01.04.2017 Fachübergreifend
Anspruch und Herausforderungen der Unfallchirurgie: heute und morgen
Traumazentrum mit Notaufnahme, Intensivstation und Operationssaal, Notarzteinsatzfahrzeug oder Rettungshubschrauber, Poliklinik mit D-Arzt-Sprechstunde, Praxis oder Versorgungszentrum, Forschungslabor und Hörsaal, Gutachtenstelle und Rehabilitationsklinik – allein schon die zahlreichen Arbeitsstellen lassen auf die abwechslungsreiche Tätigkeit eines Unfallchirurgen schließen.
Diese verschiedenen Positionen erfordern eine breite Weiterbildung – um allseits auf einem hohen Qualitätsniveau zu arbeiten – und weisen viele interdisziplinäre Schnittstellen auf. Der Alltag hängt darüber hinaus von der Ausrichtung der jeweiligen Einheit, dem individuellen Ausbildungsstand und der Funktion ab.
Welche Kompetenzen muss der Unfallchirurg erwerben?
Lebensrettende Sofortmaßnahmen und Schockraummanagement des Polytraumas mit Entscheidung der individuellen Versorgungsstrategie in einem interdisziplinären Team gehören zur täglichen Arbeit. Dies erfolgt mit dem Hintergrundwissen der „Damage Control Surgery“ und „Definitive Surgical Care“, der operativen Expertise und der Kenntnis der konservativen Behandlungsverfahren. Hierzu gehört auch die kontinuierliche Betreuung der Traumapatienten auf der Intensivstation, der Intermediate Care- und der Normalstation sowie während der ambulanten Behandlung.
Wie wurde und wird man Unfallchirurg?
Die meisten der aktuellen Chefärzte und noch ein großer Teil der Oberärzte in den Kliniken sowie der niedergelassenen Unfallchirurgen haben zuerst eine Weiterbildung zum Chirurgen absolviert, um sich danach im Schwerpunkt der „Speziellen Unfallchirurgie“ weiterzubilden. Im Rahmen der Übergangsregelung wurden sie Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie mit der Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“. Mit dieser Weiterbildung konnte man diese umfassenden Erfahrungen und Kenntnisse gut erreichen.
Wie sieht die Weiterbildung derzeit aus?
Zwei Jahre „Common Trunk“, ein weiteres Jahr in einem chirurgischen Fach, drei Jahre Orthopädie und Unfallchirurgie. Das bedeutet, dass die breite Notfallbehandlung – von der Wunde bis zur Behandlung des Polytraumas, das klinische Arbeiten auf Station und die ambulante prä- und poststationäre Patientenbehandlung erlernt wird. In aller Regel können – ohne oder mit Rotation – die im Weiterbildungskatalog geforderten Operationsverfahren in Unfallchirurgie und Orthopädie gut vermittelt werden. Lücken im Rahmen der aktuellen Weiterbildung gegenüber der oben erwähnten klassischen chirurgischen Weiterbildung bleiben vor allem in der viszeral- und thoraxchirurgischen Notfallchirurgie sowie in der spezialisierten Intensivmedizin. Dies wird üblicherweise durch enge Zusammenarbeit mit der Allgemeinchirurgie und der Anästhesie kompensiert.
Wie kann man diese Kenntnisse und Fertigkeiten zur Sicherung einer qualifizierten Polytrauma- und Unfallbehandlung in Zukunft erreichen?
Diese Thematik ist aktuell von großer Relevanz vor dem Hintergrund der anstehenden Novellierung der Weiterbildungsordnung. Auch weiterhin muss eine breite chirurgische Grundweiterbildung – der „Common Trunk“ mit Intensivmedizin und Notaufnahme – für das Fach Orthopädie und Unfallchirurgie gesichert sein, inklusive der damit einhergehenden horizontalen Flexibilität zwischen den chirurgischen Fächern. Jede Spezialisierung in Unfallchirurgie und Orthopädie muss auf dem Boden solider chirurgischer Kenntnisse erfolgen, da ansonsten die Gefahr einer Degradierung zu einem Operateur drohen würde und andere Disziplinen Indikationsstellung und perioperatives Management übernehmen könnten. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass der weitaus größte Anteil der unfallchirurgisch-/orthopädischen Behandlungen – auch in der Primärversorgung – konservativ erfolgt bzw. mit der „kleinen Chirurgie“ gelöst wird. Der Anteil stationärer operativer Verfahren bei Vorstellung über die Notaufnahme liegt in unserer Klinik bei circa 12.000 Notfällen/Jahr beispielsweise bei 20 %!
Vom Grundverständnis versteht sich der Unfallchirurg als Kümmerer des Unfallverletzten, von der Aufnahme bis zur Wiedereingliederung in den Alltag. Gerade dieser Aspekt wird derzeit europaweit diskutiert mit dem Ziel einer ganzheitlichen Polytraumabehandlung, wie sie in Deutschland durch das Selbstverständnis der Unfallchirurgie glücklicherweise bisher stattfindet. Die enge Kooperation in Europa, hier vor allem innerhalb der European Society for Trauma and Emergency Surgery (ESTES) mit der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) als größte von 30 Mitgliedsgesellschaften, ist für die Weiterentwicklung der Traumaversorgung von großer Bedeutung. Auch im Hinblick auf die Kompetenzaneignung sind die international verfügbaren Kurse Definitive Surgical Trauma Care (DSTC), European Trauma Course (ETC) oder Modular Ultrasound Estes Course (MUSEC) ebenso wie die über die Akademie für Unfallchirurgie (AUC) angebotene Kurse, z. B. Advanced Trauma Life Support (ATLS), für die künftige Weiterbildung wesentlich.
Abb. 1: Gesamtunfallgeschehen 2014 (Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), http://www.baua.de)
Vor dem Hintergrund der zu erwartenden Neuordnung der Notfallbehandlung in ein möglicherweise drei-stufiges System – ähnlich wie in den Traumanetzwerken der DGU – ist langfristig von einer weiteren Konzentration der Polytraumaversorgung auszugehen. Das Traumanetzwerk mit insgesamt 649 zertifizierten Kliniken ist gegliedert in ca. 100 überregionale, ca. 200 regionale und ca. 400 lokale Traumazentren, die auf hohem Niveau, inklusive Qualitätssicherung und Benchmarking, eng zusammen arbeiten. Dieses effiziente Netzwerk wird kontinuierlich weiterentwickelt und ist nicht zuletzt für die Katastrophenvorhaltung von herausragender Bedeutung. Langfristig ist nicht auszuschließen, dass die Schwerstverletzten überwiegend direkt in die überregionalen Traumazentren eingeliefert werden, die rund um die Uhr eine umfassende Versorgung ermöglichen. In den Niederlanden ist hier beispielsweise eine Zielgröße von 90 % anvisiert. Perspektivisch ist hierzu das pragmatische Erreichen eines Doppelfacharztes für die Unfallchirurgie von zukunftsrelevanter Bedeutung, bestehend aus Orthopädie/Unfallchirurgie plus Allgemein-/Viszeralchirurgie für die Tätigkeit an solchen Traumazentren, so wie die Bundeswehr diese bereits ausbildet. Auf der anderen Seite müssen dann aber auch in Zukunft angemessen dotierte Dauerpositionen für diese „Trauma-Team-Leader“ geschaffen werden.
Welche weiteren Berufsfelder und Zukunftsaussichten gibt es darüber hinaus?
Unfälle wird es immer geben, auch wenn die Prävention in Europa bereits einen hohen Stellenwert erreicht hat, was man unter anderem am Rückgang der Todesfälle im Straßenverkehr sieht, während die Gesamtzahl der Verkehrsunfälle leicht ansteigt. Die Gesamtzahl der Unfälle im Jahr 2014 betrug circa 9,7 Millionen, davon ein Drittel im Hausbereich, über ein Drittel in der Freizeit und der Rest verteilt sich auf Arbeits- und Schulunfälle sowie den Straßenverkehr. Aber auch Infektionen, posttraumatische Fehlstellungen und Fehlbildungen sehen wir immer öfter, letztere auch durch die zunehmende Internationalisierung wie Migration, weltweite Konflikte und Patiententourismus.
Insgesamt sind die Erkrankungen des Bewegungsapparates einige der größten volkswirtschaftlich relevanten Krankheitsbilder, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Diese werden im großen Fach der Orthopädie und Unfallchirurgie mit ihren Subdisziplinen behandelt und belegen die hervorragenden Berufsaussichten und Zukunftsperspektiven. Die umfassenden Forschungsfelder und innovativen biologischen Therapieverfahren bis hin zur Stammzelltherapie belegen die akademische Bedeutung der Unfallchirurgie eindrücklich. Eine aktuelle Übersicht über die umfassenden Aktivitäten der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), der gemeinsamen Dachgesellschaft der DGU und der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC), die insgesamt über 12.000 Mitglieder aufweist, gibt der Beitrag der Generalsekretäre der DGOU in dieser Ausgabe.
Fazit
Die Unfallchirurgie ist und bleibt ein hochattraktives, spannendes und vor allem positiv belegtes Fach, in welchem verletzte Patienten jeglichen Alterns in den allermeisten Fällen wiederhergestellt werden können. Die Etablierung des Traumanetzwerkes Deutschland, die damit verbundene Qualitätssicherung sowie die Weiterentwicklungen in Richtung Kinder- und Alterstraumazentren sind von unschätzbarem Wert. Diese Ressourcen müssen auch weiterhin durch eine vernünftige Weiterbildung personell gesichert werden.
Literatur
[1] Marzi I, Rose S. Praxisbuch Polytrauma. Köln: Dt. Ärzteverlag; 2012, 1–397.
[2] Probst J, Siebert H, Zwipp H. 60 Jahre Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie nach Wiedergründung, 2010, DGU:1–165.
[3] Rommens PM. Which Future for Traumatology in Europe? Eur J Trauma Emerg Surg. 2010;36:85–8.
[4] Trentz O, Woltmann A. Der Unfallchirurg zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Trauma und Berufskrankheit. 2016.
[5] http://www.springer.com/medicine/journal/68
[6] https://www.springermedizin.de/der-unfallchirurg/7947960
[7] http://www.estesonline.org
[8] https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/02/PD17_065_46241.html
Marzi I. Anspruch und Herausforderungen der Unfallchirurgie: heute und morgen. Passion Chirurgie. 2017 April, 7(04): Artikel 03_01.
Autor des Artikels
Univ.-Prof. Dr. med. Ingo Marzi
Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und WiederherstellungschirurgieUniversitätsklinikum Goethe-Universität FrankfurtTheodor-Stern-Kai 760590Frankfurt am Main kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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