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In der Mythologie unterschiedlicher Kulturen kreisen sehr ähnliche Sagen mit den unterschiedlichsten Interpretationen: Sisyphos und sein Stein werden in der abendländischen Kultur als Strafe interpretiert – nämlich eine Strafe für das frevelhafte Vergehen gegen ein gottgegebenes System. Hingegen wird in der indischen Mythologie eine ähnliche Geschichte anders erzählt: Von einem Mann (The mad man of Naranam) der einfach nur aus Spaß an der Freud einen Stein jeden Tag einen Berg hinaufträgt und diesen dann unter schallendem Gelächter wieder hinabrollen lässt.

In einem ähnlichen Interpretationszwiespalt sehe ich den täglichen Kampf um vernünftige Arbeitszeitgestaltung in der Chirurgie. Die Fähigkeiten und Talente eines Chirurgen sollten zu keiner Zeit ein zermürbender Fluch sein und um den Kreis zur Mythologie zu schließen: Jeder trägt seinen Stein jeden Tag und es liegt an uns zu entscheiden, ob wir am Ende lachend unser Tagwerk betrachten können. Als Frau wie auch als Mann, im Familienverbund oder auch als Einzelner.

Station 1: „Die Stelle, die Sie wollen, muss ich erst erfinden“

Meine erste Stelle in einer kinderchirurgischen Praxis durfte ich nach der Geburt meiner zweiten Tochter antreten, als sie ein Jahr alt war. Ich habe mich unendlich gefreut, dass sich nach vielen Bewerbungen jemand gefunden hat, der einen Berufsneuling mit reduzierter Stundenzahl anstellen möchte. In dieser Praxis konnte ich an den Vormittagen bei den OPs assistieren und gelegentlich auch die Nachmittagssprechstunden mitmachen. Die vereinbarten 20 Stunden waren so ein frei interpretierbarer Richtwert. Davon abgesehen musste die Praxis natürlich auch besetzt werden wenn der Chef im Urlaub war. Kurz gesagt: Meine anfängliche Euphorie ließ nach und ich versuchte meine Ausbildung in einem Krankenhaus fortzusetzen. Nachdem der Raum München jedoch ein recht beliebtes Pflaster ist und die Kliniken auf genügend Ressourcen zurückgreifen können, musste ich meine Suche auf das Umland ausdehnen. Bei dieser Suche wurde ich indes immer wieder mit ähnlichen Fragen konfrontiert: „Können Sie denn überhaupt pünktlich kommen wenn Sie zwei Kinder haben“, „Wie machen Sie denn das mit den Kindern, wenn die krank sind“…und fand es immer ein wenig skurril, dass meinen männlichen Mitbewerbern diese Fragen nicht gestellt wurden.

Station 2: „Ein Stein schleift den anderen“

Weiter im Outback wurde ich dann relativ rasch in einem kommunalen Krankenhaus fündig. Den Arbeitsweg von 60 km pro Strecke nahm ich gern in Kauf um Fuß in einer Klinik zu fassen. Mein Arbeitsvertrag sah eine Teilzeit von 50 Prozent vor, geplant an drei Tagen pro Woche. Das war in Ordnung, solange ich keine Nachtdienste gemacht habe – also genau für drei Wochen. Durch die Eingliederung ins Dienstsystem mit jeweils 24 Stunden Bereitschaftsdienst sind meine Überstunden unheimlich rasch in die Höhe geschnellt, sodass ich eigentlich nur noch zu den Bereitschaftsdiensten und maximal für einen normalen Arbeitstag ins Krankenhaus kam. Hierbei hat mich auch nicht wirklich erstaunt, dass die Einarbeitungszeit, das Ankommen in der Klinik und bei den Kollegen damit auch wirklich ungleich länger gedauert hat, denn die alltägliche Routine kannte ich nicht wirklich. Damit lernt man auch die persönlichen Gepflogenheiten der jeweiligen Kollegen kaum kennen und eckt in der Folge an einigen Stellen an… Die Anordnung: „Prozedere: Nach Standard” hat mir damals allenfalls ein unwissendes Schulterzucken hervorgelockt. Die Situation wurde immer unbefriedigender, weil die Anzahl der Überstunden immer höher wurde, ohne das eine adäquate fachliche Weiterbildung erfolgte. Es war kaum möglich, mich überhaupt für OPs einzuplanen, weil ich ja zu den Regeldienstzeiten nicht immer einsetzbar war. Nach circa einem Jahr habe ich dann meinem Chef vorgeschlagen, meine Stelle auf 75 Prozent zu erhöhen, denn ich dachte, mehr Zeit bringt mehr OPs – und mehr Anerkennung im Team. Ein Trugschluss.

Gerade auch die von mir gewählte Variante mit geplanten zwei freien Tagen wochentags – in meinem Fall Montag und Dienstag – fanden meine Kollegen großartig. Es herrschte die allgemeine Meinung, dass jemand, der wochentags frei hat, eigentlich hervorragend an jedem Wochenende arbeiten kann. Für meine Familie war das jedoch eine einzige Katastrophe. Das Schlimme ist nur: Zu Beginn merkt man nicht, wie sehr man strudelt – und ehe man sich versieht, lebt man an Mann und Kindern in der Pflichterfüllung vorbei.

Station 3: „In Teilzeit kann ich Sie nicht brauchen“

Als ich das Krankenhaus verließ, wurden mir 300 Überstunden ausbezahlt, auch wenn ich den in meinen Augen geringen Netto-Stundenlohn ein wenig fragwürdig fand, habe ich darüber nicht mehr lange nachgedacht. Nun wechselte ich in ein deutlich größeres kommunales Haus mit doppelt so vielen Betten, doppelt so vielen Operationen – und das Ganze in Vollzeit.

Im Bewerbungsgespräch auf diese Stelle hatte ich zwar damals kurz anklingen lassen, dass ich mir auch eine Teilzeitanstellung vorstellen könnte. Die Reaktion war eindeutig: „In Teilzeit kann ich Sie nicht brauchen”. Dieser Herausforderung habe ich mich in der Hoffnung gestellt, dass eine gut strukturierte Vollzeitstelle leichter zur organisieren ist als ein unplanbares Teilzeit Konvolut. Innerhalb eines Jahres erkannte ich jedoch, dass diese Aufgabe für mich zu diesem Zeitpunkt nicht zu bewältigen war. Es stellte sich zunehmend das Gefühl von Kontrollverlust ein, ein ständiges Hinterherhecheln, das keinerlei Flexibilität mehr zulässt und das Umfeld funktionieren muss, weil sonst das fragile Gesamtkonstrukt zusammenbricht.

Für mich musste sich etwas verändern und ich trug einen für die Abteilung neuartigen Vorschlag an meinen Chef heran. Mein Konzept berücksichtigte die persönlichen Prioritäten meines Chefs und eventuell bisher gemachte Fehler von anderen Müttern, die deshalb ihre Teilzeit nicht bekommen und schließlich gekündigt haben. Der Beginn der Arbeitszeit, flexible Einsetzbarkeit und die Anzahl der Nachtdienste sind entscheidende Faktoren, damit das tägliche Geschäft funktioniert. Tatsächlich wurde ich nun für 80 Prozent Teilzeit eingeteilt, aber dieser Umstand machte es auch erforderlich, immer einzuspringen, wenn jemand krank war oder gar langfristig ausfiel. Sicherlich hatte dies auch Gutes wie etwa auf das Jahr gerechnet circa zehn Wochen extra frei zu haben – Überstundenabbau!! Aber auch dies ist nicht nur positiv zu sehen, denn die Kontinuität in der Weiterbildung fehlte.

Ein weiteres Problem ist nämlich auch die Erfüllung der Vorgaben der Weiterbildung. Ist man bei einem offiziellen Dienstende von 14.30 Uhr für eine geplante OP, z. B. für eine Cholecystektomie, die um 15.40 Uhr beginnen soll, eingeteilt und einem fehlen für den Katalog der Weiterbildung noch zehn Cholecystektomien, wird keiner ein Wort über die verlängerte Arbeitszeit verlieren. Denn in der Weiterbildung sind OPs ein gerne verwendetes Disziplinierungsmittel und sowohl als Belohnung wie auch als Sanktion beliebig einsetzbar.

Station 4: “Don’t take a No for an answer”

Die derzeit noch häufig angewandten Arbeitszeitstrukturen erachte ich als veraltet und gefördert durch das eigene Weltbild vieler Chirurgen. Der Grund ist nachvollziehbar: Wir machen das was wir tun gern und gut. Wir wollen auch gar nicht, dass es jemand anderes macht… wir wollen die Dinge selber angreifen und selber zu Ende bringen… Denn dies ist wichtig für das persönliche Erfolgserlebnis. Gerade wenn man 21 Tage lang durchgehend jeden Tag im Krankenhaus ist, kennt man jeden Patienten, hat den Überblick – und da ist es manchmal schwer sich selbst zu disziplinieren und zu gehen. Loszulassen.

Und genau hier liegt zum Teil das Problem der Nachwuchs-Chirurgen: Viele junge Talente werden durch das System vergrault, weil es an flexiblen Möglichkeiten zur Lebensgestaltung fehlt und damit letztlich auch an Lebensqualität mangelt. Auch wenn sich deutschlandweit unter den 20.000 Chirurgen nur 4.000 Frauen finden: Ich persönlich sehe dies wahrlich nicht als frauenspezifisches, sondern als ein Nachwuchsproblem.

Insgesamt ist für mich die Arbeitsbelastung in den kommunalen Krankenhäusern ein Thema über das man kritisch nachdenken könnte. Monate mit drei oder maximal vier freien Tagen sind die Regel. Natürlich hört man dann auch Argumente wie „Früher haben wir noch viel mehr Dienste gemacht und wer vor 21.00 Uhr nach Hause gegangen ist, war ein Looser!“ Wobei die Zeiten bezüglich Effizienz und Schlagzahl auch andere waren – und zudem ein Wandel innerhalb der gesellschaftlichen, politischen und sozialen Wertigkeiten stattfindet, der sich schon häufig in der Meinung der nächsten Generation der Oberärzte widerspiegelt. Fast alle jungen Väter in unserem Haus haben z. B. Elternzeit genommen. Trotzdem sagte ein junger Oberarzt neulich zu mir: „Ich weiß nicht wie das gehen soll, ich bin kinderbetreuungstechnisch ein Totalausfall“. Eine Selbstkritik, die vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Ich bin daher der festen Überzeugung, dass sich auf diesem Sektor etwas bewegen muss und wird. Wenn es möglich wäre, mit aller gestalterischen Freiheit und viel Fantasie von den zuständigen Führungspersonen an einer Neuausrichtung von Arbeitszeitmodellen zu arbeiten, läge letztlich nur an uns, wie wir unsere eigenen Steine den Berg hinauf- oder hinunter rollen und ob wir am Ende des Tages oben am Hang stehen und lachen.

Groß S. A rolling Stone gathers no Moss. Passion Chirurgie. 2015 März, 5(03): Artikel 02_04.

Autor des Artikels

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Dr. med. Sandra Groß

Kreisklinik EbersbergAllgemein-, Viszeral- und GefäßchirurgiePfarrer-Guggetzer-Str. 385560Ebersberg kontaktieren

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