilogramm Aluminium sammeln.

Durch die erfreulicherweise deutliche Reduktion des normalen und potenziell kontaminierten Restmülls zeigen sich für die Klinik zudem Kosteneinsparungen. Auch wenn sich alle Kliniken vertraglich dazu verpflichten, der städtischen Müllverbrennungsanlage eine bestimmte Menge an Restmüll zuzuführen, überschreiten wir die verpflichtende Müllmenge in unserer Klinik aktuell noch deutlich. Wahrscheinlich trifft dies auf die meisten Kliniken zu, sodass es ein Leichtes sein sollte, die eigenen Entsorgungsprozesse kritisch zu hinterfragen.

Fazit

Einführung und Umsetzung des neuen Entsorgungskonzepts waren kein ganz einfacher Weg. Durch Schulungen, mehrfache interprofessionelle Gespräche und konstruktive Diskussionen im Prozess konnten die meisten Vorbehalte und auch Ängste der Mitarbeitenden ausgeräumt werden. Vor allem war es einigen Kolleginnen und Kollegen wichtig, die strikte Trennung des anfallenden Mülls in der Notfallsituation nicht konsequent einhalten zu müssen. Erfreulicherweise haben die Kollegen und Kolleginnen der Anästhesie bereits begonnen, das beschriebene Müllkonzept nun auch in ihrem Arbeitsalltag umzusetzen. Insgesamt ist die Motivation des gesamten Teams überraschend groß, weitere nachhaltige Konzepte im klinischen Alltag zu erarbeiten und zu etablieren.

Literatur

[1]   Kabir K, Gathen M, Goost H et al., Abfallaufkommen nach orthopädisch-unfallchirurgischen Operationen. Z Orthop Unfall 2020; 158(01): S241-242. doi:10.1055/s-0040-1717597

[2]   Wu S, Cerceo E. Sustainability Initiatives in the Operating Room. Jt Comm J Qual Patient Saf. 2021;47(10):663-72. doi:10.1016/j.jcjq.2021.06.010.

[3]   Balch JA, Krebs JR, Filiberto AC, Montgomery WG, Berkow LC, Upchurch GR, Jr. et al. Methods and evaluation metrics for reducing material waste in the operating room: a scoping review. Surgery. 2023. doi:10.1016/j.surg.2023.04.051.

Korrespondierende Autorin:

Dr. med. Laura V. Klotz

Oberärztin der Abteilung für Thoraxchirurgie

Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg

Röntgenstraße 1

69126 Heidelberg

[email protected]

Laura Blaumann

Stellv. Leitung OP-Funktionsdienst

Abteilung für Thoraxchirurgie

Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg

Univ.-Prof. Dr. med. Hauke Winter

Chefarzt der Abteilung für Thoraxchirurgie

Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg

Ines Bayer-Schneider

Leitung OP-Funktionsdienst

Abteilung für Thoraxchirurgie

Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg

Chirurgie

Klotz LV, Blaumann L, Winter H, Bayer-Schneider I: Ressourcen sparen, Prozesse optimieren – Ein Beispiel aus der Thoraxchirurgie. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 03_02.

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Gendermedizin: Individuelle Therapie berücksichtigt auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern

Die Münchener Gefäßchirurgin Dr. Kerstin Schick hat mit ‚Venusvenen‘ einen Ratgeber verfasst, der Frauen mit den Besonderheiten ihres Gefäßsystems vertraut machen soll. Der Bedarf an Aufklärung ist groß. Aus ihrer Sicht sollten auch in der Gefäßmedizin geschlechterspezifische Besonderheiten in den Praxisalltag integriert werden.

Dr. Kerstin Schick ist seit fast zehn Jahren in ihrer phlebologischen Praxis in München tätig und behandelt Männer und Frauen mit Gefäßproblemen oder Gefäßfragestellungen. Sie weiß: Frauen haben einen anderen Blickwinkel auf ihren Körper, stellen teilweise ganz andere Fragen, weil ihnen andere Themen wichtig sind. Außerdem spielen hormonelle Veränderungen im Leben von Frauen eine große Rolle und haben auch gravierenden Einfluss auf ihre Gefäße.

Anja Thiel Das Thema ‚Gendermedizin‘ existiert nun schon seit über 30 Jahren. Muss man im Jahr 2023 wirklich noch immer auf diese Aspekte hinweisen oder ist die geschlechterspezifische Behandlung nicht längst Teil unseres medizinischen Alltags?

Kerstin Schick Es stimmt, dass die Gendermedizin tatsächlich schon ein ‚alter Hut‘ ist. Hat doch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits in den 1980er- Jahren damit begonnen, sie zu thematisieren. Sie wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten auch immer populärer. Und eigentlich sollten heute frisch approbierte Ärztin oder Ärzte wissen, dass es unabdingbar ist, den Einfluss des Geschlechts in der Prävention, der Diagnostik und Therapie in jedem Fachbereich zu berücksichtigen.
Der aktuell gelebte Alltag der Medizin sieht allerdings nach wie vor anders aus. Je nach Fachrichtung wird auf die Frage des Geschlechts im Praxisalltag kaum Rücksicht genommen. Und auch Forschungsschwerpunkte berücksichtigen die Aspekte der Gendermedizin selten vorrangig. Dabei spielen bei der Behandlung des Menschen neben biologischen Faktoren des Geschlechts auch unterschiedliche psychosoziale Betrachtungsweisen bezüglich des eigenen Körpers, der Erkrankung und des Genesungsprozesses eine entscheidende Rolle. Obwohl es viele erfreuliche Ausnahmen gibt, ist es weiterhin dringend notwendig, über eine geschlechterspezifische Medizin zu diskutieren und zu forschen.

AT Als einer der entscheidenden Faktoren in der Gendermedizin gelten hormonelle Einflüsse. Wie wirken sich weibliche Hormone auf die Gefäßgesundheit aus?

KS  Weibliche Sexualhormone, allen voran das Östrogen, haben einen großen Einfluss auf unsere Gefäße. Sie wirken zum einen auf die Elastizität der Gefäße: Venen werden erweitert, der Blutfluss verlangsamt, sie können die Entstehung der Varikose beeinflussen, Ödeme provozieren, das Thromboserisiko verstärken. Östrogen hat daneben aber auch einen gefäßprotektiven Effekt, der dazu beiträgt, dass Frauen vor der Menopause deutlich seltener arterielle Durchblutungsstörungen entwickeln.

AT Sind die gefäßchirurgischen Leitlinien und Behandlungsschemata deshalb bei Frauen eigentlich obsolet? Braucht es geschlechtsspezifische Leitlinien?

KS  Das ist eine sehr berechtigte Frage. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir eine differenzierte Ausarbeitung unserer medizinischen Leitlinien unter Berücksichtigung geschlechterspezifischer Besonderheiten erarbeiten werden. Nicht nur in der Gefäßchirurgie, sondern in allen Fächern. Die Grundlage hierfür bilden die bisherigen und zukünftigen Forschungsarbeiten. Wir müssen dabei die richtigen Fragen stellen, um auf diesem Weg voranzukommen. Hätte in der Automobilbranche niemals jemand hinterfragt, ob der Airbag eigentlich auch für Frauen perfekt funktioniert oder nur dem männlichen Crashtest-Dummy angepasst wurde, würden noch heute hauptsächlich Männer von der Aufprallschutzvorrichtung profitieren.

AT Bei welchen konkreten Indikationen zeigen sich bei Frauen andere Symptome und Krankheitsverläufe als bei Männern?

KS  In der Gefäßmedizin gibt es einige interessante Fragestellungen, die sich bei Frauen und Männern unterscheiden, wie zum Beispiel die Thematik der Thrombose. Bei Frauen spielt der Einfluss der Hormone ja eine viel größere Rolle, sei es unter hormoneller Kontrazeption, peripartal oder unter Hormonersatztherapie zur Behandlung ihrer Wechseljahrebeschwerden: In all diesen hormonell beeinflussten Lebensphasen durchläuft die Frau ein deutlich erhöhtes Risiko für ein thrombembolisches Ereignis. Keines davon erlebt der männliche Patient.
Ein weiteres interessantes Gebiet stellt außerdem die periphere arterielle Verschlusskrankheit (paVK) dar. Insgesamt entwickeln signifikant mehr Männer als Frauen eine paVK. Wenn man aber die Alterseinteilungen differenziert betrachtet, dann gibt es Altersgruppen, in denen die Frauen die Männer zahlenmäßig sogar überholen. Vor den Wechseljahren profitieren Frauen von der gefäßprotektiven Wirkung des Östrogens. Nach Durchlaufen des Klimakteriums hat sich der Hormonstatus der Frau verändert und der Effekt des Gefäßwandschutzes lässt nach. Wenn Frauen dann noch Raucherinnen sind oder mit Hypertonie, Diabetes oder Hypercholesterinämie leben, wird es auf einmal sehr wahrscheinlich, dass sich eine Arteriosklerose bzw. eine Verschlusskrankheit entwickelt. Gerade diese Patientinnen benötigen daher eine optimale medikamentöse Betreuung und Aufklärung.

AT  Wie geht es Ihren Patientinnen damit, dass sie anders behandelt werden als männliche Patienten?

KS  Das Ziel einer geschlechterspezifischen Medizin sollte nicht sein, Frauen bewusst zu machen, dass sie unterschiedlich behandelt werden. Entscheidend ist grundsätzlich immer die individuelle Behandlung und den einzelnen Menschen wahrzunehmen, egal ob Patient oder Patientin.

AT Wie steht es um die Akzeptanz gendermedizinischer Aspekte bei den (gefäß)chirurgischen Kolleginnen und Kollegen?

KS  Erfahrungsgemäß können meine weiblichen Kolleginnen mit dem Thema geschlechterspezifische Medizin deutlich mehr anfangen als meine männlichen Kollegen. Vielleicht verstehen Ärztinnen diese Aspekte deshalb besser, weil sie sich selbst als Patientinnen auch mal in der gleichen Situation wiederfinden.
Ich treffe aber auch auf viele Männer, die das Thema Gendermedizin aufgreifen wollen und sich für die Aspekte interessieren. Wichtig ist zu betonen, dass es nicht darum geht, Frauen zu bevorteilen. Gendermedizin heißt, für alle – also auch für die Männer – eine individuell passende Medizin zu betreiben, die auch geschlechterspezifische Gesichtspunkte beinhalten sollte – bei Männern genauso wie bei Frauen.

AT Was hat Sie bewogen, ein Ratgeberbuch zum Thema zu schreiben?

KS  Viele Patientinnen kommen mit großer Unsicherheit und Fehlinformationen in die Praxis. Da gibt es übermäßige Ängste genauso wie das Ignorieren ernstzunehmender Symptome. Schuld ist nicht selten ‚Doktor Google‘, der die Frauen in die Irre führt. Ich hatte vor einem Jahr daher den Wunsch, die Erfahrungen aus meiner täglichen Patientinnenbetreuung in einem Buch niederzulegen und damit auch jene Frauen zu erreichen, die sich nicht in meiner Praxis vorstellen. Es geht dabei darum, Ängste im Zusammenhang mit Gefäßerkrankungen abzubauen, aber auch, die Leserin zu informieren und zu sensibilisieren für die eigenen Beinprobleme, Tipps und Tricks aus dem Alltag zu vermitteln und die Frauen in ihren Bedürfnissen zu erkennen.

Für viele Frauen sind ihre Beine eine Problemzone. Krampfadern, Besenreiser, kalte Füße, Schweregefühl oder Schmerzen belasten sie. Gleichzeitig gelten für Beine besondere Schönheitsideale, die nicht alle Frauen erfüllen. In ihrem Ratgeberbuch nimmt die Autorin ihre Leserinnen mit auf eine Reise durch das Gefäßsystem und schildert an konkreten Beispielen, warum Frauenbeine anders sind als Männerbeine – und welche Diagnostik und Therapie sie benötigen..

‚Venusvenen‘ erschien im Februar 2023 im Bastei Lübbe Verlag und kostet als Taschenbuch 18 Euro. 

Zur Person

Dr. Kerstin Schick ist Fachärztin für Gefäßchirurgie und Phlebologie und engagiert sich berufspolitisch u. a. als Vorsitzende des Berufsverbands der Phlebologen, in der Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Gefäßchirurgen und Gefäßmediziner, der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie. Sie ist auch Präsidiumsmitglied im Bundesverband Ambulantes Operieren (BAO). Im Berufsverband der Deutschen Chirurgie verstärkt sie das Themenreferat „Presse- und Öffentlichkeitsarbeit“ und ist stellvertretende Leiterin des Landeverbandes in München.

Erstveröffentlich im CHIRURGENMAGAZIN BAO DEPESCHE, dem Organ des Berufsverbands Niedergelassener Chirurgen (BNC) und des Bundesverbands Ambulantes Operieren (BAO), Heft 107 | Jahrgang 21 | Ausgabe 1 – Februar 2023 | www.bncev.de | www.operieren.de.
 

Das Interview führte

Antje Thiel

Redaktionsleitung

CHIRURGENMAGAZIN

[email protected]

Chirurgie+

Thiel A: Individuelle Therapie berücksichtigt auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_03.

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DRG und Kodierung 2023 in der Chirurgie

Das aG-DRG-System 2023 beinhaltet insgesamt 1.292 Fallpauschalen. Die Anzahl der Fallpauschalen gegenüber dem Vorjahr ist damit unverändert, wobei es innerhalb der einzelnen Gruppen zu Verschiebungen kommt. Die kalkulierten Eintages-DRGs haben um 5 aG-DRGs zugenommen. Die dem Institut für Entgeltsysteme im Krankenhaus (InEK) für die Kalkulation des aG-DRG-Systems 2023 zur Verfügung stehenden Daten (Kalkulationsstichprobe) sind auf historisch niedrige Anzahl von 225 (im Vorjahr 272) Krankenhäuser gesunken, davon jedoch 14 Universitätskliniken. Die Homogenität der Daten ist jedoch leicht angestiegen (+0,3 %). Auch in diesem Jahr werden in den Katalogen wieder die Relativgewichte für ausgegliederte DRGs (aDRGs) fallbezogen und tagesbezogene Pflegeentgeltwerte angegeben. Die bundesweite mittlere Verweildauer aller stationären Fälle sank um 0,68 % auf 5,88 Tage. Die stationäre Fallzahl ist auf dem niedrigen Corona-Level von 15,7 Mio. nahezu unverändert. Die Bezugsgröße ist auf 3.808 € mit einem Plus von über 500 € angestiegen.

Dieses Kalkulationsjahr bietet einige Besonderheiten:

  • Die Sachkostenentwicklung seit dem Jahr 2019 wurde nun vollständig in allen Kostenarten berücksichtigt. Die gezielte Sachkostenabwertung aus den letzten Jahren zeigt in diesem Jahr deutlich geringere Effekte als in den Vorjahren.
  • Klassifikatorische Anpassungen wurden vollständig umgesetzt.
  • Bei Fallpauschalen mit einer von der durchschnittlichen Fallzahlveränderung stark abweichenden Fallzahlveränderung zeigt sich ein erheblicher verzerrender kalkulatorischer Einfluss der Fallzahlveränderung auf die Entwicklung der sog. Restkosten. Dieser Effekt wird mit einem gestuften Dämpfungsansatz gemildert.
  • Die Bezugsgröße für den Pflegeerlös-Katalog ist nun auf 209,75 € (155, 71 € im Vorjahr) angestiegen. Dies entspricht einer Steigerung über 34 %. Dies ist ein Zeichen für eine zunehmende Verbesserung der Kalkulation der Pflege „am Bett“.
  • Bei der Kalkulation der COVID-Fälle flossen auch unterjährige Daten mit ein. Die COVID-DRGs sind zunehmend besser kalkulierbar.

Ob man von den zahlreichen Umstrukturierungen des Fallpauschalenkatalogs profitiert (positiver Katalogeffekt) oder nicht (negativer Katalogeffekt), muss je nach Spektrum der Klinik im Detail analysiert werden. Insofern lohnt auch in diesem Jahr ganz besonders die klinikindividuelle Analyse der Katalogveränderungen. Die besonderen Herausforderungen der Kliniken liegen in den zum Teil erheblichen Abwertungen unverändert erreichter Leistungsspektren. Beispielhaft ist hier die Abwertung von kurzen Vakuumbehandlungen unter 15 Tagen zu nennen.

Sachkostenkorrektur und mengenanfällige Leistungen

Die grundsätzlichen Veränderungen seit 2017 zur Sachkostenkorrektur wurden auch 2023 beibehalten und führen zu einer Umverteilung von 0,39 % bei den Sachkosten zu einer Aufwertung der Personal- und Infrastrukturkosten von jeweils 0,12 %. Ebenfalls unverändert bleibt die gezielte Abwertung von mengenanfälligen Leistungen: Hier sind die G-DRGs I10D bis I10H an der Wirbelsäule und die G-DRG I47C für die primäre Hüftendoprothetik betroffen. Nicht operative Behandlungen an der Wirbelsäule, werden unverändert über die aG-DRGs I68D, I68E und I68F abgerechnet. Die Medianzahl von 23, 100 bzw. 34 die bei Überschreitung eine niedrigere Bewertungsrelation nach sich ziehen, ist signifikant gesunken. Dieser Eingriff in die ansonsten datengetriebene Systemkalkulation ist weiterhin umstritten und kontrovers zu diskutieren. Die gewünschten Effekte reduzieren sich in diesem Jahr deutlich.

Schweregradsteigernde Nebendiagnosen

In diesem Jahr wurde die CCL-Matrix der schweregradsteigernden Nebendiagnosen nun wieder umfangreich analysiert. Es wurden über 12 % mehr Nebendiagnosen erfasst. Begründet ist dies hauptsächlich durch COVID-Kodierungen, vor allem im Rahmen von Testungen. Die meist Änderungen der 1248 Änderungen betreffen DRG-spezifische Abwertungen in 1 bis 2 Basis-DRGs. Nach der Herausnahme der Pflegepersonalkosten ist für eine Vielzahl von Diagnosen die Einstufung im CCL-Schweregradsystem nicht mehr oder nicht mehr in der aktuellen Höhe durch Mehrkosten begründet. Es wurden auch Vorschläge aus dem Vorschlagsverfahren berücksichtigt. Unter anderem gibt es in diesem Jahr auch einige wenige Aufwertungen.

Schlichtungsausschuss

Die Entscheidungen des Schlichtungsausschusses nach § 19 KHG gelten als Kodierregeln und sind für Kliniken, MD und Kostenträger bindend. Mittlerweile sind diverse Entscheidungen in die Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) aufgenommen und in der Kalkulation der Fallpauschalen berücksichtigt worden. Aktuelle Entscheidungen betreffen u. a. die Themen Adhäsiolyse (siehe Box 1) oder der Erregerkodierung. Alle Informationen und Entscheidungen zum Schlichtungsausschuss findet man unter der Internet-Adresse https://www.g-drg.de/Schlichtungsausschuss_nach_19_KHG.

1102v   

Adhäsionen

Die Lösung von abdominalen Adhäsionen kann eine aufwändige „Hauptprozedur“ oder eine im Rahmen einer anderen Prozedur mitdurchgeführte Begleitprozedur („Nebenprozedur“) sein. Auch wenn Adhäsionen im Verlauf einer anderen Bauchoperation gelöst werden, kann der Vorgang im Einzelfall relevanten Aufwand verursachen. Dann sind ein Diagnosekode (z. B. K66.0 Peritoneale Adhäsionen) für die Adhäsion und ein Prozedurenkode aus

5-469.1

Bridenlösung oder

5-469.2

Adhäsiolyse

Box 1: Entscheidung des Schlichtungsausschusses zur Adhäsiolyse mit Aufnahme in die DKR 1102v 2023
Für die Lösung der Adhäsionen anzugeben.

Entscheidung des Schlichtungsausschusses zu dem Antrag S20220002 Adhäsiolyse, veröffentlicht am 27.04.2022

Entscheidung: Die DKR 1102 ist anzuwenden. Ein „relevanter Aufwand“ liegt beispielsweise vor, wenn:

das Fortschreiten einer Operation oder die eigentlich geplante Operation durch eine notwendig werdende Adhäsiolyse deutlich behindert oder verzögert wird oder

außerhalb der Präoperation des geplanten Operationsfeldes eine eigenständige aufwendige Adhäsiolyse vorgenommen wird.

Eine Adhäsiolyse, die durch einfaches Lösen mittels Schere (wenige Scherenschläge) erfolgt, stellt keinen relevanten Aufwand dar.

ICD-Kodierung

In der Kodierung gibt es 2023 einige Weiterentwicklungen, die Kodierunsicherheiten aufgreifen und für Sicherheit in der Anwendung der Regelwerke für Kliniken und Gutachter sorgen sowie eine Reduktion von Kostenträgerstreitigkeiten erreichen sollen. Dies ist insbesondere auch vor dem Hintergrund der aktuellen Logiken der sozialgerichtlichen Rechtsprechung von großer Bedeutung.

Bösartige Neubildung der Perianalhaut
Bei der Schlüsselnummer C44.5 Haut des Rumpfes (unter der Kategorie C44.- Sonstige bösartige Neubildungen der Haut) wurden neue 5-Steller eingeführt, um eine bösartige Neubildung der Perianalhaut von sonstigen bösartigen Neubildungen der Haut des Rumpfes abzugrenzen und spezifisch kodieren zu können.

Ösophagitis
Bei der Schlüsselnummer K20 Ösophagitis wurden neue 4-Steller eingeführt, um die Art der Ösophagitis spezifischer kodieren zu können. Die vormals bei K20 als Inklusivum aufgeführte peptische Ösophagitis wird nun der Schlüsselnummer K21.0 Gastroösophageale Refluxkrankheit mit Ösophagitis als Inklusivum zugeordnet, da der Begriff hier fachlich zu verorten ist.

Autoimmune und hereditäre Pankreatitis
Bei der Schlüsselnummer K86.1 Sonstige chronische Pankreatitis wurden neue 5-Steller eingeführt, um eine Autoimmunpankreatitis [AIP] und Hereditäre Pankreatitis spezifisch kodieren zu können.

Strikturen nach medizinischen Maßnahmen am Verdauungstrakt
Unter der Schlüsselnummer K91.8- Sonstige Krankheiten des Verdauungssystems nach medizinischen Maßnahmen, anderenorts nicht klassifiziert wurde ein neuer 5-Steller eingeführt, um Strikturen am Verdauungstrakt nach endoskopischen Eingriffen und Operationen spezifisch kodieren zu können. Zusätzlich wurde unter K91.82 ein Inklusivum Insuffizienzen von Anastomosen und Nähten am Pankreas mit Beteiligung des Dünndarms ergänzt.

Nosokomiale Sepsis und septischer Schock
Bei den Schlüsselnummern zur Kodierung einer Sepsis bei nachgewiesenen Erregern wurde jeweils ein Kodierhinweis zu den neu eingeführten Schlüsselnummern U69.80! bis U69.82! ergänzt, um den zeitlichen Bezug der Sepsis zur stationären Krankenhausaufnahme spezifisch kodieren zu können. Dies betrifft für Sepsis durch Bakterien den Kodebereich A02.- bis A42.- und für Sepsis durch Pilze den Kodebereich B37.- bis B48.-. Der Kodierhinweis wurde ebenfalls für die virenspezifischen Sepsis-Kodes B00.70 Sepsis durch Herpesviren und B34.80 Sepsis durch Viren, anderenorts nicht klassifiziert ergänzt. Gleiches gilt für die protozoenspezifischen Sepsis-Kodes B58.90 Sepsis durch Toxoplasmen und B60.80 Sepsis durch Protozoen, anderenorts nicht klassifiziert.

Bei der Schlüsselnummer R57.2 Septischer Schock wurde ein Kodierhinweis ergänzt im Hinblick auf die Verwendung der neu eingeführten Schlüsselnummern U69.83! bis U69.85! zur Angabe des zeitlichen Bezugs des septischen Schocks zur stationären Krankenhausaufnahme. Die unter U69.8-! eingeführten sekundären Schlüsselnummern ermöglichen die spezifische Kodierung des zeitlichen Bezugs einer Sepsis und eines septischen Schocks zur stationären Krankenhausaufnahme. Die Unterscheidung von nicht-nosokomial und nosokomial erfolgt gemäß den KISS-Definitionen des Robert-Koch-Instituts (2017). Im Falle einer Verlegung der zu behandelnden Person bezieht sich die Differenzierung nicht-nosokomial bzw. nosokomial auf das zeitliche Auftreten der Sepsis oder des septischen Schocks in Bezug auf die Krankenhausaufnahme durch den kodierenden Leistungserbringer.

Nosokomiale Pneumonie
Die Schlüsselnummern U69.0-! Anderenorts klassifizierte, im Krankenhaus erworbene Pneumonie wurden entsprechend der AWMF S3-Leitlinie „Behandlung von erwachsenen Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie – Update 2021“ angepasst. Zwei 5-Steller wurden entfernt und in einen neuen 5-Steller (U69.04!) überführt, der die Kodierung einer nosokomialen Pneumonie unabhängig von einer zurückliegenden Hospitalisierung ermöglicht.

Fatigue-Syndrom
Auf Antrag des Fachbereichs wurden bei der Schlüsselnummer G93.3 Chronisches Müdigkeitssyndrom [Chronic fatigue syndrome] der Klassentitel und die Inklusiva an die neue Terminologie angepasst.

OPS-Kodierung

Zahlreiche OPS-Kodes wurden in 2023 in den chirurgischen Fachbereichen präzisiert und sollen Kodierunsicherheiten beseitigen:

Funktionstests
Anpassung der Kodes für die Feststellung des Beatmungsstatus und des Beatmungs­entwöhnungspotenzials an die B-BEP-Abschlagsvereinbarung nach § 9 Absatz 1a Nummer 8KHEntG (Krankenhausentgeltgesetz) (1-717 ff.)

Operationen an Lunge und Bronchus
Einführung neuer Kodes für die bronchoskopische Dilatation eines Bronchus mit Einlegen vonmehreren Schienen, unterteilt nach der Art des verwendeten Materials (5-339.07 bis 5-339.0a)

Einführung eines neuen Kodes für die bronchoskopische Dilatation eines Bronchus mit Einlegen oder Wechsel von mehreren Bifurkationsstents (5-339.0b)

Einführung neuer Kodes für den Wechsel von mehreren bronchialen Schienen, unterteilt nach der Art des verwendeten Materials (5-339.33 bis 5-339.36)

Operationen am Herzen
Einführung eines neuen Kodes für die Implantation eines Systems zur Stimulation des Leitungssystems mit 1 Elektrode (5-377.n2)

Operationen an den Blutgefäßen
Verschiebung des Kodes für die endovaskuläre Implantation einer Stent-Prothese mit Klappenfunktion in den rechten Vorhof (5-379.e) auf den neu eingeführten Kode für die endovaskuläre Implantation einer monokavalen Stent-Prothese mit Klappenfunktion (5-38a.91)

Einführung eines neuen Kodes für die endovaskuläre Implantation einer bikavalen Stent-Prothese mit Klappenfunktion (5-38a.92)

Einführung eines neuen Kodes für das Anlegen eines popliteopoplitealen Shuntes oder Bypasses (5-393.63)

Operationen am Verdauungstrakt
Einführung neuer Kodes für die endoskopische Wiedereröffnung eines Stents oder einer Prothese am Ösophagus, am Magen, am Darm, an den Gallengängen und am Pankreasgang (5-429.jh, 5-429.k3, 5-44a.3, 5-46a.2, 5-513.t, 5-526.n)

Einführung neuer Kodes für die Korrektur einer Gastrojejunostomie und einer Jejunojejunostomie bei umgewandeltem Schlauchmagen (5-445.6 ff., 5-445.7 ff.)

Einführung neuer Kodes für die Umwandlung eines Schlauchmagens in einen Ein-Anastomosen-Magenbypass durch Transsektion und Blindverschluss des Schlauchmagens und Gastrojejunostomie analog Billroth-II, unterteilt nach der Art des Zugangs (5-447.8 ff.)

Einführung neuer Kodes für die Umwandlung eines Schlauchmagens in einen Magenbypass durch Transsektion und Blindverschluss des Schlauchmagens und Gastrojejunostomie mit Roux-Y-Anastomose, unterteilt nach der Art des Zugangs (5-447.9 ff.)

Einführung neuer Kodes für die Anlage eines Ein-Anastomosen-Ileumbypass mit Gastroileostomie analog Billroth-II, ohne Transsektion, bei vorbestehendem Schlauchmagen, unterteilt nach der Art des Zugangs (5-447.a ff.)

Einführung neuer Kodes für die Umwandlung eines Ein-Anastomosen-Magenbypasses in einen Magenbypass mit Roux-Y-Anastomose, unterteilt nach der Art des Zugangs (5-447.b ff.)

Einführung neuer Kodes für die Nachresektion eines Schlauchmagens, unterteilt nach der Art des Zugangs (5-447.c ff.)

Einführung neuer Kodes für die Strikturoplastik eines Schlauchmagens, unterteilt nach der Art des Zugangs (5-447.d ff.)

Einführung neuer Kodes für die lokale Destruktion durch Kryoablation an der Leber, unterteilt nach der Art des Zugangs (5-501.b ff.)

Einführung neuer Kodes für die transgastrale oder transduodenale Chemoablation einer neoplastischen Pankreaszyste (5-529.t, 5-529.u)

Einführung eines neuen Kodes für die perkutan-endoskopische Entfernung von Pankreasnekrosen über einen Punktionskanal (5-529.v)

Operationen an den Bewegungsorganen
Einführung neuer Kodes für die offen chirurgische knöcherne Refixation des medialen bzw. lateralen Kapselbandapparates (5-802.a, 5-802.b)

Einführung neuer Kodes für offen chirurgische Operationen am Labrum acetabulare, unterteilt nach der Art des Eingriffs (5-80a ff.)

Einführung neuer Zusatzkodes für die computergestützte Planung von Operationen an den Extremitätenknochen mit patientenindividuell hergestelltem Zielinstrumentarium ohne oder mit patientenindividuell hergestelltem Implantat (5-86a.22, 5-86a.23)

Operationen an Haut und Unterhaut
Einführung neuer Kodes für die perkutane Kollageninduktion bei Verbrennungen und Verätzungen (5-929.2 ff.)

Zusatzinformationen zu Operationen
Einführung eines neuen Zusatzkodes für die Verwendung von Osteosynthesematerial mit Edelmetallbeschichtung (5-935.1)

Frührehabilitative und physikalische Therapie
Überarbeitung der Strukturmerkmale der Kodes für die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation (8-552 ff.)

Maßnahmen für das Atmungssystem
Überarbeitung der Hinweise der Kodes für die prolongierte Beatmungsentwöhnung (8-718.8 ff., 8-718.9 ff.)

Maßnahmen für den Blutkreislauf
Einführung neuer Kodes für das Legen und den Wechsel eines Katheters in periphere und zentralvenöse Gefäße, differenziert nach der Art des Zugangs und dem Zielgefäß (8-831.0 ff.,8-831.2 ff.)

Einführung neuer Kodes für die irreversible Elektroporation als ablative Maßnahme bei Herzrhythmusstörungen, unterteilt nach der Lokalisation (8-835.k ff.)

Einführung neuer Kodes für die Verwendung eines oder mehrerer Disc-Retriever zur Thrombektomie oder Fremdkörperentfernung (8-83b.8g ff.)

Komplexbehandlung
Ergänzung des neuen Berufsabschlusses „Pflegefachfrau/Pflegefachmann“ nach dem Pflegeberufegesetz (PflBG) in den Strukturmerkmalen des Kodes für die intensivmedizinische Komplexbehandlung im Kindesalter (8-98d ff.)

Diverse Vorschläge zu Systemkorrekturen gehen auch in diesem Jahr insbesondere wieder auf Vorschläge der chirurgischen Fachgesellschaften sowie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), zusammen mit dem Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) zurück.

Die Komplexität und die Ausdifferenzierung des G-DRG-Systems nehmen 2023 weiter zu. Die Innovationsfinanzierung ist über das vorliegende System weiterhin schwerfällig. Es gibt weiterhin Systemelemente mit der Abkehr von der datengetriebenen Systematik. Seit 2020 werden auch die Auswirkungen der Personaluntergrenzen-Verordnung und des Pflegepersonal-Stärkungsgesetz auf das G-DRG-System sichtbar. Insbesondere die Ausgliederung der Kosten für die Pflege aus den Fallpauschalen, die pandemiebedingten Eingriffe und der veränderten und Fall- und PatientInnen-Struktur führt zu größeren Änderungen des Fallpauschalenkatalogs und der Abrechnungslogik. Die Auswirkungen aus der veränderten Krankenhausplanung, der geplanten Einführung von Notfallstrukturen, Leistungsgruppen und der G-BA-Beschlüsse werden ebenfalls im System zu Neuverteilungen führen. Mit Spannung werden auch die Änderungen der Neuordnung des Ambulanten Operierens und der Einführung von teilstationären und Hybrid-DRGs erwartet.

Literatur

[1]   ICD-10-GM 2023 – Systematisches Verzeichnis, Deutscher Ärzteverlag, ISBN 978-3-7691-3790-3

[2]   ICD-10-GM 2023 – Alphabetisches Verzeichnis, Deutscher Ärzteverlag, ISBN 978-3-7691-3791-0

[3]   OPS 2023 – Systematisches Verzeichnis, Deutscher Ärzteverlag, ISBN 978-3-7691-3792-7

[4]   Deutsche Kodierrichtlinien 2023, Deutscher Ärzteverlag, ISBN 978-3-7691-3793-4

[5]   BfArM Aktualisierungsliste ICD 2023 https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Kodiersysteme/klassifikationen/icd-10-gm/version2023/icd10gm2023syst-alisten_zip.html

[6]   BfArM Aktualisierungsliste OPS 2023 https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Kodiersysteme/klassifikationen/ops/version2023/ops2023syst-alisten_zip.html

[7]   InEK-Abschlussbericht zur Weiterentwicklung des G-DRG-Systems 2023 https://www.g-drg.de/ag-drg-system-2023/abschlussbericht-zur-weiterentwicklung-des-g-drg-systems-und-report-browser/abschlussbericht-zur-weiterentwicklung-des-ag-drg-systems-fuer-2023

Prof. Dr. med. Thomas Auhuber

Leiter BDC-Themen-Referat „Vergütungssystematik und Leistungsmanagement”

[email protected]

Chirurgie+

Auhuber T: DRG und Kodierung 2023 in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_06.

Weitere Artikel zum Thema finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Vergütung | DRG.

Zuverlässigkeitsmanagement im Krankenhaus – Status quo des HRO-Ansatzes

Das Konzept High-Reliability-Organisationen (HRO) bietet mithilfe der fünf Prinzipien der Achtsamkeit eine vielversprechende Möglichkeit, die Zuverlässigkeit in den Krankenhäusern zu steigern. Die zentrale Eigenschaft von HRO ist „Achtsamkeit“ beziehungsweise „achtsames Handeln“. Die fünf Prinzipien, wie in Abbildung 1 dargestellt, werden dabei in die Bereiche: „Antizipation“ und „Eindämmung/Resilienz“ unterteilt. Durch das Zusammenspiel der drei Prinzipien der Antizipation und der zwei Prinzipien der Eindämmung beziehungsweise Resilienz sind HRO dauerhaft in der Lage, auf unerwartete Situationen rechtzeitig reagieren zu können und stets handlungsfähig zu bleiben [1].

Der vorliegende Aufsatz untersucht, inwieweit der hier vorgestellte HRO-Ansatz mittlerweile in den Krankenhäusern etabliert wurde.

Abb. 1: Die fünf Prinzipien der Achtsamkeit, Quelle: Eigene Darstellung

Insgesamt erfährt das Thema HRO im Zusammenhang mit Patientensicherheit und der damit einhergehenden Vermeidung von Gesundheitsschäden zunehmende Aufmerksamkeit. Verschiedenste Akteure beschäftigen sich damit. Dies zeigt sich vor allem in dem globalen Aktionsplan der Weltgesundheitsorganisation, der dazu aufruft, eine „größtmögliche Reduktion vermeidbarer Schäden durch unsere Gesundheitsversorgung zu erreichen“ [2]. Das Konzept der HRO findet sich im Aktionsplan unter dem Begriff „hochzuverlässige Systeme” und ist als eines der sieben strategischen Ziele zur Steigerung der Patientensicherheit verankert. Ein bedeutender Baustein dieser Systeme ist neben den genannten Prinzipien die „Sicherheitskultur und Führung“. Im Aktionsplan wird die Meinung vertreten, dass dieses Thema noch nicht ausreichend auf strategischer Managementebene berücksichtigt wird. Daher sollte die „Sicherheitskultur und Führung“ als wichtige Voraussetzung für die Umsetzung einer HRO stärker in den Fokus rücken [3].

Die aktuelle Literatur zeigt, dass sich u. a. das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS), das seit 2005 in Deutschland verschiedene Projekte und Initiativen zur Verbesserung der Patientensicherheit aufbaut, mit dem Thema „Risiko- und Sicherheitskultur im Gesundheitswesen“ beschäftigt und die Inhalte in einem Buch [4] zusammengefasst hat. Auch das APS erkennt die Sicherheitskultur und Führung als grundlegend für den Aufbau hochzuverlässiger Systeme an. Dies wird durch unterschiedliche Perspektiven der jeweiligen Autorinnen und Autoren in den Beiträgen beschrieben und ausgeführt. Annette Gebauer (Systemische Organisationsberaterin und Inhaberin der Beratung Interventions for Corporate Learning [ICL] in Berlin) beschreibt u. a. in ihrem Beitrag, wie man eine proaktive Risikokultur entwickelt und was man hierzu von Hochrisikoorganisationen lernen kann. An dieser Stelle wird ebenfalls der Zusammenhang zwischen Sicherheitskultur und Führung dargestellt. Zudem verweist sie auf Studienergebnisse. Diese zeigen, dass der HRO-Ansatz sich in der Tat positiv auf die Patientensicherheit auswirke [5]. Zentrales Thema ist, einerseits die Prinzipien zu nutzen, um den Kulturwandel voranzutreiben, und andererseits die Herausforderung anzunehmen, als Führungsteam ein Zielbild zu entwickeln und durch die eigene Haltung den Mitarbeitenden dieses glaubwürdig zu vermitteln und danach zu handeln. Annette Gebauer formuliert es als „kollektives Fitnesstraining, das eines Höchstmaßes an Disziplin bedarf“ [5].

Decken sich die hier beschriebenen Angaben mit der derzeitigen Ausgestaltung in den Kliniken? Ist das Thema hochzuverlässiger Systeme im klinischen Alltag präsent und wenn ja, wie wird es umgesetzt?

Die Beraterinnen und Berater der Gesellschaft für Risikoberatung (GRB) haben einen umfassenden Einblick in die Krankenhauslandschaft und sind mit vielfältigen Projekten nah am Geschehen. Neben einzelnen Kliniken und großen Verbünden unterstützt die GRB den Aufbau eines Risikomanagementsystems auch im Hinblick auf die Transformation einer HRO. Damit ein solches Großprojekt erfolgreich implementiert werden kann, haben sich bestimmte Vorgehensweisen bewährt, die im Folgenden anhand einiger Maßnahmen kurz skizziert werden sollen.

Zunächst ist es essentiell, die Klinik kennenzulernen, indem vordergründig die Hochrisikobereiche einer Klinik analysiert werden. Es geht z. B. darum, wie die Teams in den jeweiligen Fachbereichen, aber auch an den verschiedensten Schnittstellen miteinander arbeiten und wie bestimmte Kommunikationswege eingehalten werden. Welche Prozessschritte gibt es und wie werden sie von den Mitarbeitenden umgesetzt? Auf dieser Basis lassen sich bereits viele Stärken und Schwächen herausarbeiten, was den Ansatzpunkt für das weitere Vorgehen liefert. Es hat sich bewährt, mit Jahreszielen zu arbeiten und sich auf einzelne wesentliche Themenschwerpunkte zu konzentrieren. Schritt für Schritt lassen sich so Projekte und gesetzte Ziele realisieren und Erfolge verzeichnen.

Beispiele für Themenschwerpunkte sind unter anderem die Einführung klinischer Instrumente zum Risikomanagement wie CIRS, M&M-Konferenzen und regelhafte Auditierungen. Aber auch einzelne Maßnahmen hinsichtlich der Umsetzung von beispielsweise Zählkontrollen, Markierungen des OP-Gebiets können Themenschwerpunkte sein. Unabhängig von der Klinikgröße ist es wichtig, ein einheitliches Verständnis zu diesen Themen zu schaffen. Bei Klinikverbünden ist es von Bedeutung, die verwendeten Instrumente einheitlich zu nutzen und alle Einrichtungen einzubeziehen. Hierdurch können die Ergebnisse miteinander verknüpft werden, was eine große Transparenz schafft und konkrete Handlungsfelder können abgeleitet werden.

Weitere Themen sind die Implementierung sogenannter „Red Rules“. Diese sollten sich auf drei bis fünf wesentliche Regeln beschränken, um die Dringlichkeit der Einhaltung – also absolute Compliance – in der gesamten Klinik zu unterstreichen. Zudem darf es keine Abweichungen geben, sodass die Regeln kurz und präzise formuliert sein müssen.

Grundsätzlich ist auch das Thema „Schulung“ sowie die Durchführung von Simulationstrainings im Team ein wichtiger Ansatzpunkt bei der Umsetzung des HRO-Konzepts. Jede Notfallsituation, Krise oder ein aufgetretenes unerwünschtes Ereignis sollten zum Anlass genommen werden, um mit allen Beteiligten aus verschiedenen Perspektiven auf das Geschehene und insbesondere auf die Zusammenarbeit und Arbeitsweisen zu schauen und die Begebenheiten zu rekonstruieren. So kann relativ einfach die Resilienzfähigkeit im Team gestärkt und geübt werden. Zudem bietet es die Chance, die erlebten Erfahrungen zeitnah zu nutzen.

In der Praxis zeigt sich oftmals, dass mit dem Begriff der Fehler- oder Sicherheitskultur eine sogenannte „No blame culture“ impliziert wird. Systemisch bedingte Fehler sollen nicht einer Person zugeordnet, sondern offen dargelegt werden können, um geeignete Lösungen zur Prozessverbesserung zu finden. Eine Kultur, die von Angst vor Sanktionen geprägt ist, verdeckt möglicherweise schwerwiegende Fehler und nimmt einer Organisation die Chance, diese frühzeitig auszuräumen und Schlimmeres zu verhindern. Diese grundlegende Haltung ist eine wichtige Basis zur Umsetzung der fünf Prinzipien der Achtsamkeit im HRO-Ansatz und auch grundsätzlich bei klinisch Tätigen präsent. Zur Förderung dieser Einstellung wurde in der Vergangenheit ein besonderes Augenmerk auf die Einführung der oben genannten Instrumente des klinischen Risikomanagements gelegt. Mittlerweile ist die Anwendung dieser Instrumente zum Teil auch gesetzlich vorgeschrieben worden, wie z. B. das Critical-Incident-Reporting-System, und sie haben sicherlich einen Denkanstoß gegeben, viele Dinge zu hinterfragen und entsprechende Maßnahmen zur Verbesserung abzuleiten und einzuführen. Sie sind im Gesundheitssystem unverzichtbar geworden und vergegenwärtigen die vorhandene Sicherheitskultur in einer Organisation.

Dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Einführung solcher Instrumente automatisch zu einer Veränderung der Sicherheitskultur in einem Unternehmen führt. Ebenso wichtig ist die Haltung im Umgang mit vermeidbaren und geschehenen Ereignissen auf allen Ebenen, um eine Beständigkeit und Transformation zu erreichen. Um die Kultur im Unternehmen langfristig zu prägen und zu verändern, sind insbesondere die Führungskräfte gefragt, diese Haltung im täglichen Tun widerzuspiegeln und von den Mitarbeitenden einzufordern. Sicherheit sollte somit nicht allein durch den Einsatz von Instrumenten symbolisiert werden, sondern als Unternehmensziel einen zentralen Stellenwert einnehmen. Je stärker Management- und Führungsebene dazu bereit sind, sich mit dem Thema einer resilienten Organisation bzw. eines resilienten Verhaltens auseinanderzusetzen und es in der Praxis zu etablieren, desto besser kann sich ein Team auf unterschiedliche Situationen einlassen und gemeinsam Lösungen für die Zukunft entwickeln. Dieses Verhalten muss geübt und von Führungskräften, wie oben bereits an Beispielen verdeutlicht, eingefordert werden.

Ein Beispiel aus Texas macht deutlich, wie es gelingen kann, den hier beschriebenen HRO-Ansatz in Kliniken zu verfolgen und schrittweise umzusetzen. Das Memorial Hermann Health System ist eine der größten Non-Profit-Organisationen in Texas und hat bereits 2012 den Eisenberg Patient Safety Award erhalten. Die angestrebte Vision „Patient Safety is our core value“ ist seither in den Unternehmenszielen fest verankert und wird durch verschiedenste Entscheidungen und abgeleitete Maßnahmen auf oberster Managementebene angestrebt. Grundlegend hierfür ist ebenfalls die Schaffung einer „Culture of High Reliabilty“ [6].

Die sechs Dimensionen für eine „Culture of High Reliabilty“, wie sie in dem vorgestellten Unternehmen gelebt wird, sind folgende:

  • Etablierung einer Vision, in der Sicherheit einen zentralen Stellenwert hat
  • Führungskräfteentwicklung mit dem Ziel, die Werte der Sicherheitskultur widerzuspiegeln
  • Auswahl, Entwicklung und Motivierung der Führungskräfte
  • Vertrauen, Respekt und Inklusion mit dem Ziel, organisatorische Verhaltensweisen festzulegen
  • Aufbau einer Just Culture, das bedeutet, dass Abweichungen oder Fehler nicht bei einem Einzelnen liegen, sondern die Schwachstelle im komplexen System gefunden werden sollte
  • Verantwortung der Führungskräfte, ein Sicherheitsbewusstsein bei den Mitarbeitenden zu etablieren

Der HRO-Ansatz konnte verwirklicht werden, da die Sicherheitskultur in dem Unternehmen das Fundament bildet. Die oberste Managementebene strebt nach dem Ziel, eine „Culture of High Reliability“ zu erreichen und diese Haltung auf allen Ebenen zu vermitteln. Die Vision konnte realisiert werden, indem eine Sicherheitskultur geschaffen wurde, die von allen Führungskräften gelebt und im täglichen Handeln umgesetzt wird.

Insgesamt zeigt sich, dass das Gesundheitswesen geprägt ist von Dynamik und Komplexität. Vieles konnte in den letzten Jahren etabliert werden und das Thema ist auf allen Ebenen präsent. Allein das ist ein wichtiger Meilenstein und fokussiert das Wesentliche in der Gesundheitsversorgung. Um langfristig dem HRO-Ansatz gerecht zu werden, ist es erforderlich, die gesamte Organisation einzubinden und sich nicht nur auf einzelne Instrumente und Individuen zu verlassen. Das Kollektiv sollte in die gleiche Richtung schauen, um die erforderlichen Voraussetzungen sicherzustellen und die Zuverlässigkeit in den Prozessen zu steigern. Sofern eine Organisation, repräsentiert durch die Leitungsebene, dies als selbstverständlichen Teil ihres täglichen Tuns verinnerlicht und ihr Handeln danach ausrichtet, kann der HRO-Ansatz eine positive Auswirkung auf die Patienten- und Mitarbeitersicherheit haben.

Literatur

[1]   Weick, K. und Sutcliffe, K.M. (2010): Das unerwartete Managen, Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen, “. Auflage, Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart, 2010.

[2]   Globaler Aktionsplan für Patientensicherheit 2021-2030, Auf dem Weg zur Beseitigung vermeidbarer Schäden in der Gesundheitsversorgung 2021, Online: „https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P/Patientensicherheit/WHO_Global_Patient_Safety_Action_Plan_2021-2030_DE.pdf“, S.VI, 2021

[3]   Globaler Aktionsplan für Patientensicherheit 2021-2030, S. 23, 2021.

[4]   Risiko- und Sicherheitskultur im Gesundheitswesen, Ruth Hecker, APS (HRSG), 2022.

[5]   Dr. Gebauer, Annette, S. 55, in Risiko- und Sicherheitskultur im Gesundheitswesen, R. Hecker, APS (Hrsg.), 2022.

[6]   Establishing a Culture of High Reliability: Memorial Hermann’s 11-Year Journey, November 2019, Online im Internet unter: „https://www.beckershospitalreview.com/pdfs/November12/840AM_KEYNOTE_Stokes.pdf

Kathrin Rosen

Risikoberaterin

GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH

Ecclesiastraße 1-4

32758 Detmold

[email protected]

www.grb.de

Chirurgie+

Rosen K: Safety Clip: Zuverlässigkeitsmanagement im Krankenhaus – Status Quo des HRO-Ansatzes. Passion Chirurgie. 2023 Juni; 13(06): Artikel 04_02.

Weitere Artikel zur Patientensicherheit finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), Rubrik Wissen | Qualität & Patientensicherheit | Safety Clip.

BDC|Bayern: Einladung zur Jahrestagung 2023

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

auf diesem Wege darf ich Sie zur Teilnahme an der 100. Tagung der Vereinigung der Bayerischen Chirurgie motivieren. Auch dieses Jahr wird es eine Berufspolitische Stunde geben, die sich auf Grund der Aktualität in Form einer Podiumsdiskussion nur mit einem Thema beschäftigen wird: der Krankenhausreform! Wir werden u. a. auch mit einem Vertreter der Bayerischen Staatsregierung versuchen über die aktuellen Vorschläge und deren Auswirkungen auf die stationäre Versorgung in Bayern zu diskutieren.

Im Anschluss an die Berufspolitische Stunde wird die jährliche Mitgliederversammlung stattfinden, zu der ich Sie herzlich einladen möchte. Beide Veranstaltungen finden hintereinander statt am

Mittwoch, 19. Juli 2023
10:30 bis 12:00 Uhr Berufspolitische Stunde
12:00 bis 12:45 Uhr Mitgliederversammlung
Hörsaal der Pathologie des Klinikums München Rechts der Isar
Ismaninger Str. 22, 81675 München

Mit besten kollegialen Grüßen

Prof. Dr. Matthias Anthuber
Vorsitzender BDC|Bayern

Dr. Hubert Mayer
Stellv. Vorsitzender

BDC|Bayern - Flyer Jahrestagung 2023