01.10.2019 Panorama
Als deutscher Chirurg in Dubai – eine ambivalente Betrachtung
Als mit Abstand dienstältester deutscher Chirurg in den Vereinigten Arabischen Emiraten habe ich nach 15 Jahren meine Tätigkeit in Dubai als Head Dept. of Surgery & Medical Director am Cedars Jebel Ali International Hospital beendet.
Was hat mich auf die arabische Halbinsel geführt? Zunächst die Einsicht, dass ich nach mehr als 20-jähriger Tätigkeit am Krankenhaus Stuttgart-Bad Cannstatt noch nicht reif für die erzwungene berufliche Untätigkeit war, zum anderen sicherlich eine gewisse Abenteuerlust, die mich bereits 1966 bis 68 während des Biafra-Krieges als Chirurg und Geburtshelfer nach Nigeria geführt hatte und 1980 während des kambodschanischen Bürgerkriegs in ein Feldlazarett des Internationalen Roten Kreuzes.
Nachdem ich 2003 einer Einladung an ein Hospital in Muscat, im Sultanat Oman, gefolgt war, das allerdings wenig chirurgische Entwicklungsmöglichkeiten bot, erhielt ich Anfang 2004 das Angebot, in Dubai an der Umwandlung und dem Ausbau der einzigen zur Jebel Ali Free Zone gehörigen Klinik (Clinic = nur ambulante Behandlung) zu einem Hospital mitzuwirken.
Hospital
Die Hospitallandschaft war 2004 in Dubai noch wenig entwickelt, so gab es in Jebel Ali, einem damals noch räumlich getrennten Vorort Dubais, überhaupt kein Hospital, das nächstgelegene war 30 km entfernt. Somit war die Idee einer Hospitalgründung dort überfällig. Die Jebel Ali Free Zone beherbergte damals bereits ca. 2.000 Firmen (heute fast 8.000), sie wurde 1985 am neu geschaffenen Jebel Ali Hafen gegründet um ausländische Investoren anzulocken. Unterdessen wurde dieses Modell dutzendfach in Dubai und in den übrigen Emiraten kopiert. In diesen Freihandelszonen dürfen die ausländischen Firmen 100 % des Kapitals besitzen, während außerhalb davon immer 51 % in der Hand von emiratischen Sponsoren liegen muss, die damit in letzter Konsequenz das Sagen haben!
Nach Auslagerung der Verwaltung konnten durch Um- und Anbauten 18 Betten, davon zwei Intensivbetten, zwei OPs und ein OP für kleinere Eingriffe geschaffen werden. Die große Ambulanz blieb weiter bestehen. Nach Akkreditierung durch die Dubai Health Authority konnten wir bereits im Herbst 2004 mit dem Hospitalbetrieb beginnen. Unsere Einzugsgebiete waren die Free Zone, der Hafen und die umliegenden Wohngebiete und Hotels. Auf Grund unseres Alleinstellungsmerkmals wurde das Hospital rasch stark frequentiert, sodass wir bereits 2008 ein jährliches Volumen von nahezu 1.000 Operationen in Allgemein- bzw. Peridural-/Spinal-Anästhesie und mehr als 3.000 kleinere Eingriffe und Wundversorgungen in Lokal- bzw. Leitungsanästhesie erreicht hatten. Die verfügbaren 18 Betten, die interdisziplinär (d. h. auch durch Innere Medizin und Pädiatrie) genutzt wurden, wurden bei einer durch die Versicherungen diktierten durchschnittlichen Liegezeit von nur 1,5 Tagen (z. B. Appendektomie = 1 Tag, Cholezystektomie = 2 Tage) unserem Bedarf gerecht.
Unser Vorhaben eines 100-Betten-Hospitalneubaus, der in Kooperation mit dem Klinikum Stuttgart und dem Universitätsklinikum Tübingen mit deutschen Ärzten im Rotationsverfahren betrieben werden sollte, fiel leider der Weltfinanzkrise zum Opfer, nachdem die involvierte kanadische Investorengruppe wegen finanzieller Probleme aussteigen musste. Der Plan, in der Jebel Ali Free Zone ein deutsches Medizintechnik-Zentrum mit zahlreichen Firmen unter einem Dach zu realisieren, der von den von uns ins Auge gefassten Firmen mit großem Interesse aufgenommen wurde, musste ebenfalls aufgegeben werden.
Ärzteteam
Unser Team bestand im Durchschnitt aus ca. 20 bis 25 ÄrztInnen der verschiedenen Fachrichtungen aus etwa 12 Nationen (Ägypten, Bulgarien, Deutschland, Indien, Irak, Iran, Jordanien, Libanon, Pakistan, Philippinen, Rumänien, Sudan), wobei die interkulturelle Zusammenarbeit absolut problemlos war.
Für die Chirurgie war ich zunächst allein zuständig, 2005 stieß dann ein libanesischer Kollege hinzu, der ebenfalls in Tübingen studiert und nach seiner Facharztausbildung mehr als zehn Jahre in Deutschland gearbeitet hatte. 15 Jahre lang hatte er dann während des libanesischen Bürgerkriegs Kriegschirurgie betrieben und war ebenfalls noch nicht reif für den Ruhestand. Unsere gemeinsamen chirurgischen Wurzeln und seine fachlichen und menschlichen Qualitäten waren die ideale Basis für unser erfolgreiches chirurgisches Arbeiten. 14 Jahre lang haben wir uns als Tandem die operative 24h/7 Tage-Präsenz geteilt!
Da private Hospitäler in Dubai keine Ausbildungsermächtigung hatten, waren wir ohne chirurgische Assistenten, sodass sämtliche operativen Eingriffe (mit Ausnahme der orthopädisch-traumatologischen) allein von uns beiden durchgeführt wurden, wobei wir nahezu ausschließlich nur mit OP-Schwestern/Pflegern operierten und uns nur bei schwierigen Eingriffen gegenseitig assistierten. Auch die postoperative Nachbehandlung lag allein in unseren Händen, mit dem Ergebnis, dass wir eine absolut lückenlose Kontrolle über den Behandlungsverlauf hatten.
Ermöglicht wurden das Spektrum und die Intensität unserer chirurgischen Arbeit durch unseren indischen Anästhesisten, einen wirklich einzigartigen Kollegen mit hoher fachlicher Kompetenz und unermüdlicher Schaffenskraft. Sein plötzlicher, früher Tod im Jahre 2012 machte uns seine Unersetzlichkeit bewusst. Er hinterließ eine Lücke, die nie mehr wirklich zu schließen war.
Pflegepersonal
90 Prozent unserer Schwestern und Pfleger stammten aus Indien, und zwar ausschließlich aus dem südindischen Bundesstaat Kerala, der mit sechs Mio. die größte christliche Population (nahezu 20 %) in Indien hat. Der Glaube wird sehr intensiv gelebt und die Erziehung zu christlicher Nächstenliebe wird von zehntausenden Ordensschwestern vorgelebt, die in Schulen und in der Krankenpflege tätig sind. Dies generiert ein großes Reservoir von hochmotivierten Schwestern und Pflegern. Mir wurde erst in Dubai bewusst, welche Bedeutung der christliche Glaube für den Pflegeberuf hat. Das Gleiche galt für die 10 % unserer philippinischen Pflegekräfte aus einem mehrheitlich katholischen Land.
Unsere Patienten
Eine Analyse unserer Patientenklientel spiegelt zum einen die Situation in unserem Haupteinzugsgebiet wider und zum anderen Dubais Multinationalität. Die Auflistung der Nationalitäten von über 5.000 zwischen 2004 und 2013 von uns operierten Patienten (Indien 36,2 %, Philippinen 10,4 %, Pakistan 9,4 %, Bangladesh 4,5 %, Ägypten 3,9 %, Nepal 3,6 %, Sri Lanka 3,1 %) zeigt, dass 70 % in die Kategorie der einfachen Arbeiter aus der Free Zone, dem Hafen und den umliegenden Baustellen gehörten. Insgesamt stammten unsere Patienten aus 102 Nationen, wobei Deutsche mit gerade einmal 2,1 % vertreten waren. Diese Patientenkonstellation macht deutlich, dass unser Hospital der Zufluchtsort für das Heer der Arbeiter aus dem 1.000 bis 2.000 Dirham (ca. 250 bis 500 Euro)-Niedriglohnsektor war, dem 50 % der Beschäftigten angehören, da wir im Gegensatz zu den meisten anderen Hospitälern keine „pekuniäre“ Patientenselektion betrieben. Über 90 % unserer operierten Patienten waren männlich, das Durchschnittsalter lag unter 30 Jahren.
Da in Dubai erst ab 2014 eine obligatorische Krankenversicherung eingeführt wurde, lag es zuvor im Ermessen des Arbeitgebers, ob er sich zur Kostenübernahme bereit erklärte oder, um Kosten zu sparen, darauf bestand, den Patienten – auch mit z. B. einer akuten Appendizitis – in sein Heimatland zu schicken! Wir waren in der glücklichen Lage, dass wir in diesem oft Menschen verachtenden Umfeld allein nach medizinischer Notwendigkeit und ohne Rücksicht auf den wirtschaftlichen Status des Patienten und ohne finanzielle Vorleistung die Therapieentscheidung treffen konnten. Dies machte unser Hospital zu etwas Besonderem und unsere Arbeit so ungemein befriedigend!
Operatives Spektrum
Dringliche Abdominalchirurgie, Proktologie, Hernien, entzündliche Weichteilprozesse und Traumatologie stellten die Schwerpunkte unserer chirurgischen Tätigkeit dar. Beim akuten Abdomen fand sich eine oft beträchtliche Diagnose- und Therapieverschleppung, bedingt durch die Lebens- und Arbeitsbedingungen unserer Patienten, die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes und die ethnisch bedingte oft höhere Schmerztoleranz. So wies das Appendizitis-Spektrum im Vergleich zu Deutschland einen deutlich höheren Anteil an fortgeschrittenen Entzündungsstadien auf [1, 2].
Aufgrund unserer begrenzten personellen und technischen Voraussetzungen und unserer persönlichen Präferenz praktizierten wir die Abdominalchirurgie im Regelfall offen, lediglich die Cholezystektomie erfolgte standardmäßig laparoskopisch.
Allgemeine Rahmenbedingungen
Größte fachliche Herausforderung und enorme psychische Belastung war unsere Letztverantwortlichkeit für die Behandlung, da praktisch keine Möglichkeit bestand, einen Patienten an ein anderes, fachlich besser und breiter ausgestattetes Hospital zu verlegen. Sobald ein Patient unsere Schwelle überschritten hatte, waren wir „letzte Instanz“, da kein anderes Hospital bereit war, einen Patienten in kritischem Zustand oder mit infauster Prognose zu übernehmen. Diese fehlende Kollegialität war in erster Linie durch die Furcht vor möglichen juristischen Konsequenzen im Falle eines fatalen Verlaufs bedingt. Und sollte sich tatsächlich ein Kollege zur Übernahme eines Patienten bereit erklären, dann kam in der Regel das Veto der Hospitaladministration („kein Bett verfügbar“). Diese Ablehnungsstrategie wurde auch von den staatlichen Hospitälern verfolgt und unsere gesamten Bemühungen, durch Einschaltung der Dubai Health Authority (DHA) als Regulierungsinstanz eine Änderung zu erzielen, verliefen frustran. Ein großes Problem stellte auch das Fehlen einer eigenen Blutbank dar (für Privathospitäler nicht zulässig), inbesondere bei Abdominaltraumen [3], da wir jeweils nur einige wenige Konserven vorhalten konnten und da die rasche Beschaffung bei unserer dezentralen Lage ein erhebliches logistisches Problem darstellte.
Arbeitsspezifisches persönliches Risiko
Das „Damoklesschwert“ einer Anklage wegen eines Behandlungsfehlers mit tödlichem Ausgang hängt unablässig über jedem in Dubai tätigen Chirurgen! Die unmittelbare Folge in einem solchen Fall: Vorladung bei der Polizei mit entwürdigender erkennungsdienstlicher Prozedur wie bei jedem Verbrecher und sofortiger Pass-Entzug! Die Konsequenz: Man kann das Land nur noch verlassen, wenn man den eigenen Pass im Austausch gegen die Hinterlegung des Passes einer anderen Person temporär zurückerhält.
Da es keine Gutachterkommission und keine ärztliche Schlichtungsstelle gibt, landet jeder Behandlungsfehlervorwurf direkt bei der Staatsanwaltschaft und bei begründetem Sachverhalt vor Gericht. Im Falle einer Verurteilung wegen eines Behandlungsfehlers mit Todesfolge sind 200.000 Dirham (ca. 50.000 Euro) Blutgeld fällig, außerdem sind der Verlust der ärztlichen Lizenz und Gefängnis möglich. Bei Verurteilung wegen eines schuldhaften Behandlungsfehlers (Malpractice) liegt ein sog. „criminal case“ vor, der die Krankenhaushaftpflichtversicherung von der Schadensregulierung befreit!
Welch absurde Anklagen zugelassen werden und welche Folgen dies für die behandelnden Ärzte haben kann, haben wir in der eigenen Klinik erlebt: Ein zehnjähriger Junge hatte sich bei einem Sturz vom Fahrrad an einem spitzen Hindernis eine tiefe Wunde in der Leiste mit Zerreißung der Femoroilikalgefäße zugezogen. Mit langer zeitlicher Verzögerung und Abweisung durch eine Unfallort-nahe Klinik brachte der Vater den Jungen schließlich im tiefen hämorrhagischen Schock in unser Hopital (Hb bei der Aufnahme 2.0 g %!). Es erfolgte manuelle Tamponade der bereits nicht mehr blutenden Wunde, sofortige Intubation und Beatmung und Transfusion der einzigen verfügbaren Blutkonserve über einen zentralen Venenkatheter; schließlich folgte der Tod durch irreversiblen Herzstillstand. Der Anklage wegen Behandlungsfehler durch den Vater (Hauptanklagepunkt: das Legen des zentralen Venenkatheters), um Blutgeld zu erhalten, wurde von der Staatsanwaltschaft stattgegeben. Die Folge für unseren involvierten Anästhesisten und meinen chirurgischen Kollegen: sechs Monate Passentzug bis die Staatsanwaltschaft schließlich nach einem von uns erstrittenen externen Gutachten aus Abu Dhabi die Anklage fallen ließ.
Dieses Beispiel mag exemplarisch verdeutlichen, dass Chirurgie in Dubai ggf. einem „Drahtseilakt ohne Netz“ gleicht! Vor allem das islamische Blutgeld, dessen Zahlung nicht auf Moslems beschränkt ist, weckt Begehrlichkeiten und Advokaten befeuern dies natürlich!
Anmerkungen zu Dubais Gesundheitswesen
Da das Gesundheitswesen Dubais und der übrigen Emirate völlig unreguliert und nicht am Bedarf orientiert ist, führen Hunderte kleiner Kliniken einen ruinösen Wettbewerb miteinander, das Gleiche gilt für die Hospitäler, die wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, da man lukrative Geschäfte gewittert hat – eben „Business à la Dubai“! Zunehmend hat sich der Fokus natürlich auf die lukrative Lifestyle-Chirurgie (> 70 % der 40- bis 65-jährigen Frauen lassen sich Botox injizieren) und, bei einer extrem hohen Übergewichtigkeitsrate von 67,8 % bei Erwachsenen und 35,8 % bei Kindern (Stand 2018) bzw. 50 % der 18-jährigen und 72 % der 18-29-jährigen Emiratis (Stand 2019), auf die bariatrische Chirurgie verlagert, für die sogar mit großflächigen Plakaten („Book for your Tummy tuck“) entlang der Stadtautobahn geworben wird. Auf Grund des ruinösen Wettbewerbs sind viele Kliniken und Hospitäler in finanzielle Schieflage geraten.
Verschärfend kommt hinzu, dass die ebenfalls in einem harten Wettbewerb miteinander stehenden Krankenversicherungen in den letzten Jahren die Kostenerstattung in bis zu 20 % (wenn nicht sogar in 30 %) der Fälle mit nicht nachvollziehbaren Begründungen verweigern. Nicht nachvollziehbar deshalb, weil vor jeder einzelnen diagnostischen oder therapeutischen Leistung erst die Genehmigung der Versicherung eingeholt werden muss, auch in Notfällen! Von der Dubai Health Authority als eigentlich übergeordneter Behörde kommt im Kampf mit den Versicherungen keinerlei Unterstützung, wie wir aus eigener leidvoller Erfahrung wissen. Damit können die Versicherungen (in der Regel kontrolliert von Emiratis) mit den Leistungserbringern nach Belieben umspringen, darauf vertrauend, dass der gerichtliche Klageweg nicht beschritten wird, da er Jahre dauert! Dieser unhaltbare Zustand wurde jetzt sogar – für Dubai absolut ungewöhnlich, da ja auch das Government betroffen ist – erstmals in der Presse zur Sprache gebracht! Der Wildwuchs im Medizinsektor und die zunehmende Strangulierung durch die Versicherungen haben zur Folge, dass unrentable Kliniken und Hospitäler reihenweise von einigen großen, meist indischen Krankenhauskonzernen geschluckt werden, die natürlich besser in der Lage sind, ihre Marktmacht gegenüber den Versicherungen auszuspielen. Pikant ist dabei, dass eine der größten Krankenversicherungen zu einem der großen Krankenhauskonzerne zu gehören scheint, ein rechtlich sicherlich höchst fragwürdiges Konstrukt!
Das jetzt von der Regierung ausgerufene Ziel, Dubai zu einem Global Player im Gesundheitstourismus zu machen, vergleichbar etwa mit Deutschland, Bangkok, Singapur oder der Türkei, halte ich für eine Utopie, da es in Dubai keine eigenständige Medizin aus einer Hand gibt, weil sämtliche Akteure – Ärzte und Pflegepersonal (auch in den Government-Hospitälern sind weniger als 5 % der Pflegekräfte Einheimische) – aus vielen Nationen zusammengewürfelt sind und da das Preisniveau nicht konkurrenzfähig ist. Der Dubai-Tourismusboom lässt sich eben nicht so einfach in die Kliniken umleiten! Attraktiv könnte der Standort lediglich für Patienten aus dem näheren arabischen Raum und aus Afrika sein.
Obgleich das chirurgische Spektrum in den United Arab Emirates (UAE) unterdessen einen hohen Standard erreicht hat – in der Cleveland Clinic in Abu Dhabi werden mittlerweile Lebern, Herzen und Lungen transplantiert – fahren Emiratis, die es sich leisten können, weiterhin ins Ausland, denn die Behandlung in Deutschland genießt nach wie vor eine hohe Akzeptanz.
Schlussbetrachtung
So hoch der Stellenwert ist, den die deutsche Chirurgie in Dubai hat, so wenig hilft dies in der Regel dem hier tätigen deutschen Chirurgen, seine Vorstellungen zu verwirklichen. Zu mächtig ist die zahlenmäßige Dominanz und damit der Einfluss der indischen und arabischen Kollegen an den Kliniken mit meist indischen oder arabischen Eignern, sodass es für die Deutschen meist bei einem kurzen, oft frustrierenden Abstecher bleibt.
Vorbei sind Gott sei Dank die absurden unseligen Zeiten, als deutsche Chirurgen für ein paar Tage zu Operationen anreisten und über Annoncen in der Lokalpresse um Buchung baten! Unser monatlicher deutscher Ärztestammtisch war ideale Nachrichtenbörse und Barometer für die Veränderungen, die im Laufe der Jahre hinsichtlich der abnehmenden Präsenz deutscher Ärzte in Dubai eintraten. Bereits 2012 hatte ich die allgemeinen Rahmenbedingungen für deutsche Chirurgen in Dubai („cum grano salis“ gilt dies auch für die übrigen Emirate) für Passion Chirurgie analysiert [4] und dabei festgestellt, dass nur einige wenige für längere Zeit hier tätig sind (im Durchschnitt ein bis zwei Jahre), da sich die überzogenen Vorstellungen vom „goldenen Wunderland“ nicht bewahrheiteten und häufig die Integration in ein multinationales/kulturelles Team misslang.
Mein damaliges Fazit gilt auf Grund der inzwischen eingetretenen Veränderungen heute umso mehr: Für deutsche Chirurgen im berufsfähigen Alter, die in Deutschland etabliert sind, bieten die Emirate keine verlässliche Langzeitperspektive. Eine zeitlich befristete Tätigkeit, mit der Intention einen neuen Kulturkreis kennenzulernen, kann eine akzeptable Option sein. Für Chirurgen im Ruhestand bieten die Emirate die attraktive Möglichkeit, ihren Erfahrungsschatz auch unter schwierigen Bedingungen effektiv einzubringen und daraus Befriedigung zu ziehen – unter der Voraussetzung, dass die interkulturelle Zusammenarbeit funktioniert!
Mein eigener Langzeitaufenthalt ergab sich aus ungewöhnlich glücklichen Umständen abseits der geschilderten Dubai-Realität! Ich hatte freie Hand, unser Hospital und die Chirurgie nach meinen Vorstellungen aufzubauen, ein Team zu formen und eine ganz spezifische Arbeitsatmosphäre zu schaffen, basierend auf Vertrauen und gegenseitiger Achtung, und zwar unter Einbeziehung sämtlicher Mitarbeiter. Dies schuf einen ganz spezifischen Teamgeist und gab allen das Gefühl, zu einer großen Familie zu gehören. Es fiel mir sehr schwer, diesen mir ans Herz gewachsenen Kreis nach 15 Jahren zu verlassen!
Abseits der Medizin hat mir mein Ausflug an den Arabischen/Persischen Golf tiefe Einblicke in einen mir bislang nicht bekannten Kulturkreis vermittelt. Dubai an der Nahtstelle zum indischen Subkontinent, kosmopolitischer Nabel der arabischen Halbinsel und Drehkreuz der Region war das ideale Schaufenster, um die Mentalitäten der unterschiedlichsten Nationen kennenzulernen und die Interaktion mit unseren Mitarbeitern und Patienten war eine tägliche multikulturelle Lehrstunde.
Politisch gesehen fielen meine 15 dortigen Jahre in eine Phase fundamentaler Veränderungen in der arabischen Welt, ausgelöst durch den sogenannten „Arabischen Frühling“ und in Dubai hatte ich als Beobachter quasi einen Logenplatz. Um einen nachhaltigeren Einblick in die Geschehnisse zu gewinnen, habe ich, sozusagen als Hobby, 15 Jahre lang Tag für Tag die lokale Presse ausgewertet und kommentiert. Das daraus entstandene Konvolut von fast 2.200 Seiten hat viele interessierte Leser zuhause gefunden. Bei Interesse stelle ich dieses Zeitdokument gerne zur Verfügung.
Meine Familie hat meine Ruhestands-Auszeit nicht nur ertragen, sondern bei vielen Besuchen auch genossen, bot meine Verankerung dort doch die einzigartige Gelegenheit, eine fremde Welt kennenzulernen und dabei auch hinter die Kulissen zu blicken. Dies auch in Bezug auf die Medizin, da zwei unserer Kinder einen Teil ihrer Famulaturen an unserer Klinik absolvierten, wie diese Möglichkeit von mehreren anderen deutschen Studenten (Famulatur und PJ) wahrgenommen wurde.
Meine Freizeit verbrachte ich abseits der Künstlichkeit und Hektik Dubais in der Wüste und den Bergen im Hinterland, vor allem aber in der Einsamkeit und Ursprünglichkeit des Sultanats Oman, einem Offroad-Paradies schlechthin! Dessen Berge, Wadis und Wüsten habe ich mir auf mehr als 50 Reisen kreuz und quer erschlossen – wenn ohne Familie – allein mit Zelt unterwegs.
Mein Resumee nach 15 Jahren des „aktiven Ruhestands“: Mir hätte nichts Besseres passieren können! Es war eine fachlich hochinteressante, ungemein befriedigende Schaffensperiode und das Gefühl, als „altes Eisen“ noch gebraucht zu werden oder gar „unersetzlich“ zu sein, ließ das Älterwerden vergessen, da ich gar keine Zeit hatte, darüber nachzudenken!
Deshalb mein Rat an alle chirurgischen „Silberrücken“, die sich mental und physisch noch gesund fühlen: Ziehen Sie sich nicht in die fachliche Untätigkeit zurück, sondern suchen Sie sich eine interessante Herausforderung, um Ihren beruflichen Wissensschatz irgendwo auf der Welt einzubringen, wo er gebraucht wird und Früchte tragen kann!
Literatur
[1] G. Kieninger, A. Hassan, Ch. Kieninger: Appendizitis-Spektrum in Dubai. Analyse von 1266 Appendektomien. Passion Chirurgie, 2014, Oktober, 4(10), Artikel 09_02
[2] G. Kieninger, P. Shah, A. Hassan, Ch. Kieninger: Gangraenoese Appendizitis? Chirurg 85,711-713 (2014)
[3] G. Kieninger, A. Hassan, I. Ognyan, K.S.P. Rao+: Perforierendes Abdominaltrauma mit Cava- und Nierenvenenruptur. CHAZ 15, 620-622 (2014)
[4] G. Kieninger: Deutsche Chirurgen im Ausland. Fachexkursion des BDC nach Dubai. Passion Chirurgie,2/2013
Kieninger G: Als deutscher Chirurg in Dubai – eine ambivalente Betrachtung. Passion Chirurgie. 2019 Oktober, 9(10): Artikel 09.
Autor des Artikels
Prof. Dr. Günther Kieninger
ehem. Cedars Jebel Ali International HospitalP.O.Box 17666Dubai (United Arab Emirates) kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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