01.09.2020 Politik
Anlassloses Testen auf SARS-Cov-2
Für Personen, bei denen kein begründeter Verdacht auf eine Infektion vorliegt, ist die Aussagekraft eines einzelnen positiven Testergebnisses verschwindend gering.
Dagmar Lühmann im Auftrag des Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin (www.ebm-netzwerk.de)
„Our key message is: Test, test, test. [i]” Diese Empfehlung für alle Länder sprach Tedros Adhanom Ghebreyesus, Director-General der WHO, am 16. März 2020 zum Umgang mit der Corona-Pandemie aus. International wurde ihr in unterschiedlichem Ausmaß nachgekommen, bedingt durch (nicht) verfügbare Testkapazitäten, infrastrukturelle Rahmenbedingungen, unklare Zuständigkeiten oder unterschiedliche Vorstellungen zum bestmöglichen Umgang mit der Pandemie. In den 235 beim Robert-Koch-Institut (RKI) registrierten Testlaboren erhöhte sich die Zahl der wöchentlich durchgeführten Tests von 127.457 in KW 12 auf 573.802 in KW 31 [ii], insgesamt sollen Kapazitäten für über eine Million Tests pro Woche verfügbar sein [iii]. Die nationale Teststrategie des Robert-Koch-Instituts, zuletzt ergänzt um die Möglichkeit (1.8.2020) bzw. die Verpflichtung (6.8.2020) sich als Reiserückkehrer aus einem Risikogebiet (> 50 Neuinfizierte/ 100.000 Einwohner in 7 Tagen und/oder entsprechende qualitative Berichte aus der Region) testen zu lassen. Noch weiter ging das Bundesland Bayern, wo sich seit dem 1. Juli 2020 jeder Einwohner testen lassen kann „Testungen, um für Gewissheit bei jedem Einzelnen zu sorgen“ – wie die Webseite [iv] verspricht.
Spätestens hier wird es problematisch. Nicht nur aus Gründen von Zuständigkeit, Organisation und Finanzierung – die hier gar nicht angesprochen werden sollen – sondern aus Gründen der Interpretierbarkeit der Ergebnisse. Kein Test ist unfehlbar, auch der zum Nachweis einer SARS COV-2 durchgeführte PCR-Test nicht. Im Ringversuch wies der in deutschen Laboren durchgeführte Test eine analytische Sensitivität von 97,7 bis 98,8 Prozent auf, die analytische Spezifität betrug 98,6 Prozent [v]. Das hört sich zunächst mal gut an – von 100 Infizierten würden etwa 98 richtig als infiziert erkannt und adäquate Maßnahmen könnten ergriffen werden (Sensitivität). Und von 100 Gesunden erhielten 98 oder sogar 99 ein richtig negatives Testergebnis (Spezifität), 1-2 Personen würden allerdings entweder fälschlich als infiziert bezeichnet oder ihr Testergebnis wäre nicht interpretierbar. Diese Zahlen beziehen sich zunächst einmal auf die Richtigkeit der Analytik. Hinzu kommen eventuelle Fehler, z. B. bei der Probenentnahme, Probentransport oder auch Verwechselungen oder die Problematik des richtigen Zeitfensters für den Virusnachweis. Angesichts all dieser Probleme halten britische Autoren es in einer im BMJ veröffentlichten Arbeit für realistisch, für Tests außerhalb von Kliniken und in der Allgemeinbevölkerung eine effektive Sensitivität von 70 Prozent und eine Spezifität von 95 Prozent anzunehmen [vi].
Angesichts möglicher falsch-negativer und falsch-positiver Testergebnisse stellt sich die Frage nach der Aussagekraft eines positiv oder negativ ausgefallenen Tests. Hierzu werden die so genannten prädiktiven Werte herangezogen, die aussagen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, bei positivem Testergebnis tatsächlich unter der gesuchten Erkrankung – hier Infektion – zu leiden (positiv-prädiktiver Wert) bzw. bei negativem Testergebnis tatsächlich nicht infiziert zu sein (negativ-prädiktiver Wert). Diese Werte sind stark abhängig davon, wie häufig die Erkrankung bzw. hier Infektion in der Population ist, aus der die getestete Person stammt. Generell gilt, je höher die Prävalenz – auch Vortestwahrscheinlichkeit genannt – desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein positiver Test auch tatsächlich eine Erkrankung anzeigt. Im Fall von COVID-19 erhöht sich die Vortestwahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von Symptomen, Kontakten mit Erkrankten oder (Wohn)umgebung. Schlenger 2020 [vii] berechnete unter Annahme einer Sensitivität von 70 Prozent und einer Spezifität von 95% die positiv-prädiktiven Werte eines anlasslosen positiven Tests für unterschiedliche Ausgangswahrscheinlichkeiten:
Prävalenz | positiv-prädiktiver Wert |
3 Prozent z. B. Hausarztpraxis | 30 Prozent |
20 Prozent z. B. Altenpflegeeinrichtung | 78 Prozent |
80 Prozent z. B. Isolierabteilung | 98 Prozent |
Wie stellt es sich nun dar, wenn die Prävalenz noch niedriger ist? Z.B. für eine symptomlose Person ohne COVID-19 Kontakte, die einfach für sich „Gewissheit“ möchte? Da es keine Prävalenzdaten für SARS COV 2 Infektionen in Deutschland gibt, wird zur Annäherung an eine Prävalenzzahl in der Bevölkerung die vom RKI festgelegte Risikoschwelle von 50 Neuinfektionen/ 100.000 Einwohner/ Woche verwendet und zur hypothetischen Prävalenz erklärt. Dann ergibt sich das folgende Szenario (Abb. 1).
Die Aussagekraft eines einzelnen positiven Testergebnisses ist hier also verschwindend gering. Ohne Test beträgt die Wahrscheinlichkeit, infiziert zu sein 50/100.000 bzw. 0,05% und in Kenntnis des positiven Testergebnisses 0,7%. Dies ist sehr weit von der versprochenen Gewissheit entfernt. Rechnet man das Ganze unter Annahme der sehr viel günstigeren Sensitivitäts- und Spezifitätswerte von 98% und 99% aus den Laborversuchen, ändert sich nicht viel an der Aussage (Abb.2).
In Kenntnis des positiven Testergebnisses beträgt die Wahrscheinlichkeit, infiziert zu sein, nun 4,6% – auch dieses Ergebnis ist noch sehr weit von Gewissheit entfernt. Es würden allerdings nur etwa 1000 und nicht 5000 Menschen umsonst in Quarantäne geschickt.
Und noch eines wird aus diesem Szenario klar – selbst wenn keine infizierten Personen unter den 100.000 sind, wird es beim anlasslosen Testen auch unter optimierten Bedingungen immer noch etwa 1000 falsch positive Testergebnisse auf 100.000 Tests geben. Corona bleibt uns erhalten.
Vielleicht hätten einige Entscheidungsträger Tedros Adhanom Ghebreyesus weiter zuhören sollen – der Satz ging weiter „Test, test, test. Test every suspected case …..“
Literatur
[i] https://www.bbc.com/news/av/world-51916707/who-head-our-key-message-is-test-test-test (accessed 08.08.2020)
[ii] Täglicher Lagebericht des RKIzur Coronavirus-Krankheit-2019(COVID-19) 05.08.2020 – AKTUALISIERTER STAND FÜR DEUTSCHLAND (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Link_2020-08-05-de.html; accessed 08.08.2020)
[iii] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Teststrategie/Nat-Teststrat.html
[iv] https://www.stmgp.bayern.de/coronavirus/bayerische-teststrategie/
[v] AG LABORKAPAZITÄT BEIM RKI (7.7.2020) Bericht zur Optimierung der Laborkapazitäten zum direkten und indirekten Nachweis von SARS-CoV-2 im Rahmen der Steuerung von Maßnahmen (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Laborkapazitaeten.pdf?__blob=publicationFile)
[vi] Watson J, Whiting PF, Brush JE. Interpreting a covid-19 test result. BMJ. 2020;369:m1808. Published 2020 May 12. doi:10.1136/bmj.m1808
[vii] Schlenger RL: PCR-Test auf SARS-CoV-2 – Ergebnisse richtig interpretieren. Dtsch. Ärzteblatt 117(24): A1194-A1195
Quelle: Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V., Schumannstraße 9, 10117 Berlin, www.ebm-netzwerk.de
Weitere Artikel zum Thema
19.03.2018 Politik
So denken Ärzte über Gesundheitsminister Spahn
Im Gesundheitsministerium steht nun also Jens Spahn am Ruder. Ist der CDU-Politiker der richtige Mann für den Job? Hat er das Fachwissen und die richtigen Pläne? Der Ärztenachrichtendienst (änd) aus Hamburg fragte in der vergangenen Woche nach der Meinung der niedergelassenen Ärzte. Das Resultat: Zahlreiche Mediziner bescheinigen dem ehemaligen gesundheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktion das nötige Vorwissen - bleiben aber trotzdem skeptisch.
16.03.2018 Politik
Online-Fernbehandlung: Chancen der Digitalisierung
Der Bundesverband Medizintechnologie, BVMed, fordert die intelligente Nutzung neuer Technologien in der medizinischen Versorgung. Beispielsweise könnten durch die Lockerung des Fernbehandlungsverbotes, das in der Ärzteschaft aktuell diskutiert wird, die Chancen der Digitalisierung besser genutzt werden. Als einen Bereich nennt der BVMed die Wundversorgung mit Bildübertragungen von Wunden an den behandelnden Arzt und gemeinsamen Videosprechstunden mit Wundspezialisten.
12.03.2018 Politik
AWMF fordert Gesundheitspolitik auf Basis evidenzbasierter Medizin
Das Patientenwohl soll für die künftige Bundesregierung der entscheidende Maßstab aller gesundheitspolitischen Entscheidungen werden. Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) e. V. begrüßt diese Aussage im neuen Koalitionsvertrag, kritisiert jedoch, dass unerwähnt bleibt, auf welcher Basis gesundheitspolitische Entscheidungen künftig getroffen werden sollen. Die wissenschaftliche Medizin und die Notwendigkeit wissenschaftlich belegbarer Maßnahmen ist mit keinem Wort erwähnt. Patientenwohl kann nur dann erreicht werden, wenn sich künftige gesundheitspolitische Entscheidungen an wissenschaftlichen Fakten orientieren: Nur wenn nachweisbar ist, dass eine gesetzgeberische Maßnahme im Gesundheitswesen im Sinne der evidenzbasierten Medizin ausreichend, zweckmäßig und notwendig ist, dient sie auch dem Wohl von Patientinnen und Patienten. Um das zu gewährleisten, ist eine enge Zusammenarbeit mit der wissenschaftlichen Medizin – wie sie in der AWMF versammelt ist – unverzichtbar. „Wir müssen mehr und früher als bislang in gesundheitspolitische Entscheidungen einbezogen werden“, fordert AWMF-Präsident Professor Dr. med. Rolf Kreienberg. Zwar wird im Koalitionsvertrag betont, dass der Dialog auch mit der Wissenschaft intensiviert werden muss, die evidenzbasierte Medizin findet als Grundpfeiler einer wissenschaftlich begründeten Prävention, Diagnostik und Therapie in dem 177-Seiten starken Vertrag jedoch keinerlei Erwähnung. Das sieht die AWMF angesichts der zu lösenden Aufgaben äußerst kritisch. „Die alternde Gesellschaft, die Zunahme chronischer Erkrankungen, Antibiotika-Resistenzen, aber auch die Digitalisierung und der Nachwuchsmangel in vielen Teilen der Medizin stellen uns vor große gesamtgesellschaftliche Herausforderungen“, so Kreienberg. Diese seien nur zu bewältigen, wenn die künftige Bundesregierung bei gesundheitspolitischen Entscheidungen die Ebenen und Akteure einbinde, die die höchste Kompetenz und Expertise zu einem Thema mitbringen. In der AMWF mit ihren 177 wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften sind alle medizinischen Fächer, die meisten interdisziplinären Themenbereiche und neben Ärzten auch weitere Gesundheitsberufe vertreten. Von diesen wird Wissen gemäß der evidenzbasierten Medizin entwickelt, evaluiert und verbreitet. Daraus entstehen unter anderem Leitlinien, die heute die Basis des ärztlichen Handelns darstellen. Die AWMF garantiert daher mir ihren Aktivitäten und Akteuren eine Gesundheitsversorgung, bei der die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin auf alle Gesundheitsberufe und alle Versorgungsbereiche angewandt werden. Die AWMF begrüßt auch das Anliegen der Koalitionsparteien, die Gesundheitsforschung auszubauen. Damit haben diese eine zentrale Forderung der AWMF in ihrem künftigen Regierungsprogramm verankert. Doch auch hier komme es auf die Ausgestaltung an: Hochschulmedizin, Versorgungsforschung und Medizininformatik können nur im Sinne der Patienten gestärkt werden, wenn auch hier die Grundpfeiler der wissenschaftlichen Medizin zum Maßstab des Handelns werden. Dazu gehöre, dass wissenschaftliches Arbeiten innerhalb der Medizin in Ausbildung und Beruf einen höheren Stellenwert bekomme, wissenschaftliche Studien und Netzwerke gefördert, die individuellen Bedürfnisse der Patienten und das Erfahrungswissen der Experten regelmäßig abgefragt werde und in Aktivitäten einfließen. „Dafür ist die AWMF in Deutschland das Expertengremium, das sich im Interesse des Patientenwohls gerne in die künftige Regierungsarbeit einbringt“, betont Kreienberg.
09.03.2018 Politik
Gesucht: Digitale Ideen für die Zukunftspraxis
„Es gibt tausende von Apps und digitalen Anwendungen rund um das Thema Gesundheit. Doch der Nutzen für Patient und Arzt ist oft unklar. Daher ist es unser Ziel, diejenigen Anwendungen und digitalen Dienste zu identifizieren und zu fördern, die die Arbeit und Abläufe in den Praxen der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen verbessern“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Andreas Gassen, zum Start der KBV-Zukunftspraxis.
Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!
Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.